54

Verna zögerte, als der Posten im Dunkeln auf sie zugelaufen kam, und griff die Zügel ihres Pferdes kürzer, näher an der Trense, um zu verhindern, daß es scheute.

»Prälatin – ich glaube, es könnte sich um eine Art Angriff handeln«, stieß der Soldat in atemloser Besorgnis hervor.

Sie musterte ihn stirnrunzelnd. »Was könnte sich um eine Art Angriff handeln?«

»Es kommt etwas die Straße herauf.« Er deutete hinter sich, Richtung Dobbin-Paß. »Ein Wagen, glaube ich.«

Der Gegner schickte fortwährend irgend etwas zu ihnen herüber: Soldaten, die sich heimlich bei Dunkelheit anschlichen. Pferde, die – mit einem Bann belegt, der eine Bresche in ihre Schilde sprengen sollte -wie von Sinnen auf sie zugerast kamen, harmlos aussehende Wagen, in deren Innerem sich Bogenschützen verbargen, kräftige, von einem Zauber angetriebene Winde, versetzt mit magischen Bannen aller Art.

»Da es bereits dunkel ist, hielt der Kommandant ihn für verdächtig und hat ausgegeben, daß wir kein Risiko eingehen sollen.«

»Klingt vernünftig«, bemerkte Verna.

Sie mußte dringend zurück ins Lager. Sie hatte selbst die Runde gemacht, um sich – vor der allabendlichen Zusammenkunft im Lager, bei der die Tagesberichte durchgegangen wurden – einen genauen Überblick über die Verteidigungsanlagen zu verschaffen und den Männern auf den Außenposten einen Besuch abzustatten.

»Der Kommandant möchte den Wagen zerstören, ehe er zu nahe kommt. Ich hab mich selbst überzeugt, Prälatin – im Augenblick sind keine anderen Schwestern verfügbar. Wenn Ihr Euch der Sache nicht selbst annehmen wollt, könnten wir die Männer oben am Hang einen Erdrutsch auslösen lassen, der den Wagen unter sich begräbt.«

Verna mußte dringend zurück zu ihrem Treffen mit den Offizieren. »Am besten, du richtest deinem Kommandanten aus, er möge die Sache selbst in die Hand nehmen, wie immer er es für angemessen hält.«

Der Soldat salutierte mit einem knappen Faustschlag auf sein Herz.

Verna zog ihr Pferd herum und setzte einen Fuß in den Steigbügel. Wieso glaubte man im Lager der Imperialen Ordnung, einen Wagen über den Paß schmuggeln zu können, noch dazu bei Nacht? Diese Leute waren mit Sicherheit nicht so töricht anzunehmen, er würde im Dunkeln nicht gesehen. Sie zögerte und sah dem Soldaten hinterher, der bereits im Begriff war sich zu entfernen.

»Warte.« Er blieb stehen und drehte sich herum. »Ich habe es mir anders überlegt. Ich werde dich begleiten.«

Sie folgte dem einfachen Soldaten den Pfad entlang bis zu dem Aussichtspunkt, wo seine Einheit wartete. Die Soldaten hielten durch die Bäume Ausschau auf die etwas unterhalb liegende Straße, die im Licht des aufgehenden Mondes silbrig schimmerte.

Verna beobachtete, wie der Wagen, gezogen von einem einzelnen, schwerfällig dahintrottenden Pferd, sich gemächlich die Straße hinaufbewegte. Bogenschützen, die neben sich eine Blendlaterne bereitstehen hatten, um Brandpfeile entzünden und den Wagen in Brand schießen zu können, warteten schußbereit in angespannter Körperhaltung.

Im Wagen vermochte Verna niemanden zu erkennen; ein leerer Wagen, das wirkte in der Tat verdächtig. Sofort mußte sie an Anns merkwürdige Nachricht denken, in der sie sie dringend aufgefordert hatte, einen leeren Wagen durchzulassen.

Nur hatten sie das längst getan. Verna meinte sich zu erinnern, daß das Mädchen mit der Nachricht von Jagang auf ebendiesem Weg bis zu ihnen durchgekommen war. Klopfenden Herzens und voller Sorge überlegte Verna, welche Botschaft Jagang ihnen wohl diesmal schicken mochte.

Womöglich die Köpfe von Zedd und Adie.

»Nicht schießen«, rief sie den Bogenschützen zu. »laßt ihn durch, aber haltet euch bereit, für den Fall, daß es sich um ein Täuschungsmanöver handeln sollte.«

Verna begab sich den schmalen Pfad zwischen den Bäumen hinunter, ging hinter einem Dickicht aus Fichtenzweigen in Deckung und spähte hindurch. Als der Wagen nahe genug war, öffnete sie eine schmale Lücke in dem ausgedehnten Schild, den sie und die anderen Schwestern über den Paß gelegt hatten; der dabei verwendete Zauber war mit allen Häßlichkeiten der Magie versehen, derer sie fähig waren. An dieser Stelle war der Paß so schmal, daß er mit den Schilden allein zu halten war, und viel zu eng, als daß der Feind ihn im Falle eines Angriffs in großer Zahl erstürmen konnte. Selbst ohne den mächtigen magischen Schild wäre der Paß vergleichsweise leicht zu halten gewesen.

Kaum hatte der Wagen den Schild passiert, schloß Verna die Lücke wieder, und als er schließlich nahe genug war, trat einer der Soldaten aus dem Schutz der Bäume hervor und brachte das Pferd in seine Gewalt. Schließlich kam der Wagen zum Stehen; Dutzende von Bogenschützen – sowohl hinter dem Wagen als auch auf der anderen Seite, hinter Verna – spannten ihre Waffen. Verna umgab ihn mit einem magischen Netz, bereit, es beim geringsten Anlaß zu entfesseln.

Schließlich wurde die Plane über der Ladefläche des Wagens ein Stück zurückgezogen, und ein kleines Mädchen richtete sich auf. Es war dasselbe Mädchen, das auch schon die erste Nachricht überbracht hatte. Ihre Miene hellte sich auf, als sie Vernas bekanntes Gesicht erblickte.

Vernas Herz setzte einen Schlag aus, als sie daran dachte, was sie wohl diesmal erwartete.

»Ich hab ein paar Freunde mitgebracht«, rief das Mädchen.

Schließlich wurde die Plane ganz zurückgezogen, und mehrere Personen, die auf der Ladefläche des Wagens gelegen hatten, begannen sich zögernd aufzurichten; dem Anschein nach waren es Eltern mit ihren völlig verängstigten Kindern.

Verna kniff erschrocken die Augen zusammen, als sie einige von ihnen Adie aufhelfen sah. Die Hexenmeisterin machte einen erschöpften Eindruck; ihr schwarzgraues Haar war nicht mehr säuberlich gescheitelt, sondern so unordentlich, wie man es sonst nur von Zedds Haar gewohnt war.

Verna eilte hinüber und beugte sich über die Seitenwand, um sie zu stützen. »Adie! Was bin ich froh, Euch wiederzusehen!«

Die alte Hexenmeisterin lächelte. »Ich freue mich auch über alle Maßen, Euch wiederzusehen, Verna.«

Mit klopfendem Herzen ließ Verna den Blick suchend über die auf der Ladefläche kauernden Personen schweifen. »Wo ist Zedd?«

»Er hat ebenfalls fliehen können.«

Verna schloß die Augen zu einem stillen Dankgebet.

Dann schlug sie sie wieder auf. »Aber wo ist er, wenn er entkommen konnte?«

»Auf dem Weg zur Burg der Zauberer in Aydindril«, antwortete Adie mit ihrer schnarrenden Stimme. »Sie ist von unseren Feinden erobert worden.«

»Wir haben davon gehört.«

»Dieser alte Kerl ist fest entschlossen, seine Burg zurückzuerobern.«

»Wie ich Zedd kenne, kann einem jeder leid tun, der ihm dabei in die Quere zu kommen versucht.«

»Rikka ist bei ihm.«

»Rikka! Was in aller Welt hat sie dort verloren! Das hatte ich ihr doch ausdrücklich untersagt!« Plötzlich wurde Verna bewußt, wie sich das anhören mußte. »Wir hielten es für zwecklos, weil wir glaubten, sie hatte keine Chance und wir würden sie sinnlos verlieren.«

»Rikka ist eine Mord-Sith. Sie hat ihren eigenen Kopf.«

Verna schüttelte den Kopf. »Nun, ich hatte es ihr zwar eigentlich verboten, aber jetzt, wo ich Euch wiedersehe und weiß, daß auch Zedd entkommen ist, bin ich ganz froh, daß dieses eigensinnige Frauenzimmer nicht auf mich gehört hat.«

»Captain Zimmer befindet sich ebenfalls auf dem Weg hierher.«

»Captain Zimmer!«

»Ganz recht. Er und einige seiner Männer hatten ebenfalls beschlossen, uns zu Hilfe zu kommen. Sie sind auf dem Weg hierher, wie sie sich normalerweise fortbewegen – unsichtbar im Schutz der Nacht.«

Auf Kahlans ausdrückliche Anordnung waren diese Männer keinem Kommando unterstellt und konnten nach eigenem Ermessen handeln; trotz gelegentlicher Schwierigkeiten hatten sie die Erwartungen aller bislang stets übertroffen.

»Zedd wollte, daß ich diesen Leuten bei der Flucht helfe.« Adie bedachte Verna mit einem vielsagenden Blick. »Leider konnten wir nicht allen helfen.«

Verna sah zu den Leuten hinüber, die eng aneinander geschmiegt auf der Ladefläche des Wagens kauerten. »Was Jagang mit diesen Leuten angestellt hat, kann ich bestenfalls vermuten.«

»Nein«, erwiderte Adie. »Das bezweifele ich.«

Schließlich wechselte Verna zu einem noch erschreckenderen Thema. »Hat Jagang unter den aus der Burg der Zauberer stammenden Gegenständen bislang etwas gefunden, das er gegen uns einzusetzen gedenkt?«

»Glücklicherweise nein. Zedd hat einen Bann ausgelöst, durch den alle aus der Burg der Zauberer gestohlenen Gegenstände zerstört wurden. Es gab mitten in ihrem Lager eine gewaltige Explosion.«

»Etwa so wie jene damals in Aydindril, der so viele von ihnen zum Opfer gefallen sind?«

»Das nicht, trotzdem hat sie enorme Zerstörungen verursacht und auch einige Personen von Rang getötet – ich glaube, sogar einige der Schwestern in Jagangs Truppen.«

Verna hätte nie geglaubt, sie würde sich jemals über den Tod einiger Schwestern des Lichts freuen. Aber diese Frauen befanden sich in der Gewalt des Traumwandlers und waren, als man ihnen die Freiheit anbot, zu verängstigt gewesen, um sich ihren Rettern anzuvertrauen. Plötzlich kam ihr ein Gedanke; sie packte Adies Gewand. »Ware es möglich, daß Zedds Bann auch Jagang getötet hat?«

Adie blickte mit ihren vollkommen weißen Augen den Dobbin-Paß hinauf zum Lager der Imperialen Ordnung. »Ich wünschte, ich hätte erfreulichere Neuigkeiten für Euch, Prälatin, aber als wir bereits auf dein Weg aus dem Lager waren, erzählte mir Captain Zimmer, unmittelbar vor unserer Rettung sei es einem gedungenen Meuchler gelungen, bis in den Kommandobereich des Feldlagers vorzudringen.«

»Ein gedungener Mörder? Wer kann das gewesen sein? Woher kam er?«

»Das weiß keiner von uns. Äußerlich war er den anderen Soldaten aus der Alten Welt sehr ähnlich. Offenbar wurde der Eindringling von der unbedingten Entschlossenheit getrieben, sich bis zu Jagang durchzuschlagen und ihn umzubringen. Irgendwie muß es ihm gelungen sein, den inneren Verteidigungsring zu überwinden, einige Soldaten zu töten und die Uniform eines Elitesoldaten zu erbeuten, um sich auf diese Weise bei Jagang einzuschleichen. Doch dann fiel den Wachtposten auf, daß er nicht zu ihnen gehörte, und sie hackten ihn in Stücke, ehe er auch nur in die Nähe Jagangs gelangen konnte.

Unmittelbar darauf verließ Jagang den Kommandobereich, bis seine Leute den Verteidigungsring überprüft und sich vergewissert hatten, daß keine weiteren Meuchler eingedrungen waren. Dabei wurde er zu seinem persönlichen Schutz von einer größeren Gruppe Schwestern begleitet. Ungefähr um diese Zeit zündete Zedd den Sonnenuntergangsbann. Da wußten wir noch nicht, daß Jagang den Kommandobereich verlassen hatte, aber es hätte ohnehin keinen Unterschied ausgemacht, denn Zedd hatte den Bann im dem Moment scharf machen müssen, als er ihm vorgelegt wurde. Ausgelöst wurde er dann später durch den Sonnenuntergang.«

Verna nickte. Einen Augenblick lang hatte sie gehofft ...

»Immerhin seid Ihr und Zedd entkommen, und das ist es, was jetzt erst einmal zahlt. Dem Schöpfer sei Dank.«

Die Grillen im Wald setzten ihr unablässiges Zirpen in unverminderter Stärke fort. Das Leben schien plötzlich wieder ein wenig freundlicher, ihre Situation etwas weniger hoffnungslos.

Sie seufzte. »Nun, wenigstens hoffe ich, der Schöpfer hilft Zedd und Rikka, die Burg der Zauberer zurückzuerobern.«

»Zedd ist auf die Hilfe des Schöpfers nicht angewiesen«, erwiderte Adie. »Dafür haben wir von ganz anderer Seite Hilfe bekommen; Chase ist ein alter Freund von Zedd, mir und Richard. Wer immer die Burg besetzt haben mag, Chase wird dafür sorgen, daß sie den Schöpfer um Hilfe anflehen.«

»Demnach können wir dem Tag, da die Burg wieder in unsere Hände fällt und Jagang endgültig jede Hilfe beim Durchbruch des Passes nach D’Hara verwehrt wird, also mit einiger Zuversicht entgegensehen.«

Verna gab ein Zeichen mit ihrem Arm, worauf die vier Paare, die an der Rückseite des Wagens standen, zögernden Schritts mit ihren Kindern näher kamen.

»Willkommen in D’Hara«, begrüßte sie Verna. »Hier seid Ihr in Sicherheit.«

»Vielen Dank, daß Ihr uns bei der Flucht aus dem Lager geholfen habt«, sagte einer der Männer mit einer höflichen Verbeugung zu Adie. »Jetzt schäme ich mich, was für schreckliche Dinge ich über Euch gedacht habe.«

Adie lächelte amüsiert, während sie seine Schulter mit ihren dürren Fingern drückte. »Mag sein. Aber das kann ich Euch nicht vorwerfen.«

Das Mädchen, das schon beim letzten Mal die Nachricht überbracht hatte, zupfte an Vernas Kleid. »Das sind meine Eltern. Ich hab ihnen erzählt, wie nett du zu mir warst.«

Verna ging in die Hocke und nahm das Mädchen in die Arme. »Willkommen, Kleines. Herzlich willkommen.«

Загрузка...