57

Der Fluß, der die Stadt teilte, war breiter, als Kahlan erwartet hatte. Seine steilen Uferböschungen waren, jedenfalls in diesem Teil der Stadt, mehrere Dutzend Fuß hoch und mit großen Steinquadern eingefaßt. Die Brücke selbst, breit genug, daß zwei Wagen einander passieren konnten, überspannte den Fluß auf zwei Bögen und besaß an der Seite ein Geländer auf einfachen steinernen Pfeilern. Die unten dahinströmenden Fluten waren schwarz und reißend – gefährlich.

Kahlan ging weiter bis zum Fuß der Brücke und blieb dort erneut stehen. Der Mann auf der anderen Seite beobachtete sie.

»Habt Ihr das Gegenmittel?«, rief sie zu ihm hinüber.

Er hielt einen Gegenstand, offenbar ein kleines Fläschchen, hoch über seinen Kopf, ließ den Arm wieder sinken und deutete auf die Brücke. Offenbar wollte er, daß sie zu ihm kam.

»Mutter Konfessor«, flehte Owen sie an, »wollt Ihr es Euch nicht noch einmal überlegen?«

Sie blickte in seine tränenfeuchten Augen. »Was gibt es da zu überlegen? Wenn ich diese Chance ungenutzt ließe, würde ich mir nicht mehr in die Augen sehen können.

Wir führen diesen Krieg, um Barbaren wie ihm Einhalt zu gebieten, Barbaren, die uns mit Tod überziehen, die unseren Tod wollen, weil sie es nicht ertragen, daß wir ein Leben nach unseren eigenen Vorstellungen führen. Diesen Menschen ist das Leben verhaßt, sie verherrlichen den Tod. Deshalb verlangen sie, daß wir werden wie sie und ihnen in ihrem Elend Gesellschaft leisten.

Als Mutter Konfessor habe ich der Imperialen Ordnung erbarmungslose Rache geschworen. Jedes Abweichen von diesem Kurs wäre glatter Selbstmord. Ich denke nicht daran, mir irgend etwas anders zu überlegen.«

»Und was sollen wir Lord Rahl ausrichten?«, fragte Tom.

Ein Lächeln ging über ihre Lippen. »Daß ich ihn liebe, auch wenn er das längst weiß.«

Kahlan löste die Schnalle ihres Schwertgurtes und reichte ihn Jennsen. »Owen, du kommst mit mir.«

Kahlan wollte bereits los, als Jennsen noch einmal die Arme um sie schlang und sie verzweifelt an sich drückte. »Sei unbesorgt«, sagte sie leise. »Wir werden Richard das Gegenmittel bringen, und dann kommen wir zurück und holen dich.«

Kahlan umarmte sie kurz, dankte ihr leise, dann trat sie auf die Brücke. Owen ging wortlos neben ihr her.

Der Mann auf der anderen Seite beobachtete sie, rührte sich aber nicht von der Stelle.

In der Mitte der Brücke blieb Kahlan stehen. »Bringt mir jetzt das Fläschchen«, rief sie zur anderen Seite hinüber.

»Kommt hierher zu mir, dann könnt Ihr es haben.«

»Wenn Ihr mich wollt, müßt Ihr bis zur Brückenmitte kommen und das Fläschchen diesem Mann hier übergeben, der es dann, entsprechend Nicholas’ Angebot, überbringen wird.«

Der Mann verharrte eine Weile regungslos auf der Stelle, so als dächte er nach. Er sah aus wie ein Soldat und entsprach keineswegs der Beschreibung Nicholas’, die Owen ihr gegeben hatte. Schließlich machte er sich auf und betrat den Brückenbogen. Owen raunte ihr zu, er sehe aus wie der Kommandant, den er bei Nicholas gesehen habe. Kahlan wartete ab und beobachtete den Mann, der sich ihr im Mondlicht näherte. An der einen Seite trug er ein Messer, an seiner anderen Hüfte ein Schwert.

Er hatte sie fast erreicht, als er unvermittelt stehenblieb und wartete.

Kahlan streckte ihre Hand vor. »In dem Brief war von einem Austausch die Rede. Meine Person gegen etwas, das sich in Nicholas’ Besitz befindet.«

Der Mann mit der seitlich gekrümmten platten Nase grinste. »So stand es dort geschrieben.«

»Ich bin die Mutter Konfessor. Entweder Ihr händigt mir das Fläschchen jetzt aus, oder Ihr sterbt gleich hier auf der Brücke.«

Er holte das rechteckige Fläschchen aus seiner Tasche hervor und legte es ihr in die Hand. Kahlan konnte erkennen, daß es mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Sie entkorkte es und roch daran; es verströmte, wie die anderen Fläschchen mit dem Gegenmittel zuvor, ein schwaches Zimtaroma.

»Dieser Mann wird umgehend mit dem Fläschchen zurückgehen«, erklärte Kahlan dem finster dreinblickenden Soldaten, indem sie das Fläschchen an Owen weitergab.

»Und Ihr werdet mit mir kommen«, erwiderte dieser und faßte sie am Handgelenk. »Oder wir alle sterben hier auf dieser Brücke. Er darf gehen, wie ausgemacht, aber wenn Ihr zu fliehen versucht, sterbt Ihr.«

Kahlan sah Owen an. »Geh jetzt«, knurrte sie.

Owens Blick schweifte zu dem Mann mit dem schwarzen Haaren, dann wieder zurück zu Kahlan. Er schien noch eine Menge sagen zu wollen, beließ es dann aber bei einem knappen Nicken und eilte über die Brücke zurück zu der Stelle, wo Tom und Jennsen standen und das Geschehen verfolgten.

Als er bei den beiden eintraf, sagte der Soldat soeben: »Gehen wir, es sei denn, Ihr wollt gleich hier sterben.«

Mit einem Ruck befreite Kahlan ihren Arm. Als er darauf kehrt machte und sich in Bewegung setzte, folgte sie ihm den Rest des Weges bis zum Ende der Brücke, wahrend sie die Schatten am gegenüberliegenden Flußufer, die unzähligen Verstecke zwischen den Gebäuden jenseits und den weiter entfernten Straßen mit den Augen absuchte. Sie sah keine Menschenseele, was aber keineswegs dazu beitrug, daß sie sich besser fühlte.

Irgendwo dort in der Dunkelheit lauerte Nicholas und wartete darauf, sie in seine Gewalt zu bekommen.

Plötzlich erstrahlte die Nacht hinter ihnen in taghellem Licht. Kahlan fuhr herum und sah die Brücke in einen wallenden Feuerball gehüllt, dessen Flammen, je höher sie in den Himmel schlugen, in schwarzen Qualm übergingen. Gesteinsbrocken schossen über dem Inferno in die Höhe. Als die leuchtende Flammenwolke sich hob, sah sie die Brücke unter dem tosenden Feuerball in sich zusammenstürzen. Die Stützbögen gaben nach, bis schließlich die gesamte Konstruktion ihren tiefen Sturz in den Fluß begann.

Kahlan überlief eiskalte Angst, als sie sich fragte, ob es wohl noch weitere Brücken über den Fluß gab. Wie sollte sie gegebenenfalls wieder zu Richard zurückgelangen? Wie sollte ihr umgekehrt jemand zu Hilfe kommen können?

Drüben, auf dem anderen Ufer, konnte sie Tom, Jennsen und Owen die Straße entlanglaufen sehen, zurück zu dem Gebäude, in dem Richard schlief. Offenbar hatten sie nicht die Absicht, ihre Zeit damit zu verschwenden, sich die Zerstörung einer Brücke anzusehen. Beim Gedanken an Richard hätte sie beinahe laut geschluchzt.

Unerwartet versetzte ihr der Soldat einen Stoß. »Macht schon, weiter.«

Sie erwiderte sein Grinsen, die selbstgefällige Dreistigkeit, die sie in seinen Augen las, mit einem wütenden Funkeln.

Ihre Wut stand, während sie vor diesem Kerl herging, der ihr ab und zu einen Stoß versetzte, kurz vor dem Siedepunkt. Sie verspürte den Drang, ihre Kraft zu entfesseln und diesen Abscheu erregenden Rohling auszuschalten, aber sie mußte sich auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren: Nicholas.

Auf dem Weg über die vom Fluß fortführende Straße konnte sie gerade eben einige Soldaten ausmachen, die sich auf der dunklen Straßenseite in die Schatten drückten, um sämtliche Fluchtwege abzuriegeln. Es war ihr egal. Was sie im Augenblick interessierte, war nicht Flucht, sondern einzig und allein ihr Ziel. Ungeachtet seines arroganten Gebarens war der Mann hinter ihr überaus wachsam und behandelte sie mit einer Mischung aus Vorsicht und Verachtung.

Je weiter sie in die Stadt auf der anderen Seite des Flusses vordrang, desto dichter drängten sich die Gruppen gedrungener Häuser zusammen. Gewundene Seitenstraßen führten zwischen den baufälligen Gebäuden in ein Gewirr aus völlig übervölkerten Wohnbezirken. Die wenigen Bäume, die es gab, standen unmittelbar am Straßenrand; ihre Äste reichten über sie hinweg wie Arme, erhoben, um sie mit ihren Krallen zu greifen. Kahlan versuchte, den Gedanken, wie tief sie in feindliches Gebiet vordrang und wie viele Soldaten sie hier umzingelten, zu verdrängen.

Als sie das letzte Mal von solchen Wilden umringt und in einen Hinterhalt gelockt worden war, hatte man sie brutal zusammengeschlagen, und sie wäre beinahe dabei umgekommen. Für ihr ungeborenes Kind, Richards Kind, hatte es das Ende bedeutet. An jenem Tag damals hatte sie eine gewisse Art der Unschuld verloren, das naive Gefühl der eigenen Unbesiegbarkeit. An seine Stelle war das Bewußtsein der Vergänglichkeit des Lebens getreten.

Ein Mann trat rechts von ihr aus dem Schatten eines Gebäudes. Er trug ein schwarzes, offenbar mit mehreren Schichten Stoffstreifen besetztes Gewand, das ein wenig so aussah, als wäre er über und über mit schwarzen Federn bedeckt. Sie hoben sich sanft im Luftzug seines forschen Schritts, was seinen Bewegungen etwas verstörend Schwebendes, ja Ungreifbares verlieh.

Sein Haar war mit Öl nach hinten geglättet, das im Mondschein glänzte. Eng beieinander stehende, kleine schwarze Augen, rot gerändert, linsten ihr aus einem durch und durch verdorbenen Gesicht entgegen. Er hielt seine Handgelenke an die Brust gepreßt, so als wollte er seine mit schwarzen Fingernägeln versehenen Krallen vor ihr verbergen.

Kahlan mußte ihm nicht vorgestellt werden, um zu wissen, daß dies Nicholas der Schleifer war. Sie hatte Männern Geständnisse abgenommen, die nach außen hin nichts weiter zu sein schienen als höfliche, junge Burschen, berufstätige Familienväter oder freundliche Großväter, die in Wahrheit jedoch Verbrechen von skrupellosester Grausamkeit begangen hatten. Wenn man sie betrachtete, wie sie hinter ihrer Werkbank standen und Schuhe fertigten, wie sie Brot verkauften oder draußen auf dem Feld ihre Tiere versorgten, wäre es einem schwer gefallen, sie so abscheulicher Verbrechen für fähig zu halten. Aber als sie jetzt Nicholas vor sich sah, offenbarte sich ihr eine Verdorbenheit von so ungeheurem Ausmaß, daß sie alles an ihm, bis hin zu seinen obszön zusammengekniffenen Augen, mit seinem Gift durchdrungen hatte.

»Der Fang aller Fänge«, zischte er. Er streckte eine Hand vor und ballte sie zur Faust. »Und jetzt gehört er mir.«

Kahlan bekam kaum mit, was er sagte; sie hatte sich bereits ihrer unwiderruflichen Entschlossenheit hingegeben, von ihrer Kraft Gebrauch zu machen. Dieser Mann hatte unzählige Menschen als Geiseln genommen. Dieser Mann, dessen Schatten nichts als Leid und Tod bedeutete, würde sie und Richard töten, sobald sich ihm die Gelegenheit böte.

Sie packte sein vorgestrecktes Handgelenk, das er mit seiner anderen Hand umfaßt hielt.

Er stand vor ihr wie eine Statue.

Die Nacht unter dem mit Sternen übersäten Himmelsgewölbe wirkte kalt und abweisend. Sie spürte, wie seine Muskeln sich unter ihrem Griff anspannten, so als wollte er seinen Arm zurückziehen. Doch dafür war es längst zu spät.

Er hatte keine Chance; er gehörte ihr.

Die Zeit gehörte ihr.

Nicholas gehörte ihr.

Sie verschwendete keinen Gedanken darauf, was die Soldaten anschließend mit ihr machen würden. Im diesem Augenblick war es ihr gleichgültig; in diesem einen Augenblick zählte nur ihr Vermögen, das zu tun, was getan werden mußte. Dieser Mann gehörte ausgelöscht.

Er war der Feind. Dieser Mann war in ein Land eingefallen und hatte dort im Namen der Imperialen Ordnung unschuldige Menschen gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Dieser Mann war mit Magie in ein Monstrum verwandelt worden, dessen einziger Zweck in ihrer Vernichtung bestand. Dieser Mann war ein Werkzeug der Unterwerfung, ein Geschöpf des Bösen.

Richards Leben lag in den Händen dieses Mannes.

Die Kraft in ihrem Innern zerrte an ihren Fesseln.

Angesichts dieser Kraft verflüchtigten sich all ihre Gefühle zu einem bedeutungslosen Nichts; Angst, Haß, Wut und Entsetzen – all das kannte sie nicht mehr. Alle Empfindungen waren hinter kalter Vernunft zurückgetreten. In diesem alles verzehrenden Augenblick der Stille vor dem gewaltigen Ausbruch ihrer Kraft empfand sie nichts als unbedingte Entschlossenheit. Ihre Kraft war zu einem Werkzeug reiner Vernunft geworden.

Alle Hemmnisse fielen von ihr ab.

Für ein winziges Aufblitzen der Zeit vor sich die kleinen, glänzenden Augen, die ihr entgegenstarrten, erfüllte die Kraft ihr ganzes Sein.

Wie bereits unzählige Male zuvor, warf Kahlan die Fesseln ab, die sie noch hielten, und überließ sich einem Strom der Gewalt, der nur ein einziges Ziel kannte.

Doch wo sie die köstliche Entfesselung erbarmungsloser Stärke hatte spüren sollen, empfand sie nichts als furchtbare Leere, wo ihre Kraft in den Verstand dieses Mannes hätte eindringen sollen, war ... nichts.

Kahlan entfuhr ein lautes Keuchen. Entsetzt riß sie die Augen auf, als sie den heißen Schmerz eines Messers in ihrem Leib spürte; und überdies noch etwas völlig Fremdes und Entsetzliches, Grauenhaftes, das sich mit brutaler Gewalt einen Weg in ihren Körper suchte.

Ein heißer, quälender Schmerz zerriß ihr Bewußtsein bis auf den Grund ihrer Seele.

Es war, als würde ihr Innerstes auseinander gerissen.

Sie versuchte zu schreien, brachte jedoch keinen Laut hervor.

Die Nacht wurde noch schwärzer, als sie bereits war, dann hörte sie ein Lachen durch ihre Seele hallen.

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