55

Aus einem unerfindlichen Grund war Richard nicht minder angespannt als seine Bogensehne. Deutlich spürte er, daß etwas nicht stimmte, ohne jedoch zu wissen, was. Man hätte glauben können, dies sei eine idyllische Mondscheinnacht im Wald, doch Richards Verhalten, gepaart mit der bedrückenden Stille, bewirkte, daß über allem ein Gefühl dunkler Vorahnung lag.

Dank des Gegenmittels aus Northwick hatte sich Richards Zustand leicht gebessert; eine Weile hatte sich die Ausbreitung seiner Vergiftungssymptome verzögert, mittlerweile jedoch klang die vorübergehende Besserung bereits wieder ab. Kahlan war so in Sorge um ihn, daß es ihr den Appetit verschlagen hatte.

Mittlerweile begleitete sie mehr als die doppelte Anzahl Männer; zudem näherte sich eine noch weit größere Zahl auf anderen Wegen der Stadt Hawton. Diese anderen Gruppen beabsichtigten, die kleineren, in den Dörfern entlang der Strecke stationierten Einheiten der Soldaten der Imperialen Ordnung auszuschalten, während Richard, Kahlan und ihr Trupp so schnell wie möglich Richtung Hawton vorstoßen und dabei ganz bewußt jede Feindberührung vermeiden wollten, um dort zu sein, ehe Nicholas und seine Soldaten überhaupt Wind davon bekamen, daß sie unterwegs waren. Solange sie unbemerkt blieben, war ihre Chance, die letzte Dosis des Gegenmittels in die Hände zu bekommen, am größten.

Sobald sie dies geschafft hatten, konnten sie sich mit den übrigen Trupps zum entscheidenden Schlag zusammenschließen. Wenn es ihnen gelang, zunächst Nicholas auszuschalten, würde dies, dessen war Kahlan sicher, einen Sieg über die restlichen Truppen der Imperialen Ordnung erheblich erleichtern und weniger riskant machen. Falls sie eine Möglichkeit fand, in seine Nähe zu gelangen, würde sie ihn, so ihr Plan, mit ihrer Kraft berühren. Sie war allerdings klug genug gewesen, dies Richard zu verschweigen, da er niemals zugestimmt hätte.

Völlig unerwartet stieß sie gegen Richards ausgestreckten Arm. Sie faßte sich erschrocken an die Brust, auf ihr wild pochendes Herz, drehte sich dann herum und gab das Zeichen zum Stehenbleiben an die hinter ihr Gehenden weiter. Nach wie vor herrschte im Wald völlige Stille – nicht einmal das Summen einer Mücke war zu hören.

Richard ließ seinen Rucksack vom Rücken gleiten, stellte ihn auf einen niedrigen Felsen und begann darin herumzusuchen.

Kahlan beugte sich zu ihm herunter und fragte mit leiser Stimme: »Was hast du vor?«

»Feuer machen. Wir brauchen Licht. Gib nach hinten durch, ein paar Männer sollen ihre Fackeln hervorholen.«

Während Richard sein Feuerzeug herausnahm, gab Kahlan Cara leise Anweisungen, die diese wiederum nach hinten weitergab. Augenblicke später näherten sich, Fackeln in den Händen, mehrere Männer auf Zehenspitzen.

Er nahm einen Zweig vom Boden auf und tauchte ihn kurz in ein Gefäß aus seinem Rucksack, anschließend wischte er den Zweig an einer vorspringenden Stelle des Felsens ab.

»Ich habe auf den Felsen hier etwas Harz aufgetragen«, erklärte er den Männern, die sich um ihn versammelt hatten, leise. »Haltet eure Fackeln darüber, damit sie sofort Feuer fangen, wenn ich einen Funken schlage und das Harz sich entzündet.«

Föhrenharz, sorgfältig von fauligen Bäumen gesammelt, war beim Feuermachen im Regen überaus nützlich, da es sich selbst im nassen Zustand leicht mit einem Funken entzünden ließ. Dabei entwickelte es oftmals eine solche Hitze, daß selbst feuchtes Holz rasch Feuer fing.

Im Dunkeln war Richard schon immer in seinem Element gewesen. Nie hatte Kahlan beobachtet, daß er in einer solchen Situation Licht benötigt hätte. Angestrengt starrte sie hinaus in die Nacht und fragte sich, was dort draußen, unsichtbar für sie alle, wohl lauern mochte.

»Cara«, flüsterte Richard, »gebt nach hinten durch, daß alle ihre Waffen ziehen sollen. Sofort.«

Ohne Zögern drehte Cara sich herum, um den Befehl weiterzugeben. Nach einer scheinbar endlosen Zeit völliger Stille, unterbrochen nur vom leisen Scharren von Stahl auf Leder erfolgte die Bestätigung. Sie beugte sich vor zu Richard. »Erledigt.«

Richard sah hoch zu Kahlan und Jennsen. »Ihr beide auch.«

Kahlan zog ihr Schwert, Jennsen ihren Dolch mit dem verzierten R auf dem Silbergriff.

Richard schlug einen Funken. Das Föhrenharz entzündete sich mit einem wütenden Fauchen; alle Fackeln fingen Feuer, und plötzlich wurde es inmitten des tiefdunklen Waldes hell.

Die unvermittelt grelle Helligkeit bewog alle, sich im Kreis zu drehen und um sich zu blicken, um zu sehen, was sich in der Dunkelheit ringsumher verbarg.

Ein entsetztes Aufstöhnen. Überall in den Bäumen ringsum hockten schwarz gezeichnete Riesenkrähen, die die Eindringlinge stumm beobachteten.

In diesem ersten Augenblick unvermittelt aufleuchtender Helligkeit verharrte alles bis auf die flackernden Flammen vollkommen regungslos. Dann stürzten sich die Riesenkrähen plötzlich mit einem wilden Aufschrei auf sie.

Von allen Seiten gleichzeitig fielen die großen Vögel über sie her. Schlagartig war die Nachtluft erfüllt von einem Gewirr aus schwarz glänzenden Federn, wild umsichschlagenden Riesenflügeln, gekrümmten Schnäbeln und reißenden Krallen. Nach der langen Stille war der Lärm der durchdringenden Schreie und schlagenden Flügel ohrenbetäubend laut.

Die Menschen wehrten die Attacke an allen Fronten wild entschlossen ab. Einige Männer wurden zu Boden gestoßen oder gerieten ins Stolpern und stürzten hin, andere versuchten sich unter wüstem Fluchen mit einem Arm zu schützen, während sie gleichzeitig mit dem anderen den Angriff zurückschlugen. Hockte eine Riesenkrähe auf einem ihrer Kameraden, wurde sie augenblicklich in Stücke gehackt.

Überall stach, säbelte und hackte jeder auf die wild anstürmenden Raubvögel ein, nicht wenige benutzten ihre Fackeln als Waffe. Die Nacht war erfüllt vom Kreischen der Vögel, vom Flattern schlagender Flügel vom satten Geräusch der mit tödlicher Wirkung zuschlagenden Waffen. Mit jedem Treffer gerieten Vögel ins Trudeln und stürzten ab, doch schon folgten weitere, die ihren Platz einnahmen. Sie schienen aus den umstehenden Bäumen geradezu auf sie herniederzuprasseln. Verwundete und sterbende, sich in den letzten Zuckungen windende Tiere verwandelten den Waldboden in ein wimmelndes Meer aus schwarzen Federn. Die Heftigkeit dieser Attacke war furchteinflößend.

Und dann war es mit einem Schlag vorbei, war auch das letzte dieser Tiere endgültig verstummt. Aus dem Himmel folgten keine Riesenkrähen mehr nach.

Ein Haufen toter Vögel umgab Richard wie von einem Sturm herangewehter Schnee.

Völlig außer Atem reckten die Männer ihre Fackeln in die Höhe, spähten in das Dunkel jenseits ihres Lichtscheins und hielten Ausschau, ob von oben weiterer Ärger zu erwarten war; doch bis auf das leise Zischen der Fackeln blieb die Nacht totenstill. Die Äste der Bäume ringsumher schienen verlassen.

Kahlan sah, daß Richards Arme mit Kratzern und Schnittwunden übersät waren, und watete durch das Meer aus toten Vögeln zu seinem auf dem Felsen stehenden Rucksack. Der Waldboden ringsum war beinahe knietief mit toten Riesenkrähen bedeckt, und sie mußte erst ein totes Tier von seinem Rucksack stoßen, ehe sie mit der Hand hineinlangen und blind darin suchen konnte, bis ihre Finger gegen das gefaltete Wachspapier mit der Heilsalbe darin stießen.

Als sie sah, daß Richard sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, kam Cara sofort herbeigestürzt und faßte seinen Arm, um ihn zu stützen.

»Was in aller Welt hatte das zu bedeuten?«, fragte Jennsen; sie rang immer noch nach Atem, während sie sich ein paar rote Locken aus ihrem verschwitzten Gesicht strich. »Vermutlich haben sie sich endlich dazu durchgerungen, uns fertig zu machen«, sagte Owen. »Eins steht jedenfalls fest: Sie haben uns ganz offensichtlich wiedergefunden.«

»Aber diesmal gab es einen entscheidenden Unterschied«, keuchte Richard. »Sie sind uns nicht gefolgt, sondern waren bereits hier und haben auf uns gewartet.«

Alle starrten ihn an.

Kahlan unterbrach ihre Tätigkeit, seine Wunden mit Salbe zu bestreichen. »Was willst du damit sagen? Sie sind uns doch zuvor stets gefolgt. Sie müssen uns irgendwie gesehen haben.«

Als Richard sich mit einer Hand auf Caras Schulter abstützen mußte, bemerkte Kahlan, wie unsicher er auf den Beinen stand; manchmal schien er sich kaum aufrecht halten zu können. »Nein. Sie sind uns nicht gefolgt. Am Himmel war nichts von ihnen zu sehen.« Er deutete auf die toten Vögel ringsumher zu seinen Füßen. »Diese Riesenkrähen wußten, daß wir hierher kommen würden. Sie haben uns erwartet und uns aufgelauert.«

Die Vorstellung war erschreckend – wenn sie denn stimmte.

Kahlan richtete sich auf, das Wachspapier in der einen Hand, ein Finger ihrer anderen voller Salbe. »Woher sollten sie gewußt haben, in welche Richtung wir uns wenden würden?«

»Das würde mich auch interessieren«, sagte Richard. Nicholas, den Mund geöffnet zu einem Gähnen, das keines war, schlüpfte in seinen Körper zurück. Er reckte seinen Hals erst zur einen, dann zur anderen Seite, lächelte; das Spiel bereitete ihm einen Heidenspaß. Köstlich war es gewesen, geradezu erregend. Sein Grinsen wurde breiter, bis seine Zahne sichtbar wurden.

Schwerfällig erhob sich Nicholas und blieb einen Moment unsicher schwankend stehen. Er fühlte sich an diesen Richard Rahl erinnert, der sich, benommen von der Wirkung eines Gifts, das mit tödlicher Unerbittlichkeit sein Werk verrichtete, ebenfalls kaum hatte auf den Beinen halten können. Der arme Kerl benötigte ganz offensichtlich die letzte Dosis des Gegenmittels.

Nicholas, ungeduldig, erneut loszuziehen und weitere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, öffnete erneut den Mund zu einem Gähnen, das keines war. Nun, er würde noch früh genug wieder zurückkehren und sie beobachten; sie beobachten, wie sie sich vor Sorge den Kopf zerbrachen, wie sie vergeblich zu begreifen versuchten, was ihnen widerfuhr, und sie allmählich immer näher kamen. Nur wenige Stunden noch, dann würden sie bei ihm sein.

Und dann würde der Spaß erst richtig beginnen.

Nicholas bahnte sich zwischen den unzähligen Leichen hindurch einen gewundenen Pfad durch den Raum. Sie waren alle ganz plötzlich krepiert, als die Riesenkrähen getötet wurden.

Welch ein grausamer Tod. Die Seelen waren entsetzt gewesen, als sie einfach hingemetzelt wurden, hatten aber nicht das Geringste tun können, um es zu verhindern. Ihre Seelen hatte er beherrscht, hatte ihr Schicksal in der Hand gehabt. Nun waren sie seiner Kontrolle entzogen; jetzt gehörten sie dem Hüter des Totenreiches.

Nicholas fuhr sich mit den Fingernägeln durch sein Haar und erbebte wie gewohnt vor Wonne, als er das glatte, seidige Gefühl der Öle zwischen seinen Fingern und auf der Innenfläche seiner Hand spürte.

Ehe er an die Tür gelangen konnte, mußte er erst drei Leichen auf die Seite schleifen. Dann warf er den schweren Riegel herum und öffnete die massive Tür.

»Najari!«

Najari stand unweit an die Wand gelehnt und wartete. Sein muskulöser Körper straffte sich.

»Was gibt es?«

Nicholas streckte seinen Arm in einer weiten, eleganten Bewegung nach hinten und spreizte die Finger mit den schwarzen Nägeln. »Die Sauerei dort drinnen muß unbedingt beseitigt werden. Schnappt Euch ein paar Männer und laßt die Leichen fortschaffen.«

Najari kam zur Tür und reckte seinen Hals, um einen Blick in den Raum zu werfen.

»Die ganze Gruppe, die wir hergebracht haben?«

»Ja, verdammt«, fuhr Nicholas ihn an. »Ich habe sie alle gebraucht, und sogar noch ein paar mehr, die ich mir von den Soldaten habe herbringen lassen. Aber jetzt bin ich mit ihnen fertig, also schafft sie fort.«

Während ihrer Attacke war jede der Riesenkrähen von der Seele eines dieser von der Gabe völlig Unbeleckten gelenkt worden, und jede dieser Seelen wiederum von Nicholas. Das gleichzeitige Kommando über all diese Seelen – noch dazu mit solcher Präzision und Koordination – war eine ungeheure Leistung gewesen.

Vermutlich, überlegte er, sollte er irgendwann einmal lernen, die Seelen zurückzurufen, sobald ihre Wirte ums Leben kamen; das würde es ihm ersparen, jedes Mal frischen Nachschub beschaffen zu müssen. Andererseits gab es Menschen zur Genüge. Zudem würde er sich, falls er tatsächlich einen Weg fände, sie zurückzuholen, vor diesen Leuten in acht nehmen müssen, sobald ihre Seelen zurückgekehrt und sie dahinter gekommen waren, wozu er sie benutzte.

Trotzdem, es war ein Jammer, daß dieser Richard Rahl die Tiere, die er zur Beobachtung einsetzte, getötet hatte.

»Wie lange noch?«, fragte Najari.

Ein Lächeln ging über Nicholas’ Lippen; er kannte den Grund seiner Neugier nur zu gut. »Nicht mehr lange. Aber vor ihrem Eintreffen müßt Ihr diese Leute fortschaffen. Und sorgt dafür, daß Eure Männer ihnen nicht in die Quere kommen. Sie sollen tun können, was immer ihnen beliebt.«

»Ganz wie Ihr wünscht, Nicholas.« Najari grinste anzüglich.

Nicholas zog eine Braue hoch. »Kaiser Nicholas.«

Najari lachte amüsiert in sich hinein, als er sich zum Gehen anschickte, um seine Männer zu holen. »Kaiser Nicholas.«

»Wißt Ihr, Najari, ich habe nachgedacht.«

Najari wandte sich noch einmal herum. »Worüber?«

»Über Jagang. Wir haben hart gearbeitet; warum sollte ich mich ihm da länger beugen? Ich könnte einen Schwarm meiner lautlosen Armee über ihm herniedergehen lassen, und das war’s. Ich brauchte nicht mal eine Streitmacht. Oder aber er besteigt eines schönen Tages sein Pferd, in dem ich bereits auf ihn lauere und nur darauf warte, ihn abzuwerfen und zu Tode zu trampeln.«

Najari strich mit der Hand über seine Bartstoppeln. »Der Gedanke hat etwas für sich.«

»Zu was ist Jagang überhaupt nütze? Ich könnte die Imperiale Ordnung ebenso gut führen, ja, ich wäre sogar besser geeignet.«

Najari neigte den Kopf zur Seite. »Was wird also aus den Plänen, die wir bereits ausgearbeitet haben?«

Nicholas zuckte die Achseln. »Warum sie ändern? Nur warum sollte ich Jagang die Mutter Konfessor aushändigen? Oder ihm gar die Welt überlassen? Vielleicht behalte ich sie zu meinem eigenen Vergnügen ... und die Welt gleich mit.«

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