»Sie sind nicht mehr weit«, verkündete Richard, als er wieder unter die Bäume trat. Schweigend sah er Kahlan beim Zurechtrücken der Schultern ihres Kleides zu.
Das lange Eingepacktsein in ihrem Rucksack hatte dem Kleid offenbar nicht geschadet. Der fast weiße, samtig-glatte Stoff schimmerte im gespenstischen Licht des aufgewühlten Wolkenhimmels. Die fließenden Linien mit dem schlichten, rechteckigen Halsausschnitt wiesen weder Spitzen noch Rüschen noch sonst etwas auf, das von seiner schlichten Eleganz abgelenkt hätte. Sie in diesem Kleid zu sehen verschlug ihm nach wie vor den Atem.
Auf Caras Pfeifen hin spähte sie zwischen den Bäumen hindurch. Das Warnsignal, das Richard der Mord-Sith beigebracht hatte, entsprach dem klagenden, hellen, klaren Pfiff des gemeinen Fliegenjägers, allerdings war ihr dieser Umstand nicht bewußt. Sie hatte sich zunächst geweigert, den Pfiff eines so harmlosen Vogels zu erlernen, bis Richard zum Schein nachgegeben und ihr weisgemacht hatte, der Pfiff stamme von dem kleinen gefährlichen Föhrenhabicht. Zufrieden, ihren Willen durchgesetzt zu haben, hatte sie schließlich nachgegeben und den einfachen Pfiff bereitwillig geübt. Bis zu diesem Tag hatte er ihr verschwiegen, daß es diesen kleinen Föhrenhabicht gar nicht gab – und daß Habichte ohnehin nicht solche Pfiffe von sich gaben.
Draußen, jenseits des schützenden Dickichts, bewachte die dunkle Silhouette der Statue jenen Teil des Passes, auf den seit Tausenden von Jahren kein Mensch mehr seinen Fuß gesetzt hatte. Die Frage, warum die Menschen damals vor so langer Zeit auf einem Paß, den voraussichtlich nie wieder jemand benutzen würde, eine Statue errichtet hatten, ließ Richard nicht mehr los. Er dachte über diese urzeitliche Gesellschaft nach, die sie dort errichtet hatte, und welche Überlegung diese Leute dazu gebracht haben konnte, Menschen nur wegen des Verbrechens, von der Gabe völlig unbeleckt zu sein, hinter diesen Paß zu sperren.
»Warte, halt still.« Er bürstete ihr ein paar Föhrennadeln von der Rückseite ihres Ärmels. »Laß dich anschauen.«
Kahlan drehte sich um, die Arme locker an den Seiten, während er den Stoff an ihren Oberarmen glatt strich. Ihre furchtlosen grünen Augen – unter Brauen, die an die elegant geschwungenen Flügel eines Raubvogels im Flug erinnerten – begegneten seinem Blick. Seit ihrer ersten Begegnung schienen ihre Züge noch edler geworden zu sein; ihr gesamtes Äußeres, ihre Körperhaltung, ihre Art ihn anzusehen, so als könnte sie auf den Grund seiner Seele blicken, rührte ihn zutiefst. Aus ihren Augen sprach deutlich jene Intelligenz, die ihn gleich vom ersten Augenblick an für sie eingenommen hatte.
»Warum siehst du mich so an?«
Trotz allem vermochte er sein Lächeln nicht zu unterdrücken. »So wie du dastehst, in diesem Kleid, mit deinem wunderschönen langen Haar, im Hintergrund die grünen Bäume ... ich mußte plötzlich daran denken, wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«
In ihren strahlenden, bezaubernden Augen blitzte jenes ganz besondere Lächeln, das sie sich nur für ihn aufsparte. Sie verschränkte ihre Hände hinter seinem Kopf, zog ihn zu sich heran und gab ihm einen Kuß.
Wie stets, zog ihr Kuß ihn so sehr in ihren Bann, daß er vor Verlangen nach ihr fast verging und alles rings um sich her vergaß. Sie ließ sich in seine Arme gleiten. In diesem Augenblick gab es weder die Imperiale Ordnung noch Bandakar oder das d’Haranische Reich, kein Schwert der Wahrheit, keine Chimären, keine Gabe, die im Begriff war, ihre Macht gegen ihn zu kehren, keine Riesenkrähen, keinen Jagang, keinen Nicholas und keine Schwestern der Finsternis. Ihr Kuß ließ ihn alles außer ihr vergessen; in diesem Augenblick existierten nur sie beide. Kahlan war die Erfüllung seines Lebens und ihr Kuß eine Bekräftigung dieses Bundes.
Sie löste sich von ihm und sah ihm in die Augen. »Mir scheint, als hättest du seit jenem Tag nur Ärger gehabt.«
Richard schmunzelte. »An dem Tag hat mein Leben überhaupt erst angefangen. Erst nachdem ich dir begegnet war, war mir klar, was ich im Leben wollte.«
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küßte sie erneut.
»Seid ihr zwei endlich so weit?«, rief Jennsen den Hang hinunter. »Sie werden gleich hier sein. Habt ihr Caras Pfeifen nicht gehört?«
»Doch, haben wir«, rief Kahlan zu Jennsen hinauf. »Wir sind gleich da.«
Sie drehte sich um und musterte ihn lächelnd von Kopf bis Fuß. »Nun, Lord Rahl, du hast dich seit unserer ersten Begegnung jedenfalls sehr verändert.« Sie rückte den mit Prägungen verzierten ledernen Waffengurt zurecht, der über dem schwarzen, mit Gold abgesetzten Waffenrock lag. »Irgendwie siehst du aber auch noch ganz genauso aus. Deine Augen sind noch dieselben wie damals.« Sie lächelte ihn an, den Kopf auf die Seite gelegt. »Ich hab sie gesehen«, rief Jennsen völlig außer Atem, als sie Richard und Kahlan im Dickicht entgegengestürzt kam. »Drüben, auf der anderen Seite; ich konnte sie unten in der Schlucht ganz deutlich erkennen. Sie werden jeden Moment hier oben sein.« Ihr Gesicht strahlte vor Stolz. »Ich hab gesehen, daß Tom sie anführt.«
Erst jetzt bemerkte sie das veränderte Äußere der beiden. Sie machte ein so verblüfftes Gesicht, daß er einen Moment lang glaubte, sie werde einen Knicks vor ihnen machen.
»Donnerwetter«, entfuhr es ihr. »Ihr seht aus, als wärt ihr dazu ausersehen, die Welt zu beherrschen.«
»Na ja«, meinte Richard, »hoffen wir, daß zumindest Owens Gefährten das denken.«
Cara bog einen Fichtenzweig zur Seite und trat in gebückter Haltung unter die Zweige. Sie war jetzt wieder mit ihrem hautengen Lederanzug bekleidet und wirkte genauso furchteinflößend wie damals, als Richard ihr in den prunkvollen Hallen des Palasts des Volkes in D’Hara zum ersten Mal begegnet war.
»Lord Rahl hat mir einmal im Vertrauen gestanden, daß er tatsächlich die Absicht hat, die Welt zu beherrschen«, sagte Cara, die Jennsens Äußerung mitbekommen hatte.
»Wirklich?«
Ihr ehrfürchtiges Gebaren ließ Richard genervt seufzen. »Leider hat sich die Beherrschung der Welt als erheblich schwieriger herausgestellt, als ich dachte.«
»Würdet Ihr mehr auf die Mutter Konfessor und mich hören«, fiel Cara ihm belehrend ins Wort, »würde sie Euch erheblich leichter fallen.«
Richard überhörte Caras Unverschämtheit. »Würdet Ihr bitte alles zusammensuchen? Ich möchte mit Kahlan dort oben sein, ehe Tom mit Owen und seinen Gefährten eintrifft.«
Mit einem Nicken ging Cara daran, die Gegenstände einzusammeln, die sie unter großen Mühen angefertigt hatten; einige warf sie auf einen Haufen, andere zählte sie sorgfältig durch. Richard legte Jennsen eine Hand auf die Schulter.
»Bind Betty an, damit sie erst einmal hier unten bleibt, einverstanden? Dort oben wäre sie uns jetzt nur im Weg.«
»Ich werd mich darum kümmern«, erwiderte Jennsen, während sie nervös ihre rötlichen Locken zurechtzupfte. »Ich werde dafür sorgen, daß sie uns weder stört noch weglaufen kann.«
Ihr war deutlich anzumerken, daß sie es kaum noch erwarten konnte, Tom wiederzusehen. »Du siehst bezaubernd aus«, versicherte ihr Richard. Sofort kehrte ihr Lächeln zurück und verbannte alle Angespanntheit aus ihren Zügen. Sie schnappte sich Bettys Strick und hielt sie zurück, als Richard, neben sich Kahlan, zwischen den letzten Bäumen hindurch auf die offene Felsfläche trat. Düstere, tiefe Wolken schienen an den Hängen der umliegenden Berge zu kleben. Jetzt, da die hoch in den Himmel ragenden schneebedeckten Gipfel nicht mehr zu erkennen waren, hatte Richard unter der Decke aus tiefhängenden, Unheil verkündenden Wolken das Gefühl, dem Dach der Welt ganz nah zu sein.
Am Ende des Pfades erwartete sie der hoch aufragende steinerne Wächter, den Paß selbst und weit dahinter die Säulen der Schöpfung wie eh und je in seinem wachsamen Blick. Als sie auf ihn zugingen, suchte Richard den Himmel in der Nähe mit den Augen ab, konnte aber nur einige kleinere Vögel erkennen, die durch das Geäst eines nahen Fichtenwäldchens flatterten. Zu seiner Erleichterung hatten sich die Riesenkrähen, seit sie diesen alten Fußpfad hinauf zum Paß betreten hatte, nicht mehr blicken lassen.
In der ersten Nacht auf dem Paß, ein Stück weiter unten am Hang im dichteren Wald, hatten sie einen gemütlichen Unterschlupf errichtet, der erst fertig geworden war, als sich bereits die Dunkelheit über die endlosen Wälder legte. Gleich am nächsten Morgen hatte Richard die Statue selbst sowie die ebenen Flächen des Sockels vom Schnee befreit und dabei weitere Inschriften entdeckt.
Mittlerweile hatte er ein wenig mehr über den Mann, dessen Statue man dort, mitten auf dem Paß, errichtet hatte, in Erfahrung bringen können. Ein kleiner Schneeschauer hatte die Inschriften inzwischen wieder mit einer feinen Pulverschicht bedeckt und die Worte in der lange ausgestorbenen Sprache unter sich begraben.
Kahlan legte ihm eine tröstliche Hand auf den Rücken. »Sie werden dich anhören, Richard. Sie werden auf dich hören.«
Mit jedem Atemzug ging ein schmerzhaftes, zunehmend schlimmer werdendes Reißen mitten durch seinen Körper. »Das werden sie auch müssen, sonst habe ich keine Chance, an das Gegenmittel zu kommen.«
Allein, darüber war er sich im Klaren, konnte er es unmöglich schaffen. Selbst wenn er seine Gabe hätte zu Hilfe nehmen und über deren Magie verfügen können, wäre er nicht imstande gewesen, irgendeinen großartigen Zauber zu wirken, der die Imperiale Ordnung aus dem Reich Bandakar vertreiben würde. Mit diesen Dingen, das wußte er, war selbst die mächtigste Magie überfordert. Magie, richtig angewandt und verstanden, war, wie sein Schwert auch, nichts weiter als ein Werkzeug – ein Mittel, dessen man sich bediente, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Magie würde ihn jedenfalls nicht retten; sie war kein Allheilmittel. Um erfolgreich zu sein, würde er seinen Verstand gebrauchen und sich überlegen müssen, wie er sich die nötige Geltung verschaffen konnte.
Zumal er nicht einmal mehr wußte, ob auf die Magie des Schwertes der Wahrheit noch Verlaß war oder wie viel Zeit ihm noch blieb, ehe seine Gabe ihn umbrachte. Manchmal schien es ihm, als lieferten sich seine Gabe und das Gift ein Wettrennen um die zweifelhafte Ehre, was ihn zuerst erledigen konnte.
Richard geleitete Kahlan das letzte Stück des Weges hinauf und anschließend, auf der rückwärtigen Seite der Statue, zu einem kleinen vorspringenden Felsen am höchsten Punkt des Passes, wo er auf die Männer warten wollte. Von dieser Stelle aus hatten sie, durch die Lücken zwischen den Bergen, freie Sicht bis hinein nach Bandakar. Vorn, am Rand der ebenen Fläche, erspähte er ein Stück weiter unten Tom, der die Männer zwischen den Bäumen hindurch den mäandernden Pfad heraufführte.
Tom hob kurz den Kopf, während er den Pfad hinaufstapfte, und erblickte Richard und Kahlan. Als er ihre Kleidung bemerkte und sah, wo sie standen, verzichtete er darauf, ihnen vertraulich zuzuwinken – es wäre unpassend gewesen. Durch die lichten Stellen zwischen den Bäumen konnte Richard beobachten, daß einige der Männer seinem Blick hangaufwärts mit den Augen folgten.
Richard zog sein Schwert einige Zoll aus seiner Scheide, um sich zu vergewissern, daß es locker saß. Die düsteren, sich auftürmenden Wolken ringsumher schienen sich über ihren Köpfen zusammenzuschieben, so als drängten sie alle in den engen Gebirgspaß hinein, um das Geschehen zu verfolgen.
In aufrechter Haltung, den Blick auf das unbekannte Land jenseits des Passes gerichtet, ergriff Richard Kahlans Hand.
So harrten sie schweigend einer Begegnung, mit der eine Herausforderung beginnen würde, die die Welt ihrem Wesen nach für immer verändern – oder ihn endgültig der Chance auf sein Leben berauben würde.