47

Richard ließ die Augen auf der Suche nach irgendwelchen Anzeichen für Truppen über die Stelle im hinteren Teil des weiten, grünen Tals wandern. Dann sah er Owen an.

»Das ist Witherton?«

Owen, die Hände in den weichen Waldboden am höchsten Punkt der niedrigen Anhöhe gepreßt, zog sich naher zum Rand vor und reckte den Hals, um über die Kante schauen zu können. Schließlich nickte er, ehe er sich wieder zurückschob.

Richard hatte es sich größer vorgestellt. »Ich kann keine Soldaten erkennen.«

Rückwärts kriechend entfernte sich Owen von der Kante. Erst im schützenden Schatten der Farne und des dichten Unterholzes richtete er sich wieder auf und klopfte sich die feuchten Blätterreste von Hemd und Hose.

»Die Soldaten der Imperialen Ordnung bleiben meistens im Ort, denn sie haben kein Interesse daran, bei der Arbeit zu helfen. Sie brauchen unsere Lebensmittelvorräte auf und zocken um die Sachen, die sie unseren Leuten abgenommen haben. Wenn sie damit beschäftigt sind, interessieren sie sich kaum noch für etwas anderes.« Sein Gesicht wurde rot vor Zorn. »Früher haben sie nachts einige unserer Frauen geholt.« Da mehr als offenkundig war zu welchem Zweck, verzichtete Owen auf eine nähere Erklärung. »Manchmal kamen sie tagsüber, um nach unseren Leuten zu sehen, die auf den Feldern arbeiteten, oder um sich zu vergewissern, daß abends alle wieder in den Ort zurückkehrten.«

Falls die Soldaten einst außerhalb der Umwallung des Ortes gelagert hatten, so hatte sich das jetzt geändert; offenbar zogen sie die bequemeren Unterbringungsmöglichkeiten in der Ortschaft selbst vor. Sie hatten gelernt, daß diese Leute keinerlei Widerstand leisteten; Worte genügten, um sie einzuschüchtern und zu beherrschen. Die Soldaten der Imperialen Ordnung konnten völlig gefahrlos mitten unter ihnen nächtigen.

Der Wall, der Witherton urngab, versperrte Richard größtenteils die Sicht auf den eigentlichen Ort; außer durch die offenen Tore war nicht viel zu erkennen. Er war aus senkrechten Pfählen, unwesentlich höher als ein erwachsener Mann, errichtet worden. Die Pfähle selbst, von unterschiedlichem Durchmesser, nie jedoch mächtiger als handbreit, waren am oberen und unteren Ende fest mit Stricken vertäut. Der Schutzwall wand sich, mal nach innen, mal nach außen geneigt, in einer Schlangenlinie um die gesamte Ortschaft. Vor dem Wall gab es kein Bollwerk, nicht einmal einen Graben. Außer als Schutz gegen äsendes Rotwild oder vielleicht einen streunenden Bären bot der Wall kaum Schutz – gewiß nicht genug, um einem Angriff der Soldaten der Imperialen Ordnung standzuhalten.

Zweifellos hatten die Soldaten ganz andere Gründe als die Stärke des Befestigungswalls dazu bewogen, die Ortschaft durch die Tore zu betreten; das Öffnen der Tore war ein Symbol der Unterwerfung gewesen.

Weite Teile des Tales wiesen keinerlei Baumbestand auf, so daß, neben den säuberlichen Reihen der gemeinschaftlich genutzten Gemüsegärten; genügend Platz für Getreidefelder blieb. Zäune aus ineinander verflochtenen Zweigen dienten als Pferch für die Kühe; dort waren die wilden Gräser zu kurzen Stoppeln abgefressen. In der Nähe einiger Verschläge tummelten sich ein paar Hühner, und ein paar vereinzelte Schafe knabberten am harten Gras.

Eine leichte Brise trug den Geruch von fetter Erde, Wildblumen und Gräsern bis zu dem Wald herüber, wo Richard wartete. Der Abstieg vom Paß war für ihn eine große Erleichterung gewesen; oben, auf den hochgelegenen Hängen, war das Atmen in der dünnen Luft mit der Zeit doch sehr beschwerlich geworden. Außerdem war es hier, auf der anderen Seite des hohen Gebirgspasses, erheblich wärmer, obwohl er nach wie vor fröstelte.

Richard suchte das weite Gelände des offenen Tals ein letztes Mal mit den Augen ab, ehe er und Owen sich durch das dichte Unterholz auf den Rückweg zu jener Stelle machten, wo die anderen warteten. Bei den Bäumen handelte es sich meist um Harthölzer, Ahorn oder Eiche, immer wieder unterbrochen von kleinen Birkenhainen, aber es gab auch Waldstücke mit hochaufragenden Nadelbäumen. Im dichten Laub zwitscherten Vögel. Ein Eichhörnchen auf einem hohen Fichtenzweig begrüßte sie, als sie vorübergingen, mit lautem Schnattern. Nur gelegentlich wurden die tiefen Schatten unter dem dichten Laubdach von Sonnensprenkeln durchbrochen.

Als Richard Owen auf die geschützte Waldlichtung führte, sprangen einige Männer hastig auf. Richard war froh, endlich wieder in den wärmenden, in spitzem Winkel einfallenden Sonnenstrahlen zu stehen.

Die Lichtung in dem dichten Wald war offenbar durch einen Blitzeinschlag in einen mächtigen, alten Ahornstamm entstanden. Hinter den aus dem Erdreich gerissenen Wurzeln traten weitere Männer ins Freie. Eine Vielzahl junger Föhren, nicht mehr als brusthoch, war in dem durch den plötzlichen und gewaltsamen Tod des alten Ahornbaumes entstandenen, sonnenbeschienenen Flecken aus dem Boden geschossen. Die übrigen Männer standen verteilt zwischen Kahlan, Cara, Jennsen und Tom – seine Armee.

Ansons Äußerung oben auf dem Paß, er wolle bei der Befreiung seines Volkes von der Imperialen Ordnung helfen, hatte den übrigen Männern offenbar den entscheidenden Anstoß geliefert, was schließlich den Ausschlag gegeben hatte: Ihr von Dunkelheit und Zweifel geprägtes Dasein war plötzlich dem leidenschaftlichen Wunsch nach einem Leben im Licht der Wahrheit gewichen. In einem atemberaubenden Augenblick der Entscheidung hatten die Männer erklärt, sich Richard und dem d’Haranischen Reich anschließen zu wollen, um im Kampf gegen die Soldaten der Imperialen Ordnung ihre Freiheit wiederzuerlangen.

Die Soldaten der Imperialen Ordnung, hatten sie entschieden, seien böse und hätten den Tod verdient – selbst dann, wenn sie das Töten selbst besorgen müßten.

Als Tom kurz den Kopf senkte, um zuzuschauen, wie Betty sich erneut über die jungen Kräuter hermachte, fiel Richard auf, daß ihm der Schweiß in Perlen auf der Stirn stand. Auch Cara fächelte sich mit ein paar großen Blättern des Gebirgsahorns Kühlung zu. Er wollte schon fragen, wie sie an einem so kühlen Tag schwitzen konnten, als ihm bewußt wurde, daß es das Gift war, das ihn frösteln ließ. Mit eisigem Grausen erinnerte er sich daran, wie ihn das Gift in jener furchtbaren Nacht, als ihm das letzte Mal so kalt gewesen war, um ein Haar getötet hätte.

Anson sowie ein weiterer Mann, John, ließen ihre Rucksäcke von den Schultern gleiten. Die beiden hatten vor, sich bei Einbruch der Nacht unter die in den Ort zurückkehrenden Feldarbeiter zu mischen. Sobald sie sich in den Ort geschlichen hatten, wollten sie das Gegenmittel beschaffen.

»Ich glaube, es wäre besser, wenn ich dich begleite«, wandte sich Richard an Anson. »John, warum wartest du nicht einfach hier bei den anderen?«

John machte ein überraschtes Gesicht. »Wenn Ihr es wünscht, Lord Rahl. Aber es ist wirklich nicht nötig, daß Ihr selber geht.«

»John hat Recht«, mischte sich Cara ein. »Die beiden werden es schon schaffen.«

Das Atmen wurde Richard zusehends zur Qual. Nur mit Mühe konnte er sein Husten unterdrücken.

»Ich weiß. Ich finde nur, ich sollte mir besser selbst einen Überblick verschaffen.«

Cara und Kahlan wechselten einen verstohlenen Seitenblick.

»Wenn du Anson in den Ort begleitest«, gab Jennsen zu bedenken, »kannst du aber dein Schwert nicht mitnehmen.«

»Ich habe nicht die Absicht, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Ich will mich doch bloß etwas umsehen.«

Kahlan trat näher. »Die beiden können die Ortschaft erkunden und dir dann Bericht erstatten. In der Zwischenzeit könntest du dich ausruhen – sie werden nur wenige Stunden fort sein.«

»Ich weiß, aber ich glaube, so lange möchte ich nicht warten.«

Kahlan erkannte, welch ungeheure Schmerzen er litt, deshalb verzichtete sie darauf, das Thema weiter zu vertiefen, und gab sich statt dessen mit einem Nicken geschlagen.

Richard zog Waffengurt und Schwertgürtel über seinen Kopf, streifte beides Kahlan über und legte ihr den Waffengurt über die Schulter.

»Hiermit ernenne ich dich zum Sucher der Wahrheit.«

Sie nahm Schwert und Ehrung in Empfang, indem sie die geballten Fäuste in die Hüften stemmte. »Und daß du mir dort unten nicht irgendeinen Ärger anfängst. Das wäre gegen die Abmachung. Du und Anson, ihr werdet ganz auf euch gestellt sein. Wartet damit, bis wir alle wieder zusammen sind.«

»Das weiß ich doch. Sobald ich das Gegenmittel gefunden habe, sind wir im Handumdrehen wieder zurück.«

Doch Richard wollte mitnichten nur das Gegenmittel beschaffen, er wollte auch einen Blick auf die gegnerischen Streitkräfte und ihre Aufstellung werfen und sich die Anlage des Ortes einprägen. Sich von den Männern eine Karte in den Staub zeichnen zu lassen war eine Sache, die eigene Anschauung dagegen etwas völlig anderes, zumal diese Leute keine Winkel berechnen konnten.

Einer der Männer zog seine leichte Jacke aus, ein Kleidungsstück, wie es eine ganze Reihe von ihnen trug, und reichte sie Richard. »Hier, Lord Rahl, zieht das über. Damit wird man Euch eher für einen von uns halten.«

Richard streifte die Jacke mit einem dankbaren Nicken über. Der Mann hatte ungefähr seine Größe, die Jacke paßte also einigermaßen. Außerdem verdeckte sie das Messer in seinem Gürtel.

Jennsen musterte ihn kopfschüttelnd. »Ich weiß nicht, Richard. Du siehst einfach nicht aus wie einer von ihnen. Du siehst immer noch aus wie Lord Rahl.«

»Was redest du da?« Richard breitete die Arme aus und sah an sich herab. »Was gibt es an meinem Aussehen auszusetzen?«

»Deine Haltung ist viel zu aufrecht«, sagte sie.

»Zieh die Schultern hoch und laß den Kopf ein wenig hängen«, schlug Kahlan vor.

Richard nahm ihre Vorschläge ernst. Er hatte nicht weiter darüber nachgedacht, aber die Männer neigten tatsächlich stark dazu, die Schultern hochzuziehen. Er wollte auf jeden Fall vermeiden, aufzufallen. Wenn er nicht den Verdacht der Soldaten erregen wollte, mußte er mit der Menge verschmelzen. Er beugte den Oberkörper ein wenig vor.

»Etwa so?«

Jennsen verzog kritisch den Mund. »Kaum ein Unterschied.«

»Aber ich stehe doch schon vornübergebeugt.«

»Lord Rahl«, sagte Cara in mildem Ton und warf ihm einen viel sagenden Blick zu, »vielleicht erinnert Ihr Euch noch, wie es war hinter Denna herzugehen, als sie die Kette zu Eurem Halsring in Händen hielt. Versucht es einmal damit.«

Richard sah sie aus halb zusammengekniffenen Augen an. Sich selbst plötzlich wieder vor seinem inneren Auge als Gefangenen der Mord-Sith zu sehen, war wie ein Schlag ins Gesicht. Er verzichtete jedoch auf eine passende Erwiderung und fügte sich, die Lippen fest aufeinander gepreßt, mit einem knappen Nicken. Die Erinnerung an diese entsagungsvolle Zeit war so deprimierend, daß er keine Mühe haben würde, sich mit ihrer Hilfe in seine Rolle zu versetzen.

»Wir sollten jetzt besser aufbrechen«, sagte Anson. »Sobald die Sonne hinter den Bergen versinkt, wird es hier rasch dunkel.« Er zögerte kurz, ehe er hinzufügte: »Lord Rahl, die Soldaten der Imperialen Ordnung kennen Euch nicht – was ich meine, ist, sie werden möglicherweise nicht merken, daß Ihr nicht aus dem Ort seid. Aber unsere Leute tragen keine Waffen. Wenn sie das Messer sehen, werden sie wissen, daß Ihr nicht aus unserem Ort seid und Alarm schlagen.«

Richard schlug seine Jacke zurück und betrachtete das Messer. »Du hast recht.« Er lockerte seinen Gürtel, streifte die Scheide mit dem Messer darin ab und reichte sie Cara zur Aufbewahrung.

Zum Abschied legte er Kahlan kurz die Hand an die Wange; sie ergriff sie mit beiden Händen und drückte ihm einen flüchtigen Kuß auf den Handrücken.

Den Männern war Kahlans zärtliche Geste nicht entgangen, was Richard jedoch keineswegs peinlich war. Sie sollten ruhig wissen, daß andere sich in wichtigen, menschlichen Verhaltensweisen nicht von ihnen unterschieden. Genau dafür kämpften sie schließlich – für die Chance auf ein menschenwürdiges Dasein, zu lieben und seine Lieben in Ehren zu halten, und für ein selbstbestimmtes Leben.

Das Licht schwand rasch, während Richard und Anson sich einen Weg durch den Wald bahnten und schließlich an Feldern voller wilder Gräser entlanghasteten. Richard wollte sich bis zu der Stelle vorarbeiten, wo der Wald näher an die in den Gärten unkrautjätenden und das Vieh versorgenden Landarbeiter heranreichte. Wegen der hohen Berge im Westen ging die Sonne lange vor der eigentlichen Abenddämmerung in ihrem Rücken unter, so daß der Himmel eine tiefe blaugrüne Farbe annahm und das Tal selbst in ein seltsam güldenes Dämmerlicht getaucht wurde.

Als Richard und Anson die Stelle erreichten, wo sie den Wald verlassen wollten, war es noch immer ein wenig zu hell, so daß sie einen Augenblick warteten, bis das schwindende Licht über den Feldern düster genug war, um ihnen Deckung zu geben. Die Ortschaft lag noch ein gutes Stück entfernt, und da Richard draußen vor den Toren niemanden erkennen konnte, nahm er an, daß Soldaten, die in ihre Richtung blickten, ihn ebenso wenig sehen konnten.

Schließlich hasteten sie in geduckter Haltung und immer in Deckung über das mit wilden Gräsern bewachsene Feld; Anson deutete nach vorn. »Die Männer dort sind auf dem Weg zurück in den Ort; wir sollten uns ihnen anschließen.«

Mit leiser Stimme sagte Richard über die Schulter: »Einverstanden, aber vergiß nicht, wir dürfen ihnen nicht zu nahe kommen, sonst erkennen sie dich womöglich wieder und machen unnötigen Lärm. Wir lassen sie ein gutes Stück vorausgehen.«

Als sie den Ortswall erreichten, sah Richard, daß das Tor nur aus zwei Teilen des Palisadenzauns bestand. Die Torflügel waren mit zwei an der Vorderseite befestigten Querstangen, nicht dicker als Richards Handgelenk, versteift worden. Die Stricke, mit denen die Querstangen zusammengehalten wurden, dienten gleichzeitig als Angeln. Beide Teile des Palisadenzauns wurden einfach angehoben und zum Öffnen oder Schließen zur Seite geschwenkt. Alles andere als eine sichere Befestigung.

Im trüben Licht der Abenddämmerung konnten die beiden Posten, die unmittelbar innerhalb des Tores auf und ab gingen und die rückkehrenden Feldarbeiter mißtrauisch musterten, kaum etwas von Richard und Anson erkennen. In ihren Augen waren sie bloß zwei weitere Feldarbeiter.

Beim Gehen zog Richard die Schultern hoch und ließ den Kopf hängen. Die beiden Torposten schenkten ihm keinerlei Beachtung.

Sie hatten die beiden Posten fast schon passiert, da streckte der nähere der beiden plötzlich den Arm vor, packte Anson am Ärmel und riß ihn mit einem Ruck zu sich herum.

»Ich will ein paar Eier«, verlangte der junge Soldat. »Gib mir einige von denen ab, die du eingesammelt hast.«

Anson stand da, die Augen weit aufgerissen, unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Daß man diesen zwei jungen Kerlen erlaubte, ihrer Sache zu dienen, indem sie andere schikanierten, schien absurd. Sofort war Richard an seiner Seite und mischte sich ein, stets darauf bedacht, den Kopf gesenkt zu halten, um den jungen Burschen nicht zu überragen.

»Wir haben keine Eier, Sir. Wir waren Unkraut jäten, in den Bohnenfeldern. Tut mir leid. Wenn Ihr wollt, bringen wir Euch morgen Eier mit.«

Richard hob kurz den Kopf, im selben Augenblick, als der Posten ihm den Handrücken ins Gesicht schlug und ihn glatt rücklings zu Boden streckte. Er riß sich augenblicklich zusammen und unterdrückte seinen Zorn. Statt dessen wischte er sich das Blut vom Mund und beschloß zu bleiben, wo er war.

»Es stimmt, was er sagt«, bestätigte Anson, um die Aufmerksamkeit des Postens auf sich zu lenken. »Wir haben Unkraut in den Bohnen gejätet. Wenn Ihr wollt, bringen wir Euch morgen Eier mit – so viel Ihr wollt.«

Der Posten brummte einen Fluch in ihre Richtung, ehe er, seinen Kameraden im Schlepptau, davonstolzierte. Die beiden hielten auf ein längliches, gedrungenes Gebäude zu, vor dessen niedriger Eingangstür eine Fackel an einem Pfahl festgebunden war. Im flackernden Schein der Fackel konnte Richard den Zweck des Bauwerks nicht erkennen, es schien jedoch eine Art Langhaus zu sein, teilweise in die Erde eingegraben, so daß sich die Traufe ungefähr in Augenhöhe befand. Als die beiden Soldaten in sicherer Entfernung waren, reichte Anson Richard die Hand, um ihm aufzuhelfen. Richard hatte den Schlag gar nicht als übermäßig hart empfunden, trotzdem drehte sich ihm der Kopf.

Kaum hatten sie sich wieder in Bewegung gesetzt, da tauchten in Türöffnungen und hinter dunklen Ecken Gesichter auf, die sie verstohlen beobachteten. Blickte Richard in ihre Richtung, wurden sie sofort zurückgezogen.

»Sie wissen, daß Ihr nicht von hier seid«, raunte Anson ihm zu.

Richard mochte nicht darauf vertrauen, daß keiner dieser Leute die Posten alarmierte. »Wir sollten uns beeilen und uns holen, weswegen wir hergekommen sind.«

Anson nickte und führte Richard hastig eine schmale Straße entlang, die dem Anschein nach auf beiden Seiten von eng beieinander stehenden Häusern, eigentlich eher Hütten, gesäumt war. Die Fackel vor dem länglichen Gebäude, in dem die Soldaten verschwunden waren, warf nur ein spärliches Licht in diese Straße. Soweit Richard es im Dunkeln erkennen konnte, machte der Ort – eigentlich eher eine Siedlung als eine richtige Ortschaft – einen schäbigen Eindruck. Viele Gebäude schienen Behausungen für Vieh und nicht für Menschen zu sein. Nur selten fiel ein Lichtschein aus den gedrungenen Häusern nach draußen, und die Lichter, die er sah, schienen eher von Kerzen denn von Lampen zu stammen.

Am Ende der Straße traten Richard und Anson durch eine kleine Seitentür in ein größeres Gebäude. Die Kühe drinnen protestierten laut muhend gegen die Störung. Schafe raschelten aufgeschreckt in ihren Verschlägen, ein paar Ziegen, in anderen Ställen, meckerten nervös. Richard und Anson warteten ab, bis die Tiere sich wieder beruhigt hatten, dann begaben sie sich quer durch die Scheune zu einer seitlich stehenden Leiter. Richard folgte Anson, als dieser mit schnellen Bewegungen auf einen kleinen Heuboden kletterte.

An der Rückwand des Heubodens langte Anson über einen Dachsparren und tastete sich bis zu der Stelle vor, wo dieser, hinter einer Querstrebe, in die Wand eingelassen war. »Hier ist es«, sagte er und verzog das Gesicht, während er mit gestrecktem Arm in das Versteck hineinlangte.

Er brachte ein kleines, rechteckiges Fläschchen zum Vorschein, das er Richard in die Hand drückte. »Dies ist das Gegenmittel. Trinkt es rasch aus, und dann laßt uns von hier verschwinden.«

Mit einem Knall flog die große Tür auf. Obwohl draußen völlige Dunkelheit herrschte, spendete die am Ende der Straße angebrachte Fackel genug Licht, daß sich in der Tür die breiten Umrisse eines Mannes abzeichneten. Seinem Gebaren nach konnte es sich nur um einen Soldaten handeln.

Richard entkorkte das Fläschchen; das Gegenmittel verströmte ein schwaches Zimtaroma. Er stürzte es in einem Zug hinunter, ohne recht auf den süßlich-pikanten Geschmack zu achten. Den Mann in der Tür ließ er keinen Moment aus den Augen.

»Wer ist da?«, blaffte der.

»Sir«, rief Richard nach unten, »ich hole nur ein wenig Heu für das Vieh.«

»Im Dunkeln? Was zum Teufel hast du vor? Komm da sofort runter, auf der Stelle!«

Richard legte Anson eine Hand auf die Brust und schob ihn zurück in das Dunkel. »Jawohl, Sir, bin schon unterwegs«, rief Richard dem Soldaten zu, bereits auf den Sprossen, die er hastig hinunterkletterte.

Am Fuß der Leiter drehte er sich um und sah den Mann auf sich zukommen. Soeben wollte er nach seinem Messer unter seiner Jacke greifen, als ihm einfiel, daß er es gar nicht mitgenommen hatte. Der Soldat war immer noch ein dunkler Schattenriß vor der offenen Scheunentür. Da Richard im Dunkeln stand, war er für ihn vermutlich unsichtbar. Lautlos entfernte er sich ein Stück von der Leiter.

Als der Soldat unmittelbar neben ihm vorüberging, trat Richard geräuschlos hinter ihn, griff an dessen Seite und schloß die Finger um das Messer, das neben der Axt in seiner Scheide am Gürtel hing. Vorsichtig zog er es heraus, just als der Soldat stehen blieb und die Leiter zum Heuboden hinaufblickte.

Richard griff ihm mit einer Hand ins Haar, faßte mit der anderen um ihn herum und schlitzte ihm mit einem tiefen Schnitt die Kehle auf, ehe dieser überhaupt wußte, wie ihm geschah. Er hielt den sich in seinen Armen windenden Soldaten fest, dessen einziges Geräusch ein gurgelndes Röcheln war.

»Anson«, rief Richard leise die Leiter hinauf, während er den Mann zu Boden gleiten ließ, »komm jetzt, wir verschwinden.«

Anson hastete die Leiter herunter, drehte sich, unten angekommen, herum und sah die dunklen Umrisse des am Boden liegenden Toten.

»Was ist passiert?«

Richard, damit beschäftigt, den Waffengurt von dem massigen reglosen Körper zu lösen, sah auf. »Ich habe ihn getötet.«

»Oh.«

Er reichte Anson das in seiner Scheide steckende Messer. »Hier, bitte. Jetzt besitzt du eine echte Waffe – ein Langmesser.«

Richard wälzte den Toten herum, um den Gürtel vollends unter seinem Körper hervorzuziehen. Kaum hatte er ihn befreit, vernahm er hinter sich ein Geräusch und konnte sich gerade noch rechtzeitig herumdrehen, um einen zweiten Soldaten auf sie zustürmen zu sehen.

Anson rammte ihm das Langmesser wuchtig bis zum Heft in die Brust. Der Soldat taumelte nach hinten. Richard, den Waffengurt in der Hand, war sofort auf den Beinen. Der Soldat schnappte keuchend nach Luft, während er mit beiden Händen krampfhaft an dem Messergriff zerrte. Schließlich sackte er schwer auf die Knie; eine Hand griff ins Leere, dann begann er zu schwanken und kippte mit einem letzten Aufstöhnen auf die Seite.

Anson starrte auf den am Boden zusammengesunkenen Toten mit dem Messer in der Brust.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Richard leise, als Anson endlich den Blick von ihm löste.

Er nickte. »Ich erkenne ihn wieder. Wir haben ihn Wiesel genannt. Der Kerl hat den Tod verdient.«

Richard gab Anson einen tröstlichen Klaps auf den Rücken. »Du hast richtig gehandelt. Jetzt laß uns von hier verschwinden.«

Als sie die kleine Straße zurückliefen, bat Richard Anson, einen Moment zu warten, während er in den Seitenstraßen und zwischen den gedrungenen Bauten nachsah, ob sich dort noch weitere Soldaten herumtrieben. Im Dunkeln war Richard, der als Waldführer oft nachts das Gelände erkundet hatte, in seinem Element.

Der Ort war wesentlich kleiner als erwartet, und obendrein erheblich weniger durchdacht angelegt, als er angenommen hatte; die primitiven Bauten standen ohne erkennbaren Plan über das Gelände verteilt. Die Straßen dieser aufs Geratewohl in die Landschaft gesetzten Ortschaft, sofern man sie überhaupt so nennen konnte, waren in den meisten Fällen wenig mehr als simple Trampelpfade zwischen Gruppen kleiner, aus nur einem Raum bestehender Hütten. Er sah ein paar Handkarren, jedoch nichts technisch aufwendigeres. Es gab nur eine einzige Fahrstraße durch den Ort – sie führte wieder zur Scheune zurück, wo sie das Gegenmittel gefunden hatten und auf die beiden Soldaten gestoßen waren –, die breit genug war, um einen Wagen aufzunehmen. Seine Suche nach patrouillierenden Soldaten blieb ergebnislos.

»Weißt du, ob die Soldaten der Imperialen Ordnung stets zusammenbleiben?«, fragte er Anson, der in den Schatten auf ihn wartete, bei seiner Rückkehr.

»Nachts ziehen sie sich zurück. Sie schlafen in unserem Langhaus gleich am Ortseingang.«

»Du meinst das gedrungene Gebäude, in dem die beiden Torposten verschwunden sind?«

»Genau. Früher hat sich nachts dort der größte Teil der Einwohnerschaft eingefunden, aber jetzt benutzen es die Männer der Imperialen Ordnung für sich allein.«

Richard musterte ihn stirnrunzelnd. »Soll das etwa heißen, ihr habt alle unter einem Dach geschlafen?«

Die Frage schien Anson leicht zu erstaunen. »Ja, sicher. Wir waren so oft wie möglich zusammen. Viele hatten ein Haus, in dem sie arbeiten, essen und ihren Besitz aufbewahren konnten, aber geschlafen haben sie dort nur selten. Gewöhnlich schliefen wir alle zusammen in den Schlafhäusern, nachdem wir dort zusammengekommen waren, um über die Ereignisse des Tages zu sprechen. Bisweilen kam es auch vor, daß jemand woanders übernachtete, meist aber schliefen wir alle zusammen dort.«

»Und alle haben sich ... einfach nebeneinander hingelegt?«

Anson wandte verlegen den Blick ab. »Paare haben sich oft von den anderen abgesondert, indem sie sich unter einer gemeinsamen Decke verbargen, aber sie waren trotzdem nicht von der Gemeinschaft ausgeschlossen: nur daß sie im Dunkeln eben niemand sehen konnte, wenn sie ... zusammen unter einer Decke lagen.«

Es bereitete Richard einige Mühe, sich diese Art des Zusammenlebens vorzustellen. »Der ganze Ort paßte in dieses Schlafhaus? Dort war für alle Platz?«

»Nein, für ein einziges Schlafhaus waren wir zu viele. Es gibt noch ein zweites.« Anson zeigte darauf. »Es steht dort drüben, genau hinter dem einen, das Ihr bereits gesehen habt.«

»Dann sollten wir uns dort einmal umsehen.«

Sie begaben sich rasch zurück zu dem sogenannten Stadttor und den Schlafhäusern. Die Straße war menschenleer, und auch auf den Pfaden zwischen den einzelnen Häusern sah Richard keine Menschenseele. Wer im Ort zurückgeblieben war, war offenbar schlafen gegangen oder hatte Angst, bei Dunkelheit das Haus zu verlassen.

Eine Tür in einem der winzigen Wohnhäuser öffnete sich einen Spaltbreit, so als spähte jemand nach draußen. Schließlich wurde die Tür ganz geöffnet, und eine schmächtige Gestalt kam heraus und lief auf sie zu.

»Ansonl«, zischte eine flüsternde Stimme.

Der Junge war vielleicht fünfzehn Jahre alt. Er ließ sich auf die Knie fallen, umklammerte Ansons Arm und küßte ihm vor Freude über das Wiedersehen die Hand.

»Ich bin so froh, daß du wieder zu Hause bist, Anson! Wir haben dich so vermißt. Wir hatten große Angst um dich – wir dachten, du wärst vielleicht ermordet worden.«

Anson packte den Jungen bei seinem Hemd und zog ihn wieder auf die Beine. »Bernie, es geht mir gut, und ich freue mich zu sehen, daß du wohlauf bist, aber jetzt mußt du wieder zurück ins Haus. Die Soldaten könnten dich sehen. Wenn sie dich auf der Straße antreffen ...«

»Bitte, Anson, schlaf doch bei uns zu Hause. Wir sind so allein und fürchten uns so.«

»Wer ist wir?«

»Jetzt nur noch ich und Großvater. Bitte komm mit und bleib bei uns.«

»Das geht im Augenblick nicht. Vielleicht ein andermal.«

Der Junge sah hoch zu Richard und wich, als er merkte, daß er ihn nicht kannte, erschrocken zurück.

»Das ist ein Freund von mir, Bernie – aus einem anderen Ort.« Anson ging neben dem Jungen in die Hocke. »Bitte, Bernie, ich komme ja wieder, aber jetzt mußt du ins Haus zurückgehen und die Nacht über dort bleiben. Laß dich draußen nicht blicken. Wir fürchten, daß es Ärger geben könnte. Bleib zu Hause und richte deinem Großvater aus, was ich gesagt habe, in Ordnung?«

Schließlich hatte Bernie ein Einsehen und lief wieder zu dem dunklen Hauseingang zurück. Richard hatte es eilig, den Ort zu verlassen, ehe noch jemand auftauchte, um ihnen seine Aufwartung zu machen. Wenn er und Anson nicht acht gaben, würden sie am Ende noch die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich ziehen.

Mit schnellen Schritten liefen sie bis zum Ende der Straße, indem sie die Häuser als Deckung benutzten. Den Rücken an die Seitenwand eines Gebäudes ganz am Ende der Straße gepreßt, spähte Richard vorsichtig um die Ecke, hinüber zu dem aus Flechtwerk und Lehm errichteten Schlafhaus, in dem die Torposten verschwunden waren. Die Tür stand offen, so daß davor ein warmer Lichtschein über den Weg fiel.

»Da drinnen?«, fragte Richard leise. »Dort habt ihr alle geschlafen?«

»Ja. Das ist eines der Schlafhäuser, und gleich dahinter steht das andere.«

Richard dachte einen Moment nach. »Was habt ihr als Schlafunterlagen benutzt?«

»Stroh. Normalerweise haben wir Decken darüber gelegt und es häufig gewechselt, so daß es stets frisch war. Aber um so was scheren sich diese Kerle nicht. Sie schlafen wie die Tiere in staubigem, altem Stroh.«

Richard sah zum Tor hinaus auf die Felder, dann wieder zurück zum Schlafhaus.

»Und jetzt liegen die Soldaten alle dort drinnen und schlafen?«

»Ja. Sie haben das Gebäude einfach beschlagnahmt und es zu ihrer Kaserne erklärt. Unsere Leute – wer von ihnen noch lebt – müssen jetzt schlafen, wo immer sie ein passendes Plätzchen finden.«

Richard hieß Anson sich nicht von der Stelle zu rühren, während er sich, jenseits des Lichtscheins der Fackel, durch die Schatten davonmachte, um das Gelände hinter dem ersten Gebäude zu erkunden. Das zweite Langhaus war ebenfalls mit lachenden und sich unterhaltenden Soldaten belegt. Die Männer waren zahlreicher, als für die Bewachung einer so kleinen Ortschaft nötig gewesen wäre, andererseits lag Witherton an der Einfallstraße nach Bandakar hinein – und hinaus.

»Komm«, sagte Richard, als er wieder neben Anson auftauchte, »gehen wir zu den anderen zurück. Ich habe eine Idee.«

Auf dem Weg zum Tor blickte Richard, wie so oft, nach oben, um den sternenübersaten Himmel nach Anzeichen für die Riesenkrähen abzusuchen. Dabei fiel ihm auf, daß an den Pfählen rechts und links des Tores jeweils ein an den Füßen aufgehängter Leichnam hing. Als Anson sie ebenfalls bemerkte, ließ ihn der grausige Anblick wie versteinert stehen bleiben.

Richard legte ihm eine Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihm. »Alles in Ordnung mit dir?«

Anson schüttelte den Kopf. »Nein. Mir wird es erst wieder besser gehen, wenn die Barbaren, die hergekommen sind, um so etwas zu tun, tot sind.«

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