Nach Owens bisherigen Ausführungen war Kahlan nicht wenig erstaunt zu erfahren, daß er selbst zu einem dieser Verbannten geworden war. Sie sah, wie Jennsen der Unterkiefer herunterklappte. Selbst Cara zog verdutzt eine Braue hoch.
Richards Hand auf seiner Schulter war für den jungen Mann, konnte Kahlan jetzt erkennen, eine Art emotionales Rettungsseil. Schließlich richtete er sich wieder auf und versuchte schniefend, seiner Tränen Herr zu werden. Er wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab und sah zu Richard hoch.
»Wollt Ihr wirklich die ganze Geschichte hören? Von Anfang an?«
»Ja, das möchte ich. Von Anfang an.«
»Nun, einst lebte ich glücklich unter den Menschen meines Volkes und fühlte mich mitten unter ihnen wohl. Als kleines Kind wurde ich schützend vor der Brust getragen; ich fühlte mich stets geborgen und sicher. Zwar hatte ich von anderen Kindern gehört, die aufsässig geworden und zur Strafe ausgesperrt worden waren, hatte aber selbst nie etwas verbrochen, um eine solche Bestrafung zu verdienen. Ich kannte nur ein einziges Ziel: so zu werden wie alle anderen aus meinem Volk. Man unterwies mich in den Methoden der Erleuchtung, und so diente ich meinem Volk eine Zeit lang als ›Der Weise‹.
Später dann, die Menschen meines Volkes waren mit dem Grad meiner Erleuchtung und meiner aufgeschlossenen Art hoch zufrieden, machten sie mich zum Sprecher unserer Ortschaft. So bereiste ich die Orte in der näheren Umgebung und verkündete den einmütigen Glauben der Bewohner meines Heimatortes. In der gleichen Absicht bereiste ich auch unsere großen Städte. Aber am glücklichsten war ich immer dann, wenn ich zu Hause war, bei den Menschen, die mir am nächsten standen.
Ich verliebte mich in eine Frau aus meinem Ort; ihr Name war Marilee.« Owen, in seine Erinnerungen versunken, starrte vor sich hin. Richard hütete sich, ihn zu drängen, sondern wartete geduldig ab, bis er in seinem eigenen Tempo fortfuhr.
»Im Frühling vor etwas mehr als zwei Jahren verliebten wir uns beide glücklich ineinander. Marilee und ich verbrachten unsere Zeit damit, uns zu unterhalten, Händchen zu halten und, wann immer dies möglich war, inmitten all der anderen beieinander zu sitzen. Doch auch mitten unter den anderen hatte ich nur Augen für Marilee, und sie für mich.
Ebenso hatte ich im Beisein anderer immer das Gefühl, als wären wir, Marilee und ich, allein auf der Welt, und die Welt gehörte uns allein, und nur wir wären imstande, ihre ganze verborgene Schönheit zu erkennen. Natürlich ist es falsch, so zu empfinden; es ist eigensinnig, sich in seinem Herzen abzukapseln. Zu glauben, daß nur wir zu wahrer Erkenntnis fähig seien, ist sündhafter Stolz, aber wir waren einfach machtlos dagegen. Die Bäume blühten nur für uns, die Bäche murmelten nur für uns ihr Lied, der Mond ging allein für uns auf.« Owen schüttelte den Kopf. »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie das damals war... wie wir uns gefühlt haben.«
»Ich verstehe durchaus, wie das gewesen sein muß«, versicherte ihm Richard mit ruhiger Stimme.
Owen sah kurz zu ihm auf, ehe sein Blick zu Kahlan weiterwanderte, die ihm kurz bestätigend zunickte. Er runzelte verdutzt die Stirn, ehe er – vielleicht aus Schuldgefühlen, überlegte Kahlan – den Blick abwandte.
»Nun ja«, nahm Owen den Faden seiner Geschichte wieder auf, »ich war der Sprecher unseres Ortes – derjenige, der verkündet, was die Gemeinschaft für wahr und richtig befunden hat. Manchmal half ich auch anderen zu entscheiden, was gemessen an den Lehren einer fortgeschrittenen Kultur rechtens ist.« Owen machte eine abfällige, unsichere Handbewegung. »Wie gesagt, ich hatte meinem Volk einst als ›Der Weise‹ gedient, deshalb vertrauten die Leute mir.«
Richard nickte nur, ohne ihn zu unterbrechen, obwohl Kahlan deutlich spürte, daß ihm die Bedeutung mancher Einzelheiten aus Owens Erzählung ebenso rätselhaft war wie ihr. Der Tenor der Geschichte begann sich jedoch mehr als deutlich abzuzeichnen.
»Ich fragte Marilee, ob sie meine Frau werden wollte, ob sie mich heiraten würde. Sie erwiderte, dies sei der glücklichste Tag ihres Lebens, weil ich gesagt hätte, ich wolle niemand anderen als sie allein. Als sie schließlich einwilligte, mich zu ihrem Ehemann zu nehmen, wurde es auch für mich der glücklichste Tag des Lebens.
Alle waren sehr zufrieden und glücklich. Wir waren beide sehr beliebt; alle schlossen uns lange beschützend in die Arme, um uns ihre Freude zu zeigen. Dann saßen wir mit den anderen zusammen, besprachen gemeinsam die Hochzeitspläne und beteuerten uns gegenseitig, wie glücklich wir alle seien, daß Marilee und ich eine Familie gründen und unsrer Gemeinde Kinder schenken würden.«
Owen starrte gedankenverloren in die Ferne. Fast schien es, als hatte er vergessen, daß er zu sprechen aufgehört hatte.
»Es wurde also eine glanzvolle Hochzeit?«, drängte Richard ihn nach einer Weile.
Owens Blick war noch immer in die Ferne gerichtet. »Dann kamen die Soldaten der Imperialen Ordnung. In diesem Moment begriffen wir zum ersten Mal, daß die Sperre, die unser Volk vom Anbeginn der Zeit beschützt hatte, versagt haben mußte. Die Barriere, die uns behütet hatte, existierte nicht mehr. Unser Reich war den Barbaren schutzlos ausgeliefert.«
Kahlan wußte, daß sie durch ihr Tun den Fall der Grenze ausgelöst hatte, was diese Menschen ihres Schutzes beraubt hatte. Sie hatte damals keine andere Wahl gehabt, aber das machte es für sie nicht eben leichter, sich seine Geschichte anzuhören.
»Sie kamen in unseren Ort, wo ich mittlerweile Sprecher war. Unser Ort ist, wie andere auch, auf allen Seiten von einem Schutzwall umgeben. Die Menschen, von denen wir unseren Namen, Bandakar, haben, hatten einst auf dieser Bauweise der Ortschaften bestanden, und das war klug von ihnen, denn diese Wälle schützen uns vor den Tieren des Waldes und geben uns Sicherheit, ohne daß wir diesen Kreaturen ein Leid antun müßten.
Die Soldaten der Imperialen Ordnung schlugen unmittelbar außerhalb unseres Schutzwalls ihr Lager auf. Im Ort selbst hätte es im Grunde auch gar nicht genug Platz für sie gegeben – wir verfügen gar nicht über die nötigen Unterkünfte für so viele Menschen, da wir nie so viele Besucher aus anderen Ortschaften bei uns zu Gast haben. Schlimmer aber war, daß mir überhaupt nicht wohl dabei war, Männer von diesem Äußeren mit uns zusammen unter einem Dach nächtigen zu lassen. Natürlich war es falsch, diese Ängste zu haben; das Unvermögen lag allein bei mir und nicht bei ihnen, ich weiß, trotzdem vermochte ich dieses Unbehagen nicht abzulegen.
Als Sprecher meines Ortes ging ich mit Speisen und Geschenken beladen hinaus zu ihrem Lager – erfüllt vom Gefühl meines eigenen Unvermögens, weil ich mich doch vor ihnen fürchtete. Diese Soldaten waren wahre Hünen, manche hatten langes dunkles Haar, fettig und verfilzt, einige hatten sich den Schädel kahl geschoren, nicht wenige trugen völlig verdreckte, ungepflegte Bärte – nicht einer hatte, wie bei uns üblich, sonnig-goldenes Haar. Der Anblick ihrer Kleidung aus Tierhäuten, Lederplatten, Ketten und Metall sowie aus mit Dornen versehenen Riemen war ein Schock. An ihren Gürteln trugen sie brutal aussehende Werkzeuge, wie ich sie mir mein Lebtag nicht vorzustellen vermocht hatte, die jedoch, wie ich später erfuhr, Waffen waren.
Ich erklärte diesen Fremdlingen, sie seien herzlich dazu aufgefordert, unser Hab und Gut mit uns zu teilen, und daß wir sie höflich und mit Respekt behandeln würden. Dann lud ich sie ein, sich zu uns zu setzen und sich mit uns auszutauschen.«
Alle warteten schweigend; niemand wollte Owen unterbrechen.
»Aber die Soldaten der Imperialen Ordnung dachten gar nicht daran, sich zu uns zu setzen; offenbar hatten sie auch nicht vor, sich mit uns auszutauschen. Obwohl ich zu ihnen gesprochen hatte, führten sie sich auf, als sei ich ihrer Beachtung gar nicht wert; statt dessen musterten sie mich feixend, so als hatten sie die Absicht, mich zu verspeisen.
Ich versuchte, ihnen ihre Ängste zu nehmen, schließlich ist es doch stets die Angst vor dem Fremden, die zu Feindseligkeiten führt. Ich versicherte den Soldaten, wir seien friedliche Menschen, die ihnen nichts Böses wollten, und daß wir alles in unserer Macht stehende tun würden, um sie bei uns aufzunehmen.
Dann wandte sich der Mann, der offenbar ihr Sprecher war und sich ihr Kommandant nannte, an mich. Er teilte mir mit, seine Name sei Luchan. Er war in den Schultern doppelt so breit wie ich, dabei keineswegs größer. Dieser Luchan behauptete nun, mir nicht zu glauben. Ich war schockiert, als ich das hörte. Er behauptete, er glaube, mein Volk wolle ihm Böses, und beschuldigte uns, seine Soldaten umbringen zu wollen. Ich war erschüttert, daß er so über uns dachte, insbesondere, nachdem ich ihm soeben erklärt hatte, er und seine Männer seien herzlich bei uns willkommen. Ich war entsetzt zu hören, ich hätte ihm durch mein Verhalten zu verstehen gegeben, wir seien eine Bedrohung für ihn und seine Männer, und versicherte ihm von neuem, es sei unsere erklärte Absicht, uns ihnen gegenüber friedlich zu verhalten.
Da lächelte mich Luchan an – mit einem so vollkommen freudlosen Lächeln, wie ich es noch nie gesehen hatte. Er erklärte, er werde unsere Ortschaft niederbrennen und alle Einwohner umbringen, um zu verhindern, daß wir seine Männer im Schlaf überfielen. Ich flehte ihn an, er möge mir doch bitte glauben, daß wir friedfertig seien, und forderte ihn auf, sich zu uns zu setzen und uns seine Sorgen mitzuteilen, damit wir alles Erforderliche tun könnten, um seine Zweifel zu zerstreuen und ihm zu beweisen, daß wir ihn liebten, weil er doch unser Mitmensch sei.
Darauf erwiderte Luchan, er werde unsere Stadt doch nicht niederbrennen und alle Einwohner töten – allerdings unter einer Bedingung, wie er es nannte. Er sagte, er sei bereit, mir zu glauben, wenn ich ihm meine Frau zum Beweis meiner Aufrichtigkeit und meines guten Willens überließe. Dann fügte er noch hinzu, sollte ich sie hingegen nicht zu ihm schicken, wäre alles, was danach geschähe, meine Schuld, fiele alles auf mich zurück, weil ich mich geweigert hätte, mit ihnen zu kooperieren, und nicht bereit gewesen sei, ihnen meine Aufrichtigkeit und meinen guten Willen zu beweisen.
Ich ging zurück, um zu hören, was meine Leute dazu zu sagen hätten. Alle waren sich sofort einig und erklärten, ich müsse es tun – ich müsse Marilee zu den Soldaten der Imperialen Ordnung schicken, damit sie unseren Ort nicht niederbrannten und uns alle töteten. Ich bat sie, keine vorschnellen Entscheidungen zu treffen, und schlug statt dessen vor, die Tore im Wall zu schließen, um zu verhindern, daß die Soldaten kämen und uns Schaden zufügten. Darauf erklärten sie, daß Männer wie diese gewiß einen Weg finden würden, den Wall zu durchbrechen, und dann würden sie alle ermorden, weil wir sie mit unserer Scheinheiligkeit beleidigt hätten. Alle hoben erregt ihre Stimmen und bestimmten, ich müsse diesem Luchan meinen guten Willen beweisen und ihm die Angst vor uns nehmen.
Noch nie hatte ich mich unter meinen Leuten so allein gefühlt. Der Meinung aller konnte ich nicht zuwiderhandeln, denn nach unserer Lehre besitzt nur die geeinte Stimme des ganzen Volkes die nötige Weisheit, um über das einzig wahre Vorgehen zu befinden. Ein Einzelner vermag nicht zu entscheiden, was richtig ist und was nicht. Nur durch Einmütigkeit wird eine Entscheidung richtig.
Zu guter letzt stand ich mit zitternden Knien vor Marilee und hörte mich fragen, ob sie wolle, daß ich tue, was diese Soldaten – und die Bewohner unseres Orts – verlangten. Ich erklärte mich sogar bereit, mit ihr zusammen fortzulaufen, wenn sie dies wünschte. Daraufhin erklärte sie mir unter Tränen, dieses sündige Gerede wolle sie aus meinem Mund nicht hören, da es nur den Tod aller zur Folge haben könne.
Sie müsse, fuhr sie fort, zu diesen Soldaten der Imperialen Ordnung hinausgehen und sie besänftigen, da es sonst unweigerlich zu Gewalttätigkeiten kommen werde. Sie versprach, ihnen von unserem friedfertigen Wesen zu erzählen und sie uns gegenüber milde zu stimmen.
Ich war sehr stolz auf Marilee, daß sie bereit war, die nobelsten Werte unseres Volkes hochzuhalten – und wäre am liebsten gestorben, weil ich stolz auf etwas war, wodurch ich sie verlieren würde.
Unfähig, meine Tränen zu unterdrücken, küßte ich Marilee ein letztes Mal. Ich hielt sie in meinen Armen, während wir gemeinsam unseren Tränen freien Lauf ließen.
Dann brachte ich sie hinaus zu ihrem Kommandanten, zu diesem Luchan. Er hatte einen dichten schwarzen Bart einen kahlgeschorenen Schädel und trug, jeweils in einem Ohr und Nasenflügel, einen Ring. Er erklärte, ich hätte eine kluge Entscheidung getroffen. Seine sonnengebräunten Arme waren fast so dick wie Marilees Taille. Mit seiner großen, dreckigen Hand packte er Marilee beim Arm und schleifte sie hinter sich her, während er sich zu mir herumdrehte, um mir zuzurufen, ich solle mich wieder zurück in meinen Ort zu meinen Leuten, scheren. Unter dem Gelächter seiner Männer lief ich die Straße zurück.
Die Soldaten der Imperialen Ordnung verschonten unseren Ort und mein Volk; wir hatten einen Frieden errungen, von mir um den Preis meiner Frau Marilee erkauft.
Aber in meinem Herzen gab es keinen Frieden mehr.
Dann verschwanden die Soldaten der Imperialen Ordnung für eine gewisse Zeit aus unserem Ort, bis sie eines Nachmittags plötzlich zurückkehrten und riefen, ich solle zu ihnen herauskommen. Ich erkundigte mich bei Luchan nach Marilee, fragte, ob sie wohlauf und glücklich sei. Luchan drehte nur den Kopf zur Seite und spie aus, ehe er antwortete, das wisse er nicht – er habe sie nie danach gefragt. Ich war sehr besorgt und fragte, ob sie mit ihm über unser friedfertiges Wesen gesprochen und ihm versichert habe, daß wir ihm und seinen Männern gegenüber keine bösen Absichten verfolgten. Er erwiderte nur, wenn er mit Frauen zusammen sei, interessiere er sich nicht für ihr Geschwätz.
Dabei zwinkerte er mir zu. Ich hatte noch nie jemanden auf diese Weise zwinkern sehen, trotzdem wußte ich sofort, was er mir damit zu verstehen geben wollte.
Ich hatte große Angst um Marilee, ermahnte mich aber, daß nichts wirklich sei und daß ich allein vom Hörensagen nicht wirklich etwas wissen könne. Ich hatte doch nur diesen einen Mann seine Sicht der Dinge darstellen hören und war mir darüber im Klaren, daß ich stets nur einen Teil der Wirklichkeit mit meinen Sinnen aufzunehmen imstande war. Mit Augen und Ohren allein war die Wirklichkeit für mich nicht schlüssig zu erkennen.
Dann verlangte Luchan, ich solle die Stadttore öffnen, da sie andernfalls annehmen müßten, wir verhielten uns ihnen gegenüber feindselig. Wenn wir seiner Aufforderung nicht Folge leisteten, setzte er noch hinzu, werde dies einen Kreislauf der Gewalt auslösen.
Ich lief zurück und wiederholte seine Äußerungen vor den um mich versammelten Ortsbewohnern. Sofort sprachen meine Leute mit vereinter Stimme und erklärten, wir müßten die Tore öffnen und die Soldaten in die Stadt hineinbitten, als Beweis, daß wir ihnen gegenüber keinerlei Feindschaft oder Vorurteile hegten.
So kam es, daß die Soldaten der Imperialen Ordnung durch die Tore, die wir sperrangelweit für sie aufgelassen hatten, in die Stadt strömten und sich fast alle Frauen, angefangen bei den jungen Mädchen, bis zu den alten Weibern, griffen. Ich stand bei den übrigen Männern und flehte sie an, unsere Frauen und uns in Frieden zu lassen, rief, wir hätten ihren Forderungen, zum Beweis, daß wir ihnen kein Übel wollten, doch zugestimmt, aber es nützte nichts. Sie hörten uns nicht einmal an.
Schließlich beschwerte ich mich bei Luchan, ich hatte ihm Marilee als seine Bedingung für den Frieden überlassen, und verlangte, er und seine Männer müßten sich an ihre eigenen Abmachungen halten. Darauf lachten Luchan und seine Männer nur.
Ich vermag nicht zu entscheiden, ob das, was ich daraufhin sah, wirklich war oder nicht. Was Wirklichkeit ist, liegt im Reich des Schicksals; wir, hier an diesem Ort, den wir als die Welt zu kennen glauben, können sie unmöglich in ihrer ganzen Wahrhaftigkeit erfassen. An jenem Tag brach das Schicksal über mein Volk herein; ein Schicksal, auf das wir keinerlei Einfluß hatten. Wir wissen nur, daß es zwecklos ist, gegen das Schicksal anzukämpfen, denn es ist bereits durch die wahre Wirklichkeit, die wir nicht zu erkennen vermögen, vorherbestimmt.
Unsere Frauen wurden verschleppt – vor meinen Augen. Tatenlos mußte ich zusehen, wie sie unsere Namen schrien und die Hände nach uns ausstreckten, während die hünenhaften Soldaten unsere Frauen mit ihren kräftigen Armen gepackt hielten und sie von uns fortschleiften. Noch nie hatte ich Menschen so schreien hören wie an jenem Tag.«
Die tief hängende Wolkendecke sah aus, als wollte sie jeden Augenblick die Wipfel der Bäume streifen. In der bedrückenden Stille hörte Kahlan irgendwo zwischen den Föhren einen Vogel singen. Owen war weit weg, allein in der einsamen Welt seiner grauenhaften Erinnerungen. Richard stand da, die Arme vor der Brust verschränkt, und betrachtete ihn, sagte aber nichts.
Schließlich fuhr Owen fort. »Anschließend begab ich mich in andere Ortschaften. In einigen war mir die Imperiale Ordnung bereits zuvorgekommen und hatte dort mehr oder weniger das Gleiche angerichtet wie in meinem Heimatort: Sie hatten die Frauen verschleppt. Andernorts hatten sie sogar Männer mitgenommen.
Wieder andere Orte, die ich aufsuchte, waren bis zu diesem Zeitpunkt von der Imperialen Ordnung verschont geblieben. Als Sprecher meines Ortes berichtete ich den Menschen dort, was meinem Heimatort widerfahren war, und drängte sie, entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Doch sie reagierten nur erbost und erklärten mir, es sei falsch, Widerstand zu leisten, denn Widerstand bedeute, der Gewalt Tür und Tor zu öffnen, bis man nicht mehr besser sei als diese Barbaren. Sie bedrängten mich, von meiner unverblümten Sichtweise Abstand zu nehmen und mich statt dessen an die Weisheit der geeinten Stimme unseres Volkes zu halten, die uns Erleuchtung und tausendjährigen Frieden gebracht habe. Man versuchte mir weiszumachen, daß ich die Vorfälle mit meiner begrenzten Sichtweise betrachtete, statt auf das größere Urteilsvermögen der Gruppe zu vertrauen.
Anschließend begab ich mich in eine unserer großen Städte und berichtete dort, die Sperre am Paß sei zerstört worden, die Truppen der Imperialen Ordnung seien im Begriff, in unser Land einzufallen, und daß etwas getan werden müsse. Ich flehte sie an, mir Gehör zu schenken und zu überlegen, was wir zum Schutz unseres Volkes unternehmen könnten.
Mein unbedachtes, bestimmtes Auftreten hatte zur Folge, daß mich die Versammlung der Sprecher zu ihrem Weisen brachte, damit ich dort seinen Rat einholen könne. Es gilt als große Ehre, einen Ratschlag des Weisen zu erhalten. Der Weise erklärte mir, um der Gewalt ein Ende zu bereiten, müsse ich denen, die meinem Volk diese Greuel angetan hatten, vergeben.
Der Zorn und die Feindseligkeit, die die Soldaten der Imperialen Ordnung an den Tag legten, sei nur Ausdruck ihrer inneren Zerrissenheit, eine Art Hilferuf, weswegen man ihnen mit Mitgefühl und Verständnis begegnen müsse. Diese klaren Worte, wie sie nur aus dem Munde eines Weisen kommen konnten, hätten mich mit Demut erfüllen sollen, doch statt dessen ließ ich mich von dem Wunsch leiten, Marilee und all die anderen aus der Gewalt dieser Männer zu befreien, und forderte die Sprecher auf, mir dabei zu helfen.
Darauf erwiderte der Weise, Marilee werde auch ohne mich ihr Glück finden, und daß ich mich der Selbstsucht schuldig machte, wenn ich sie für mich allein beanspruchte. Die anderen, fuhr er fort, habe das Schicksal ereilt, und diesem Forderungen zu stellen, stünde mir nicht zu.
Ich versicherte den Sprechern und dem Weisen, die Soldaten der Imperialen Ordnung hätten sich nicht an die von Luchan für die Auslieferung Marilees getroffene Abmachung gehalten. Darauf erwiderte der Weise, Marilee habe recht gehandelt, im Frieden zu diesen Soldaten zu gehen, denn dadurch sei der Kreislauf der Gewalt durchbrochen worden. Ich dagegen würde mich des Eigennutzes und der Sünde schuldig machen, wenn ich mein persönliches Anliegen wichtiger nähme als den Frieden, für den sie sich selbstlos geopfert habe, und daß mein Benehmen gegenüber diesen Männern ihre Verärgerung vermutlich erst provoziert habe.
Darauf erklärte ich dem Weisen vor allen anderen Sprechern, ich hatte keineswegs die Absicht, diesen Männern zu verzeihen oder sie mit offenen Armen aufzunehmen, sondern wolle sie aus unserem Leben jagen. Und so wurde ich öffentlich bloßgestellt.«
Richard reichte Owen einen Becher Wasser, sagte aber noch immer nichts. Owen nippte daran, ohne auch nur hinzusehen.
»Schließlich trug die Versammlung der Sprecher mir auf, in meinen Heimatort zurückzukehren und den Rat meiner dortigen Mitbürger zu suchen, um wieder zu unseren Sitten und Gebräuchen zurückzufinden. Dies tat ich, fest entschlossen, mich auszusöhnen, mußte jedoch feststellen, daß mittlerweile alles noch viel schlimmer geworden war.
Denn in der Zwischenzeit war die Imperiale Ordnung zurückgekommen und hatte sämtliche Nahrungsmittel und Waren, die sie begehrten, aus der Stadt geschafft. Wir hätten ihnen, was immer sie verlangten, ja gerne freiwillig überlassen, doch sie haben nicht einmal gefragt, sondern sich einfach nur bedient. Zudem waren mittlerweile weitere männliche Ortsbewohner verschleppt worden – ein paar Knaben sowie einige der jüngeren, kräftigeren Männer. Andere, die die Soldaten der Imperialen Ordnung durch irgend etwas in ihrer Ehre gekränkt hatten, hatte man getötet.
Leute, die ich kannte, starrten leeren Blicks auf die Blutlachen, wo unsere Freunde umgekommen waren. An manchen dieser Stellen kamen die Ortsbewohner zusammen, um das Blut mit Erinnerungsstücken an die Verstorbenen zu bedecken. Diese Orte waren zu heiligen Gedenkstätten geworden, wo die Leute niederknieten, um zu beten. Überall hörte man Kinder weinen. Es gab niemanden mehr der noch bereit gewesen wäre, mir einen Rat zu geben.
Alle hatten sich zitternd hinter ihren Haustüren verbarrikadiert, aber sobald die Soldaten der Imperialen Ordnung anklopften, schlugen sie die Augen nieder und öffneten, um sie nicht noch zusätzlich zu kränken.
Ich hielt es nicht länger in unserem Ort aus und floh hinaus aufs Land, obwohl ich schrecklich Angst hatte, dort ganz auf mich gestellt zu sein. Aber dort draußen in den Hügeln stieß ich auf andere Männer, die ebenso egoistisch waren wie ich und die sich aus Angst um ihr Leben dort versteckt hielten. Gemeinsam beschlossen wir, etwas zu unternehmen und dem Elend ein Ende zu machen. Wir beschlossen, den Frieden wiederherzustellen.
Zuerst schickten wir Abgesandte los, die mit den Männern der Imperialen Ordnung sprechen und ihnen versichern sollten, daß wir ihnen kein Leid zufügen und mit ihnen in Frieden leben wollten; sie sollten in Erfahrung bringen, was wir tun konnten, um sie zufrieden zu stellen. Die Männer der Imperialen Ordnung hängten sie an unweit unserer Ortschaft aufgestellten Pfählen an den Fußgelenken auf und häuteten sie bei lebendigem Leibe.
Es waren Männer darunter, die ich schon mein Leben lang kannte, die mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden, mit mir die Fastenzeit gebrochen hatten, die mich vor Freude über meine bevorstehende Hochzeit mit Marilee umarmt hatten. Die Soldaten der Imperialen Ordnung ließen diese Männer an ihren Fußgelenken schreiend in der sengenden Sommersonne hängen, bis die Riesenkrähen erschienen und sie fanden.
Ich ermahnte mich, daß das, was ich an jenem Tag dort sah, nicht wirklich sei und daß ich diesen Bildern nicht trauen dürfe, daß meine Augen mich womöglich als Bestrafung für meine unreinen Gedanken trogen und mein Verstand unmöglich wissen könne, ob diese Bilder wirklich waren oder nur ein Hirngespinst.
Nicht jeder, der ausgezogen war, um mit den Männern der Imperialen Ordnung zu sprechen, wurde umgebracht: einige schickte man mit einer Nachricht zu uns zurück. Darin hieß es, wenn wir nicht aus den Hügeln herabkämen – zum Beweis, daß wir nicht beabsichtigten, sie anzugreifen – und unter ihre Herrschaft in unseren Heimatort zurückkehrten, würden sie dazu übergehen, jeden Tag ein Dutzend Personen zu häuten, bis wir entweder als Zeichen unserer Friedfertigkeit zurückkehrten oder die Bewohnerschaft des Ortes bis auf den letzten Einwohner gehäutet wäre.
Viele von uns brachen in Tränen aus; die Vorstellung, Auslöser eines Teufelskreises der Gewalt zu sein, war für sie unerträglich, also kehrten sie zum Zeichen, daß sie nichts Böses im Schilde führten, in den Ort zurück.
Aber nicht alle folgten ihrem Beispiel; ein paar von uns blieben in den Hügeln. Da jedoch die meisten zurückkehrten und die Imperiale Ordnung unsere genaue Zahl nicht kannte, war man dort überzeugt, wir alle wären ihrer Aufforderung nachgekommen.
Die wenigen von uns, die in den Hügeln geblieben waren, ernährten sich von den Nüssen, Früchten und Beeren, die wir fanden, oder von den Nahrungsmitteln, die wir auf unseren heimlichen Raubzügen im Ort erbeuteten. Nach und nach legten wir so einen Vorrat an, der uns zu überleben half. Ich schlug den anderen Männern aus der Gruppe vor, in Erfahrung zu bringen, was die Imperiale Ordnung mit den Ortsbewohnern machte, die verschleppt worden waren. Da die Soldaten uns nicht persönlich kannten, konnten wir uns ab und zu unter die Leute mischen, die auf den Feldern arbeiteten oder die Tiere versorgten, und so unerkannt in unseren Ort zurückschleichen. Das ermöglichte es uns, die Soldaten während der nächsten Monate zu verfolgen und im Auge zu behalten.
Die Kinder waren fortgeschickt worden, die Frauen aber hatten sie an einen eigens für diesen Zweck errichteten Ort gebracht – ein Lager, wie sie es nannten –, das sie gegen Angriffe von außen befestigten.«
Wieder verbarg Owen sein Gesicht in den Händen, während er schluchzend weitersprach. »Sie mißbrauchten unsere Frauen als Zuchttiere. Ihr Ziel war es, sie Kinder gebären zu lassen – so viele wie nur irgend möglich –, Kinder, gezeugt von den Soldaten. Die meisten, die nicht bereits ein Kind unter dem Herzen trugen, wurden dort schwanger. In den folgenden anderthalb Jahren kamen zahllose Kinder zur Welt. Eine Zeit lang bekamen sie die Brust, anschließend wurden sie, nachdem ihre Mütter erneut geschwängert worden waren, samt und sonders fortgebracht.
Wohin diese Kinder verschleppt wurden, weiß ich nicht – auf jeden Fall außerhalb unseres Reiches. Auch die aus unseren Ortschaften verschleppten Männer wurden außerhalb unserer Reichsgrenzen verbracht.
Die Soldaten der Imperialen Ordnung bewachten ihre Gefangenen nicht eben aufmerksam, da unsere Leute jegliche Gewaltanwendung ablehnten. Deshalb konnten einige Männer in die Berge fliehen, wo sie schließlich zu uns stießen. Von ihnen erfuhren wir, daß die Soldaten sie den Frauen zugeführt und ihnen erklärt hatten, wenn sie nicht alle ihnen erteilten Befehle buchstabengetreu befolgten, würden sämtliche Frauen, die sie dort sahen, sterben – man werde sie bei lebendigem Leibe häuten. Die Geflohenen wußten weder, wohin man sie schaffen werde, noch was sie dort tun sollten, nur daß sie, wenn sie die ihnen erteilten Anweisungen nicht befolgten, schuld daran sein würden, daß man unseren Frauen Gewalt antat.
Nach anderthalb Jahren des Versteckens, in denen wir uns nur sporadisch mit anderen treffen konnten, erfuhren wir schließlich, daß die Imperiale Ordnung sich auch auf andere Teile unseres Reiches ausgebreitet und andere Ortschaften und Städte überfallen hatte. Der Weise und die Sprecher zogen sich in ein Versteck zurück. Wir fanden heraus, daß einige Ortschaften und Städte die Soldaten hinter ihre Umwallungen eingeladen und aufgefordert hatten, unter ihnen zu leben – es war ein Versuch, sie zu befrieden und zu verhindern, daß sie Unheil anrichteten.
Doch so sehr unsere Leute sich auch bemühten, es gelang ihnen trotz aller Zugeständnisse nicht, die Aggressivität der Soldaten der Imperialen Ordnung zu besänftigen. Warum dies so war, entzog sich unserem Verständnis.
In einigen der größeren Städte jedoch war die Lage anders. Die Menschen dort hatten auf die Sprecher der Imperialen Ordnung gehört und waren zu der Überzeugung gelangt, daß die Ziele der Imperialen Ordnung sich mit den unseren deckten – nämlich, der Ungerechtigkeit und den Mißständen ein Ende zu bereiten. Die Imperiale Ordnung konnte diese Leute überzeugen, daß sie Gewalt ebenfalls verabscheute, daß sie ebenso erleuchtet war wie unser Volk, jedoch gezwungen war, zum Mittel der Gewalt zu greifen, um jene zu besiegen, die uns alle zu unterdrücken suchten. Die Ordensmänner gaben sich als Streiter für die Erleuchtung unseres Volkes aus. Die Menschen waren überglücklich, endlich in den Händen ihrer Erlöser zu sein, die allen Barbaren, die noch nicht zu einem Leben in Frieden gefunden hatten, die frohe Botschaft der Erleuchtung bringen würden.«
Richard konnte sich nicht länger zurückhalten. »Und nach all dieser Barbarei waren diese Leute noch immer bereit, den Versprechungen der Imperialen Ordnung Glauben zu schenken?«
Owen breitete die Hände aus. »Die Erklärungen der Imperialen Ordnung – daß sie denselben Idealen huldigten, nach denen auch wir lebten – hatten bei den Menschen in diesen Städten offenbar einen starken Eindruck hinterlassen. Sie erzählten den Einwohnern dieser Städte, sie seien nur deswegen so aufgetreten, weil mein Heimatort sowie einige andere sich auf die Seite der Barbaren aus dem Norden – und des d’Haranischen Reiches – geschlagen hätten.
Den Namen – d’Haranisches Reich – hatte ich bereits früher gehört. Ich hatte während der anderthalb Jahre, die ich zusammen mit den anderen versteckt in den Hügeln lebte, unser Land gelegentlich verlassen und die umliegenden Ortschaften aufgesucht, in der Hoffnung, etwas in Erfahrung zu bringen, das uns helfen könnte, die Imperiale Ordnung aus Bandakar zu vertreiben. Auf diesen Reisen außer Landes gelangte ich in einige Städte der Alten Welt, wie diese, erfuhr ich damals, genannt wurde. In einer dieser Städte, Altur’Rang, hörte ich die Einwohner hinter vorgehaltener Hand von einem hochgewachsenen Mann aus dem Norden erzählen, aus dem d’Haranischen Reich, der den Menschen den Frieden brächte.
Währenddessen besuchten einige meiner Gefährten andere Städte. Nach unserer Rückkehr tauschten wir uns darüber aus, was wir gesehen und gehört hatten. Alle Rückkehrer wußten dasselbe zu berichten: Sie hätten von einem gewissen Lord Rahl und seiner Gemahlin, der Mutter Konfessor, gehört, die gegen die Imperiale Ordnung kämpften.
Schließlich erfuhren wir auch, wo man den Weisen sowie unsere bedeutendsten Sprecher sicher untergebracht hatte: in unserer größten Stadt, einer Stadt, bis zu der die Imperiale Ordnung bis dahin noch nicht vorgedrungen war. Die Soldaten waren noch in anderen Orten beschäftigt und hatten es offenbar nicht eilig. Und mein Volk hatte ohnehin nicht die Absicht, sich an einen anderen Ort zu begeben, es hätte ja auch gar nicht gewußt, wohin.
Meine Begleiter wollten mich zu ihrem Sprecher machen, damit ich mit den anderen Großen Sprechern rede, um sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß wir etwas gegen die Imperiale Ordnung unternehmen müßten, wenn wir sie aus Bandakar vertreiben wollten.
Also reiste ich in die große Stadt, eine Stadt, in der ich noch nie zuvor gewesen war, und war sofort begeistert, als ich sah, zu welch enormen Leistungen eine großartige Kultur wie die unsere fähig ist – eine Kultur, deren Vernichtung unmittelbar bevorstand, wenn es mir nicht gelang, die Großen Sprecher sowie den Weisen dazu zu bringen, einen Plan zu ersinnen, wie man der Imperialen Ordnung Einhalt gebieten konnte.
An diese Männer wandte ich mich und berichtete ihnen mit der größtmöglichen Eindringlichkeit von den Greueltaten der Imperialen Ordnung. Ich erzählte von meinen Gefährten, die ich versteckt hielt und die nur darauf warteten, daß man ihnen sagte, wie sie losschlagen sollten.
Die Großen Sprecher sagten, ich könne unmöglich allein von meinem persönlichen Eindruck und dem einiger weniger anderer auf das wahre Wesen der Imperialen Ordnung schließen – diese Soldaten seien Angehörige eines riesigen Volkes, von dem wir nur einen winzigen Ausschnitt zu Gesicht bekommen hätten. Im Übrigen sei es völlig unmöglich, fuhren sie fort, derartige Greueltaten zu begehen, da man, noch ehe man sie vollendet hatte, sich vor Grauen abwenden müsse. Zum Beweis schlugen sie mir vor, einen von ihnen zu häuten. Ich mußte zugeben, daß ich dazu nicht fähig war, war jedoch nicht davon abzubringen, daß ich die Soldaten genau das hatte tun sehen.
Die Sprecher wiesen meine beharrliche Behauptung, das Gesehene sei wirklich gewesen, empört zurück; schließlich dürfe ich niemals vergessen, daß sich die Wirklichkeit unserer Erkenntnis entziehe. Vermutlich, so argumentierten sie, hätten diese Soldaten lediglich befürchtet, wir seien ein gewalttätiges Volk, und wollten, indem sie uns glauben machten, die dargestellten Dinge entsprächen der Wirklichkeit, nur unsere Festigkeit auf die Probe stellen, um zu sehen, wie wir darauf reagierten – ob wir tatsächlich so friedliebend wären oder sie angreifen würden.
Demnach könne ich also gar nicht wissen, ob all die Dinge, die ich gesehen zu haben meinte, die Wirklichkeit waren, und selbst wenn, könne ich nicht wissen, ob sie etwas Gutes oder Schlechtes verhießen. Es stünde mir wohl kaum zu, die Beweggründe von Fremden zu beurteilen, die ich nicht einmal kenne, zumal dies ein Zeichen von Überheblichkeit sei und diese wiederum der Beweis für meine feindselige Voreingenommenheit.
Unterdessen konnte ich nur an das Grauen denken, das ich gesehen hatte, an meine Gefährten in den Hügeln, die mit mir einer Meinung waren, daß wir die Großen Sprecher davon überzeugen mußten, etwas zur Rettung unseres Reiches zu unternehmen. Immer wieder sah ich das Gesicht Luchans vor mir und stellte mir vor, daß Marilee sich in der Gewalt dieses Schurken befand. Ich dachte an das Opfer, das sie gebracht hatte, und daß sie ihr Leben vergeblich diesem Grauen geopfert hatte.
Also trat ich vor die Großen Sprecher hin und schrie sie an, sie seien ein Unglück für unser Volk.«
Cara prustete vor Lachen. »Offenbar bist du also doch in der Lage zu erkennen, was wirklich ist, du mußt dir bloß richtig Mühe geben.«
Richard warf ihr einen vernichtenden Seitenblick zu.
Owen hob den Kopf und blinzelte ihn verständnislos an. Beim Erzählen seiner Geschichte war er in Gedanken so weit abgedriftet, daß er ihre Bemerkung gar nicht mitbekommen hatte. Er sah zu Richard hoch.
»Das war der Augenblick, da man mich des Landes verwies.«
»Aber die Absperrung der Grenze hatte doch schon einmal versagt«, erwiderte Richard. »Du hattest den Paß selbst schon in beiden Richtungen durchquert. Wie konnten sie deine Verbannung durchsetzen, wenn die Grenze bereits gefallen war?«
Owen machte eine wegwerfende Handbewegung. »Auf diesen Todeswall sind sie nicht angewiesen. In gewisser Hinsicht kommt die Verbannung einem Todesurteil gleich – einem Todesurteil als Bürger Bandakars. Mein Name war schlagartig im ganzen Reich – zumindest in dem noch verbliebenen Teil – bekannt, und alle Menschen würden mich fortan meiden. An jeder Tür würde ich abgewiesen werden; schließlich war ich ein Verbannter. Niemand würde etwas mit mir zu tun haben wollen, ich war fortan ein Ausgestoßener, daß sie mich nicht hinter die Barriere verbannen konnten, spielte dabei keine Rolle; ich war ein Verstoßener meines Volkes, und das war weitaus schlimmer.
Also kehrte ich zu meinen Gefährten in den Hügeln zurück, um meine Siebensachen zusammenzusuchen und ihnen zu beichten, daß man mich verbannt hatte. Ich war entschlossen, unsere Heimat für immer zu verlassen, wie es dem Willen unseres Volkes, vertreten durch unsere Großen Sprecher, entsprach.
Aber meine Kameraden in den Hügeln wollten mich nicht ziehen lassen. Sie fanden meine Verbannung ungerecht. Sie hatten dieselben Dinge gesehen wie ich; sie alle hatten Ehefrauen, Mütter, Töchter und Schwestern, die verschleppt worden waren. Sie alle hatten mit eigenen Augen gesehen, wie ihre Freunde ermordet, wie andere bei lebendigem Leibe gehäutet worden und eines qualvollen Todes gestorben waren, sie hatten die Riesenkrähen über ihnen kreisen sehen, nachdem man sie an diesen Pfählen aufgehängt hatte. Und so erklärten sie, da unser aller Augen dasselbe gesehen hatten, könnten diese Dinge nur wahr und somit die Wirklichkeit sein.
Die Liebe zu unserem Land und der feste Wille, den Frieden, den wir einst besaßen, wiederherzustellen, hätten uns in die Hügel gehen lassen, erklärten sie. Nicht wir, sondern die Großen Sprecher seien es, deren Augen blind für die Wirklichkeit seien. Sie würden unser Volk dazu verdammen, sich von diesen Barbaren abschlachten zu lassen, und alle übrigen, die unter der grausamen Herrschaft der Imperialen Ordnung ein grauenvolles Dasein fristeten, dazu verurteilen, sich als Zuchttiere oder als Sklaven mißbrauchen zu lassen.
Ich war völlig entgeistert zu hören, daß diese Männer mich trotz meiner Verbannung nicht abwiesen, sondern wollten, daß ich weiter bei ihnen bliebe.
Also faßten wir schließlich den Entschluß, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und schmiedeten einen Plan – jenen Plan, den zu beschließen wir eigentlich von den Großen Sprechern erwartet hatten. Als ich wissen wollte, wie er denn aussehen müßte, bekam ich von allen die gleiche Antwort.
Alle erklärten, wir müßten diesen Lord Rahl überreden, herzukommen und uns die Freiheit zu schenken. In diesem Punkt herrschte Einigkeit.
Dann beratschlagten wir, wie wir vorgehen wollten. Einige waren der Meinung, ein Mann wie Lord Rahl würde auf unsere Bitte hin sofort kommen und die Imperiale Ordnung verjagen; andere vertraten die Ansicht, Ihr könntet, da Ihr nicht erleuchtet, kein Angehöriger unseres Volkes und nicht mit unseren Gebräuchen vertraut seid, möglicherweise abgeneigt sein. Nach eingehender Beratung kamen wir schließlich zu dem Entschluß, daß wir einen Weg finden müßten, wie wir Euch selbst im Fall einer abschlägigen Antwort zwingen konnten herzukommen.
Ich erklärte, als Verbanntem falle diese Aufgabe mir zu, da ich, wenn es uns nicht gelänge, die Imperiale Ordnung zu vertreiben und wieder zu unseren alten Sitten und Gebräuchen zurückzukehren, ohnehin keine Zukunft mehr in unserem Volk hätte. Ich wisse zwar nicht, wo ich Euch finden könne, würde aber nicht aufgeben, ehe es mir gelungen sei.
Zuvor jedoch bereitete einer von ihnen, ein älterer Mann, der sich sein Leben lang mit Kräutern und Heilmitteln beschäftigt hatte, das Gift zu, das ich später in Euren Wasserschlauch füllte. Das Gegenmittel stammt ebenfalls von ihm. Er erklärte mir die Wirkungsweise des Gifts und wie sie sich wieder aufheben ließe, schließlich wollte keiner von uns einen Mord riskieren, selbst dann nicht wenn es einen Unerleuchteten traf.«
Richards Seitenblick gab Kahlan deutlich zu verstehen, daß sie sich hüten sollte, irgendeine Bemerkung von sich zu geben, so schwer ihr das auch fallen mochte. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen.
»Sorgen bereitete mir allerdings, wie ich Euch finden sollte«, fuhr Owen, an Richard gewandt, fort, »ich wußte nur, ich hatte keine andere Wahl. Bevor ich mich jedoch auf die Suche nach Euch machen konnte, mußte ich noch, wie unser Plan es vorsah, den Rest des Gegenmittels verstecken.
Während eines Aufenthalts in einer Stadt, die die Imperiale Ordnung bereits auf ihre Seite gezogen hatte, hörte ich auf dem Markt einige Leute erzählen, der Abgesandte des Ordens für ihre Stadt sei der bedeutendste Vertreter der Imperialen Ordnung in ganz Bandakar. Sofort kam mir der Gedanke, daß dieser Mann etwas über den in der Imperialen Ordnung meistgehaßten Mann – Lord Rahl – wissen könnte.
Ich verweilte mehrere Tage in der Stadt und beobachtete das Gebäude, in dem dieser Mann sich angeblich aufhielt. Ich sah Soldaten ein- und ausgehen, sah sie bisweilen Personen in das Gebäude bringen, die es später wieder verließen.
Eines Tages sah ich wieder Leute herauskommen, und da man ihnen allem Anschein nach nichts angetan hatte, stellte ich mich unmittelbar neben sie, um zu hören, was sie sich zu erzählen hatten. Sie unterhielten sich darüber, daß sie dem großen Mann persönlich begegnet seien. Einzelheiten über ihren Besuch im Innern des Hauses konnte ich zwar nicht in Erfahrung bringen, aber niemand erwähnte etwas davon, ihm sei ein Leid zugefügt worden.
Dann sah ich die Soldaten das Gebäude wieder verlassen und vermutete, sie wollten sich auf die Suche nach weiteren Personen machen, um sie in das Gebäude zu bringen und diesem großen Mann vorzuführen. Also begab ich mich noch vor ihnen zu einem zentralen Sammelplatz und wartete dort in der Nähe der freien Gänge zwischen den für die Allgemeinheit bestimmten Bänken. Als die Soldaten auf den Platz stürmten und eine kleine Gruppe von Personen zusammentrieben, ließ ich mich zusammen mit den anderen abführen.
Ich hatte fürchterliche Angst, was man mit mir machen würde, sah darin aber die einzige Möglichkeit, in das Gebäude und zu diesem wichtigen Mann vorzudringen, um herauszufinden, wie er aussah und wo er sich für gewöhnlich aufhielt, um später heimlich zurückschleichen und ihn belauschen zu können, wie ich es in den Hügeln bei meinen Gefährten gelernt hatte. Ich war entschlossen, etwas über diesen Lord Rahl in Erfahrung zu bringen, trotzdem zitterte ich vor Ungewißheit, als sie uns alle in das Gebäude brachten und durch Flure und Treppenhäuser ins oberste Stockwerk führten. Mir war, als würde ich zur Schlachtbank getrieben.
Durch eine schwere Tür wurden wir in einen schlecht beleuchteten Raum geleitet, der meine Befürchtungen zu bestätigen schien, denn dort stank es überall nach Blut. Die Fenster an zweien der Wände dieses kahlen Raumes waren mit Läden verschlossen. Auf der gegenüberliegenden Seite sah ich einen Tisch mit einer breiten Schale darauf, und gleich daneben eine Reihe dicker, scharf zugespitzter Holzpfähle, die mir fast bis zur Brust reichten. Sie waren dunkel von getrocknetem Blut und anderen Körperflüssigkeiten.
Zwei Frauen und ein Mann aus unserer Gruppe verloren das Bewußtsein. Vor lauter Wut überhäuften die Soldaten ihre Köpfe mit Fußtritten. Als sie sich darauf nicht wieder erhoben, wurden sie von den Soldaten an den Armen fortgeschleift. Auf dem Fußboden hinter ihnen blieben blutige Streifen zurück. Da ich nicht die Absicht hatte, mir den Schädel von einem dieser abscheulichen Soldaten mit dem Stiefel eintreten zu lassen, beschloß ich, besser nicht in Ohnmacht zu fallen.
Plötzlich rauschte, einem eisigen Windhauch gleich, ein Mann in den Raum. Noch nie hatte mir jemand solche Angst eingejagt wie dieser Mann – nicht einmal Luchan. Er war mit einem Gewand aus unzähligen übereinander genähten Stoffstreifen bekleidet, die flatternd jeder seiner Bewegungen folgten. Sein pechschwarzes, mit Öl geglättetes und glänzendes Haar war streng nach hinten gekämmt, was seine ohnehin vorstehende Hakennase noch betonte. Die kleinen, schwarzen Augen waren rot gerändert. Als er mich mit diesen glänzenden Augen fixierte, mußte ich mich mit aller Macht daran erinnern, daß ich mir geschworen hatte, nicht in Ohnmacht zu fallen.
Während er unsere Reihe abschritt, maß er jeden von uns, einen nach dem anderen, mit abschätzendem Blick, so als wähle er sein Abendessen aus. Erst jetzt, als seine Finger unter seinem seltsamen Gewand zum Vorschein kamen und er mit einem flüchtigen Wink erst auf eine Person, dann auf eine weitere zeigte, bis er schließlich insgesamt fünf ausgewählt hatte, erkannte ich, daß seine Fingernägel exakt im selben Schwarz seiner Haare lackiert waren.
Auf einen Wink von ihm waren wir Übrigen entlassen. Sofort stellten sich die Soldaten zwischen die fünf Ausgewählten und uns und begannen, uns Richtung Tür zu drängen. In diesem Augenblick, noch ehe man uns durch die Tür nach draußen schieben konnte, betrat ein Kommandant mit zur Seite gebogener Nase, so als hätte er sie sich mehrfach gebrochen, den Raum und verkündete, der Bote sei eingetroffen. Der Mann mit dem pechschwarzen Haar fuhr sich mit den schwarzen Fingernägeln durch sein Haar und befahl dem Kommandanten, den Boten warten zu lassen – bis zum Morgen sei er im Besitz der neuesten Informationen.
Anschließend wurde ich zusammen mit den anderen aus der Gruppe aus dem Raum und die Treppe hinuntergeführt. Man schaffte uns nach draußen und befahl uns zu verschwinden, unsere Dienste wären nicht gefragt. Die Soldaten lachten, als sie dies sagten; ich entfernte mich rasch mit den anderen, um sie nicht unnötig zu verärgern. Sofort ging das Getuschel los, daß man dem großen Mann persönlich begegnet sei – ich dagegen hatte nur einen Gedanken: Was mochte mit diesen jüngsten Informationen gemeint sein, von denen er gesprochen hatte?
Später, nach Einbruch der Dunkelheit, schlich ich zurück und entdeckte an der Rückseite des Gebäudes, hinter einem Tor in einem hohen Holzzaun, ein schmales Hintergäßchen. Als es vollends dunkel war, schlüpfte ich hinein und versteckte mich in der Türnische des Hintereingangs zum Gebäude. Dahinter führten mehrere Flure ins Innere, von denen ich einen im Schein der Kerze wiedererkannte; ich war kurz zuvor bereits dort gewesen.
Es war mittlerweile spät, und die Flure waren menschenleer. Vorsichtig tastete ich mich tiefer in die Korridore vor, die zu beiden Seiten von Nischen und Zimmertüren gesäumt waren, doch wegen der späten Stunde ließ sich niemand blicken. Lautlos erklomm ich die Stufen und schlich auf Zehenspitzen bis vor die große, schwere Tür des Raumes, in den man mich zuvor gebracht hatte.
Dort schließlich, in dem dunklen Flur vor dieser schweren Tür, vernahm ich plötzlich Schreie, so grauenhaft, wie ich sie noch nie gehört hatte. Ich hörte Menschen unter Tränen um ihr Leben winseln, hörte sie weinend um Gnade betteln. Eine Frau flehte unablässig, man möge sie doch endlich töten, damit ihr Leiden ein Ende habe.
Ich glaubte schon, ich müßte mich übergeben oder in Ohnmacht fallen, ein Gedanke jedoch ließ mich lautlos in meinem Versteck verharren und verhinderte, daß ich, so schnell meine Beine mich trugen, die Flucht ergriff: der Gedanke, daß dieses Schicksal meinem ganzen Volke drohte, wenn ich ihm nicht beistand und diesen Lord Rahl herbeischaffte.
Die ganze Nacht harrte ich in der dunklen Nische des Flures gegenüber der mächtigen Tür aus und lauschte auf die unvorstellbaren Qualen, die diese armen Menschen über sich ergehen lassen mußten. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was dieser Unmensch ihnen antat, glaubte ich vor lauter Gram über ihre langsamen Qualen sterben zu müssen. Das qualvolle Stöhnen ebbte die ganze Nacht über nicht ab.
Zitternd, in Tränen aufgelöst, kauerte ich in meinem Versteck und redete mir ein, dies alles geschehe nicht wirklich, und vor etwas, das nicht wirklich sei, dürfe ich keine Angst haben. Vor meinem inneren Auge sah ich, welch unvorstellbare Qualen diese Menschen erlitten, aber ich versuchte mir einzureden, daß ich meine Phantasie über meine Sinne stellte – genau das, was man mir als falsch beigebracht hatte. Dann dachte ich an Marilee, an unsere gemeinsam verbrachte Zeit, und so gelang es mir schließlich, diese Geräusche, die nicht wirklich waren, auszublenden. Ich konnte nicht mehr unterscheiden, was wirklich war und was diese Geräusche tatsächlich bedeuteten.
In den frühen Morgenstunden kehrte der Kommandant, den ich zuvor bereits gesehen hatte, wieder zurück. Vorsichtig riskierte ich einen Blick aus meinem dunklen Versteck. Der Mann mit den pechschwarzen Haaren kam an die Tür; ich wußte, daß er es war, denn als er seinen Arm zur Tür hinausstreckte, um dem Kommandanten eine Schriftrolle zu übergeben, konnte ich seine schwarzen Fingernägel sehen.
Der Mann mit dem pechschwarzen Haar erklärte dem Kommandanten mit der schiefen Nase -›Najari‹ nannte er ihn –, er habe sie gefunden. Genau so drückte er sich aus: ›sie‹. Dann fuhr er fort: ›Sie haben es bis zum Ostrand der Wüste geschafft und sind jetzt auf dem Weg nach Norden.‹ Er trug dem Kommandanten auf, den Befehl sofort an den Boten weiterzugeben. Darauf erwiderte besagter Najari: ›Dann wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis Ihr sie in Eurer Gewalt habt, Nicholas, und es in unserer Macht steht, unseren Preis zu nennen.‹«