12

Zedd spähte die menschenleeren Straßen entlang; er hatte schwören können, jemanden gesehen zu haben. Mit Hilfe seiner Gabe suchte er sie nach einem Anzeichen von Leben ab und kam zu dem Ergebnis, daß niemand in der Nähe war. Dennoch rührte er sich nicht von der Stelle und behielt die Straße weiter im Blick.

Der warme Wind drückte sein schlichtes Gewand gegen den hageren Körper und zauste sacht sein wirres, unordentliches Haar. Ein abgerissenes, verblichenes blaues Kleid, das jemand zum Trocknen an ein Balkongeländer geklammert hatte, flatterte im Wind wie eine Fahne. Das Kleid war, wie diese Stadt mit allem persönlichen Hab und Gut darin, vor langer Zeit einfach zurückgelassen worden.

Die Häuser mit ihren in den verschiedensten Farben von Rostrot bis Gelb gestrichenen Mauern, mit ihren Fensterläden in freundlichen, kontrastieren Tönen, ragten in leicht unterschiedlichem Maß in die enge, gepflasterte Straße hinein, wodurch eine Schlucht aus bunten, unregelmäßigen Steinmauern entstand. Die meisten oberen Stockwerke überragten das Untergeschoß um mehrere Fuß, und da die Traufen noch ein wenig weiter vorstanden, verdeckten die Häuser – bis auf einen unregelmäßig gezackten Streifen Nachmittagssonne, der dem leicht gewundenen Lauf der Straße einen sanft ansteigenden Hügel hinauf und darüber hinweg folgte – den größten Teil des Himmels. Die Eingangstüren waren ausnahmslos fest verriegelt, die meisten Fensterläden geschlossen.

Zedd entschied, einer durch Licht hervorgerufenen Sinnestäuschung erlegen zu sein – einem verirrten Lichtstrahl vielleicht, den eine vom Wind bewegte Fensterscheibe über eine Mauer hatte wandern lassen.

Langsam machte er sich auf den Rückweg durch die Straße, wobei er sich aber dicht an eine Straßenseite hielt und so wenig Geräusche wie möglich machte. Seit der Entfesselung des Lichtnetzes, dem eine ungeheure Zahl ihrer Soldaten zum Opfer gefallen war, war die Armee der Imperialen Ordnung nicht mehr in die Stadt zurückgekehrt, was aber nicht bedeutete, daß nicht überall Gefahren lauern konnten.

Zweifellos hatte es Kaiser Jagang nach wie vor auf die Stadt und vor allem auf die Burg der Zauberer abgesehen, aber er war kein Dummkopf; er wußte, einige wenige Lichtnetze, gezündet inmitten seiner Armee, konnten seine Streitmacht trotz ihrer gewaltigen Größe in Sekundenbruchteilen in einem derart niederschmetternden Ausmaß dezimieren, daß der Krieg einen völlig anderen Verlauf nehmen mochte. Ein Jahr lang führte er nun schon gegen die Armeen der Midlands und D’Haras Krieg, und in all diesen Schlachten hatte er nicht annähernd so viele Soldaten verloren wie in diesem einen, von gleißend hellem Licht erfüllten Augenblick. Leichtfertig würde er einen solchen Vorfall gewiß nicht provozieren.

Andererseits dürfte der Schlag sein Verlangen nach einer Einnahme der Burg gewaltig gesteigert haben – ebenso wie sein Bedürfnis, Zedd in die Finger zu bekommen.

Zedd seufzte. Besäße er mehr Lichtnetze als nur dieses eine, das er nach einer hektischen Suche quer durch die ganze Burg aufgetrieben hatte, er hatte sie längst allesamt gegen die Imperiale Ordnung entfesselt.

Immerhin, der Traumwandler wußte nicht, daß er keine weiteren dieser konstruierten Banne mehr besaß, deshalb konnte Zedd Jagangs Angst nutzen und die Imperiale Ordnung von Aydindril und der Burg der Zauberer fernhalten.

Am Palast der Konfessoren war durch den Angriff, zu dem Jagang sich hatte verleiten lassen, einiger Schaden entstanden, nach Zedds Einschätzung jedoch hatte das Täuschungsmanöver die bedauerlichen Schäden allemal gelohnt; zumal ihm und Adie der Kaiser dadurch um ein Haar in die Hände gefallen wäre. Materielle Schäden ließen sich jederzeit reparieren. Er gelobte, dafür zu sorgen, daß dies auch tatsächlich geschah.

Zedd ballte verärgert eine Faust; an jenem Tag war er dicht davor gewesen, Jagang zu vernichten. Nun, zumindest hatte er seiner Armee einen herben Schlag versetzt.

Wer weiß, vielleicht hätte er ihn sogar erwischt, wenn da nicht diese seltsame junge Frau gewesen wäre. Die Erinnerung an die leibhaftige Begegnung mit einem Menschen, der immun gegen Magie war, versetzte ihn noch immer in Verwunderung. Natürlich hatte er von ihrer Existenz gewußt, bis zu jenem Augenblick jedoch war er nicht wirklich sicher gewesen. Die vagen Anspielungen in den alten Büchern gaben Anlaß zu interessanten, wenngleich abstrakten Spekulationen, aber etwas Derartiges aus eigener Anschauung zu erleben war doch etwas völlig anderes.

Ihr Anblick hatte ihn zutiefst beunruhigt; Adie hatte die Begegnung sogar noch mehr erschüttert als ihn. Trotz ihrer Blindheit konnte sie kraft ihrer Gabe besser sehen als er, die junge Frau indes, gleichzeitig existent und in gewisser Hinsicht wieder nicht, hatte sie an jenem Tag nicht wahrnehmen können. Für seine Augen, wenn schon nicht für seine Gabe, hatte sie einen bezaubernden Anblick geboten, denn trotz einer gewissen, oberflächlichen Ähnlichkeit mit Darken Rahl sah sie letztlich doch ganz anders aus – schlichtweg hinreißend. Sie war unübersehbar eine Halbschwester Richards, vor allen um die Augen war sie ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Hätte Zedd sie nur zurückhalten und verhindern können, daß sie zwischen die Fronten geriet, oder sie überzeugen können, daß sie mit ihrem Aufenthalt bei der Imperialen Ordnung einen fürchterlichen Fehler machte, wäre Jagang seiner gerechten Strafe nicht entgangen.

Indes, Zedd machte sich keine Illusionen, die Gefahr der Imperialen Ordnung einfach durch Jagangs Tod beenden zu können. Jagang war lediglich der Anführer einer ganzen Horde barbarischer Rohlinge, die blinden Gehorsam gegenüber der Imperialen Ordnung forderten, einen blinden Gehorsam, der den eigenen Tod als willkommene Erlösung vom Elend eines, wie sie nicht müde wurden zu predigen, Daseins in sittlicher Verkommenheit betrachtete, einen blinden Gehorsam, für den das Leben keinen anderen Wert besaß als den des blutigen Opfers auf dem Altar der Selbstlosigkeit, einen blinden Gehorsam, der den Menschen die Schuld am Scheitern ihrer Ideen gab, da sie von Natur aus böse waren und unfähig, sich im nimmermüden Streben nach einem trügerischen, in immer weitere Ferne rückenden, höheren Ziel angemessen aufzuopfern; einen blinden Gehorsam gegenüber einer Ordnung, die mit allen Mitteln an der Macht festhielt, indem sie sich an den Kadavern jener schöpferischen Existenzen gütlich tat, die sie zuvor eigenhändig vernichtet hatte.

Ein Glaube, der aus tiefster Überzeugung jegliche Vernunft ablehnte und sich das Irrationale zu eigen machte, konnte ohne brutale Einschüchterung und Gewaltanwendung – also ohne die brutalen Rohlinge vom Schlage Jagangs, die ihn gewaltsam erzwangen – nicht lange Bestand haben.

Trotz Kaiser Jagangs geradezu übermenschlichen Erfolgs war es ein Irrtum, zu glauben, sein Tod werde die Bedrohung der Imperialen Ordnung noch am selben Tag beenden. Viel gefährlicher waren die Ideen, die diesem Orden zugrunde lagen. Dessen Priester hätten gewiß keine Mühe, andere Rohlinge zu finden.

Im Grunde gab es nur eine Möglichkeit, die Schreckensherrschaft der Imperialen Ordnung zu brechen: Man mußte die Verderbtheit ihrer Lehren unverhüllt dem Licht der Wahrheit aussetzen – und wer unter ihren starren Lehren litt, mußte das Joch der Imperialen Ordnung abwerfen. Bis dahin galt es, der Imperialen Ordnung nach besten Kräften Widerstand zu leisten, in der Hoffnung, ihr dadurch letztendlich Einhalt zu gebieten.

Zedd steckte den Kopf um eine Straßenecke und hielt Ausschau, horchte und sog den Wind schnuppernd durch die Nase, aber nichts deutete darauf hin, daß sich in der Nähe jemand herumtrieb. Die Stadt war völlig menschenleer, auch wenn sich immer wieder ein paar versprengte Soldaten aus den Bergen hierher verirrten.

Nach den durch das Lichtnetz verursachten Verwüstungen war im Feldlager der Imperialen Ordnung Panik ausgebrochen; viele Soldaten waren in heilloser Verwirrung in die Berge geflüchtet. Später, als sich die Armee neu formierte, hatte eine nicht unbeträchtliche Zahl Soldaten beschlossen, nicht zu ihren Einheiten zurückzukehren und statt dessen zu desertieren. Zehntausende dieser Deserteure waren zusammengetrieben und massakriert, ihre Leichen der Verwesung überlassen worden – als Warnung, was ein jeder zu gewärtigen hatte, der den Kampf zur Mehrung des Ruhmes der Imperialen Ordnung – oder wie man es in der Imperialen Ordnung selbst zu nennen pflegte, den Kampf für den höheren Zweck – aufgegeben hatte. Den größten Teil der übrigen in die Berge geflohenen Männer hatte daraufhin ein Sinneswandel überkommen, und sie waren nach und nach, einzeln oder in versprengten Gruppen, wieder in ihr Feldlager zurückgekehrt.

Trotzdem gab es noch immer einige, die weder hatten zurückkehren wollen, noch gefangengenommen worden waren. Nach dem Abzug der Armee Jagangs waren sie eine Zeit lang immer wieder einzeln oder in kleinen Gruppen halb verhungert auf der Suche nach Lebensmitteln oder Beutegut in der Stadt aufgetaucht. Zedd hatte längst den Überblick verloren, wie viele dieser Soldaten er bereits getötet hatte.

Nichtsdestoweniger war er einigermaßen sicher, daß diese versprengten Krieger mittlerweile alle tot waren. Die Truppen der Imperialen Ordnung setzten sich größtenteils aus Bewohnern von Städten und kleineren Ortschaften zusammen, Männern, die es nicht gewohnt waren, in der freien Natur zu überleben. Ihre Aufgabe war es, den Feind zu überrennen – zu töten, zu vergewaltigen, einzuschüchtern und zu plündern. Für ihre Versorgung mit Nachschub hatte man eigens ein ganzes logistisches Korps bereitgestellt; so gelangte ein niemals endender Strom aus Versorgungsgütern ins Lager, nur um dort zum Wohl und zur Ernährung der Truppen verteilt zu werden. Bei aller Barbarei, diese Soldaten, deren Überleben von diesem Korps abhing, waren auf diesen Nachschub angewiesen. Auf sich gestellt in den weglosen Bergwäldern rings um Aydindril würden sie nicht lange überdauern.

Indes, Zedd hatte schon eine Weile keine mehr zu Gesicht bekommen. Er war einigermaßen sicher, daß die versprengten Soldaten entweder verhungert, getötet worden oder längst wieder nach Süden, in die Alte Welt, zurückgekehrt waren.

Allerdings bestand stets die Möglichkeit, daß Jagang Meuchler nach Aydindril geschickt hatte; manche dieser Meuchler konnten Schwestern des Lichts, oder schlimmer, Schwestern der Finsternis sein. Aus diesem Grund verließ Zedd nur selten den Schutz der Burg, und wenn, dann nur unter größter Vorsicht, zumal er sich ohnehin nur äußerst ungern in dieser allen Lebens beraubten Stadt umsah. Sie war ein Großteil seines Lebens sein Zuhause gewesen; noch gut erinnerte er sich an die Zeiten, als die Burg der Zauberer ein Dreh- und Angelpunkt geschäftigen Treibens war – nicht ganz so wie einst gewiß, aber doch voller Menschen und Leben. Ohne die Gespräche vom Balkon zu einem Nachbarn im Fenster auf der anderen Straßenseite, ohne das Geschiebe auf dem Markt wo reger Handel getrieben wurde, wirkte sie trostlos. Es war noch gar nicht lange her, da waren die Menschen für einen kurzen Plausch in einer Tür stehen geblieben, während Straßenhändler ihre Wagen in Karren durch die engen Gassen gezogen hatten und spielende Kinder durch das Gedränge gesprungen waren. Der deprimierende Anblick der unbelebten Straßen entlockte Zedd einen traurigen Seufzer.

Wenigstens waren diese Menschen jetzt, wenn auch fern ihrer Heimat, in Sicherheit. Trotz der zahlreichen grundlegenden Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und den Schwestern des Lichts wußte er, daß ihre Prälatin, Verna, sowie die übrigen freien Schwestern über sie wachen würden.

Jagangs Abzug aus der Stadt hatte nur einen einzigen Grund gehabt: Er hatte es auf ebendiese d’Haranische Armee abgesehen. Mit der Besetzung einer verlassenen Stadt war der Krieg für die Imperiale Ordnung nicht zu gewinnen; sie mußte ein für allemal jeden Widerstand brechen, damit niemand mehr die Lehren des Ordens mit seinem glücklichen Leben in Wohlstand und Frieden Lügen strafen konnte.

Mit seinem Vorstoß quer durch die gesamten Midlands hatte Jagang einen Keil in die Neue Welt getrieben; überall längs seiner Marschroute hatte er Truppen zurückgelassen, die die Städte und Ortschaften besetzt hielten. Jetzt würde sich die Hauptstreitmacht in ihrer Gier nach Blut nach Osten wenden, gegen das weltabgeschiedene D’Hara. Diese Spaltung der Neuen Welt ermöglichte es Jagang, jeden Widerstand noch erfolgreicher zu zerschlagen.

Zedd raffte sein Gewand am Hals zusammen, als ihn die quälende Erinnerung an diese erbitterten Kämpfe, an die Hoffnungslosigkeit angesichts der enormen zahlenmäßigen Überlegenheit, an all die Toten, das Sterben und an den Verlust von Freunden zu überwältigen drohte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis den Horden aus der Alten Welt alles in die Hände fallen würde.

Auch Richard und Kahlan würden die Eroberung durch die Imperiale Ordnung nicht überleben. Der schaurige Gedanke, die beiden zu verlieren, ließ Zedd entsetzt seine dürren Finger vor seine bebenden Lippen schlagen. Sie waren alles, was ihm an Familie noch geblieben war. Sie bedeuteten ihm alles.

Zedd spürte, wie ein Woge der Mutlosigkeit ihn zu überwältigen drohte, und er mußte sich für einen Augenblick vor einem mit Brettern verbarrikadierten Schuhgeschäft auf einem gespaltenen Baumstamm niederlassen. Dann ging es weiter.

Vor einer Steinbrücke blieb Zedd stehen und blickte die breite Straße hinab, die sich den Hang hinaufwand. Das einzige Geräusch, die einzige Bewegung, stammte vom Wind in den Bäumen und deren matt glänzenden Blättern, dennoch verweilte sein Blick lange auf der völlig menschenleeren Straße.

Wegen ihrer strategischen Bedeutung hatte Zedd sowohl auf der Brücke selbst als auch entlang der weiter zur Burg hinaufführenden Straße zahlreiche Fallstricke und Fußangeln ausgelegt, sodaß niemand, der sich ihr zu nähern wagte, mehr als nur ein paar Schritte überleben würde. Nicht einmal eine Schwester der Finsternis wäre imstande, sie zu überwinden. Einige Schwestern hatten das Unmögliche versucht und dies mit ihrem Leben bezahlt.

Vermutlich hatten sie geahnt, daß der Oberste Zauberer persönlich solche Netze ausgelegt hatte, und gewiß auch den einen oder anderen Warnschild gespürt, doch Jagang hatte ihnen in dieser Hinsicht zweifellos keine Wahl gelassen und sie mit dem Befehl losgeschickt, bis in die Burg vorzudringen – und ihr Leben für die höheren Ziele der Imperialen Ordnung zu opfern.

Verna war einst für kurze Zeit Gefangene des Traumwandlers gewesen und hatte Zedd das Erlebnis in allen Einzelheiten geschildert – in der Hoffnung, ein Gegenmittel zu finden, ohne Lord Rahl ewige Treue schwören zu müssen und dadurch den Schutz der Bande zu erbitten, doch so sehr er sich bemüht hatte, Zedd hatte keine Gegenmagie finden können. Bereits während des Großen Krieges hatten weitaus talentiertere Zauberer mit beiden Seiten der Gabe einen Schutz gegen Traumwandler zu ersinnen versucht, doch hatte dieser erst vom Verstand eines Menschen Besitz ergriffen, war der Betreffende ihm schutzlos ausgeliefert und mußte – egal um welchen Preis, und sei es um den des eigenen Lebens – seinen Befehlen Folge leisten.

Weiter vorn ragte die Burg der Zauberer am Seitenhang des Berges in den Himmel. Die hochaufragenden Mauern aus dunklem Gestein, die auf die meisten Menschen eher einschüchternd wirkten, vermittelten Zedd das wohlige Gefühl eines Zuhauses. Er ließ den Blick an der Brustwehr entlangwandern und mußte daran denken, wie er vor vielen Jahren – mittlerweile schien es fast ein ganzes Leben her zu sein – mit seiner Gemahlin dort entlanggeschlendert war. Oft hatte er von den Türmen aus auf die prachtvoll anzuschauende Stadt Aydindril hinuntergeblickt. Einmal war er über die Brücken und durch Verbindungsgänge geeilt, um den Befehl zur Verteidigung der Midlands gegen eine von Darken Rahls Vater angeführte Invasion aus D’Hara zu überbringen.

Auch das schien bereits ein Leben lang zurückzuliegen. Mittlerweile war sein Enkel Richard Lord Rahl; ihm war es gelungen, den größten Teil der Midlands unter der Herrschaft des d’Haranischen Reiches zu vereinen. Verwundert schüttelte Zedd den Kopf, daß ausgerechnet Richard es geschafft hatte, die gesamte Welt auf den Kopf zu stellen. Ihm hatte er es zu verdanken, daß er jetzt Untertan des d’Haranischen Reiches war.

Bevor er das andere Brückenende erreichte, warf er rasch noch einen Blick hinunter in die Schlucht. Eine Bewegung nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Die knochigen Finger auf das grobe Steingeländer gestützt, beugte er sich ein wenig vor, um genauer hinzusehen. Tief unten erblickte er zwei riesenhafte schwarze Vögel, die durch den schmalen Spalt im Bergmassiv glitten. Er hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen und wußte nicht was er von dem Anblick halten sollte.

Als er sich wieder zur Burg herumdrehte, meinte er hoch oben über der Burg drei weitere Exemplare dieser riesigen Vögel im Verband vorübergleiten zu sehen. Wahrscheinlich hatte er sich nur in der Entfernung getäuscht – vermutlich aufgrund unzureichender Ernährung. Er entschied, daß es sich um Raben handeln müsse, und versuchte seine Entfernungsschätzung zu korrigieren, doch da waren sie bereits außer Sicht. Ein Blick hinunter in die Tiefe ergab, daß auch die beiden anderen nicht mehr zu sehen waren.

Als er unter dem eisernen Fallgatter hindurchging und vom freundlichen Zauber der Burg umfangen wurde, befiel ihn plötzlich ein Gefühl der Verlorenheit. Er vermißte seine längst verstorbene Frau Erilyn, ebenso wie seine vor langer Zeit verstorbene Tochter, Richards Mutter, und – bei den Gütigen Seelen – vor allem vermißte er Richard. Dann fiel ihm ein, daß Richard jetzt mit seiner eigenen Frau zusammen war, und ein Lächeln ging über seine Lippen. Noch immer fiel es ihm zuweilen schwer, sich Richard als erwachsenen Mann vorzustellen.

Im Innern der Burg erwachten die Lampen entlang der Wand artig brennend zum Leben, als der Oberste Zauberer Zeddicus Zu’l Zorander auf seinem Weg in die Tiefen der weitläufigen Bergfeste durch die Flure und prachtvollen Säle schritt. Wann immer er an einem der von ihm selbst angebrachten Netze vorüberkam, überprüfte er die Beschaffenheit ihrer Magie und vergewisserte sich, daß sie unberührt waren. Er stieß einen erleichterten Seufzer aus. Nicht, daß er erwartet hätte, jemand wäre so töricht, den Versuch zu machen, in die Burg einzudringen, andererseits wimmelte es in der Welt nur so von Narren. Im Grunde war ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, überall im Gebäude – zusätzlich zu den gefährlichen Schilden, mit denen die Burg ohnehin bereits gesichert war – gefährliche Netze in so großer Zahl zurückzulassen, gleichwohl wagte er nicht, in seiner Wachsamkeit nachzulassen.

Als er die lange Anrichte in einem der hohen Versammlungssäle passierte, fuhr Zedd, wie seit frühester Jugendzeit gewohnt, mit dem Finger durch die glatte Vertiefung im Rand der bunt gescheckten, schokoladenbraunen Marmorplatte. Plötzlich hielt er inne, betrachtete nachdenklich den Büffetschrank und erinnerte sich, daß in einer seiner Schubladen ein Gegenstand lag, zu dem er sich plötzlich wie magnetisch hingezogen fühlte: Vor vielen Jahren hatte er dort ein Knäuel feiner schwarzer Kordel zurückgelassen, wie man sie zur Befestigung von Borten und anderem Zierrat an den Lampenarmen des Versammlungssaales benutzte, wenn die Dekorationen für das Herbstfest angebracht wurden.

Und tatsächlich, in der mittleren Lade fand er das Knäuel aus feiner Schnur. Er nahm es an sich und ließ es in einer seiner Taschen verschwinden. Dann löste er einen mit sechs kleinen Glöckchen versehenen Zauberstab aus seiner Wandhalterung neben der Anrichte. Der Zauberstab, einer von Hunderten, wenn nicht gar Tausenden in der Burg, war früher zum Rufen des Personals benutzt worden. Er seufzte bei sich. Mittlerweile war es viele Jahrzehnte her, daß die letzten Bediensteten mit ihren Familien in der Burg gelebt hatten. Er erinnerte sich noch gut, wie ihre Kinder herumgetollt waren und in den Fluren gespielt hatten, er erinnerte sich an das frohe Lachen, das in der gesamten Burg zu hören gewesen war und das alte Gemäuer mit Leben erfüllt hatte.

Eines Tages, schwor er sich, würden wieder Kinder lachend durch diese Flure toben – Richards und Kahlans Kinder.

Die steinernen Mauern waren immer wieder von Fenstern und Öffnungen unterbrochen, so daß eine Vielzahl der Flure und Säle mit Licht versorgt wurden, andere Winkel dagegen waren weniger gut ausgeleuchtet. Zedd fand eine dieser dunkleren Ecken, deren trübes Licht seinen Vorstellungen entsprach. Er spannte ein Stück Kordel mit einem der Glöckchen in die Türöffnung und wickelte es auf beiden Seiten um eine steinerne Zierleiste. Dann setzte er seinen Weg durch das Labyrinth aus Fluren und Hallen fort und machte gelegentlich Halt, um weitere mit einem Glöckchen versehene Schnüre an Stellen zu befestigen, wo sie nur schwer zu erkennen waren. Er mußte noch mehrere der besagten Stäbe aus ihren Halterungen nehmen, um seinen Vorrat an Glöckchen aufzustocken.

Zwar waren überall magische Schilde angebracht worden, andererseits ließ sich unmöglich sagen, über welche Kräfte manche Schwestern der Finsternis verfügten; ganz sicher aber würden sie wohl eher nach Magie als nach Glöckchen Ausschau halten. Die zusätzliche Vorsichtsmaßnahme konnte also nicht schaden.

Zedd machte sich in Gedanken eine Notiz, wo er die feine schwarze Schnur überall aufgespannt hatte, schließlich würde er Adie einweihen müssen. Er bezweifelte allerdings, daß sie mit ihrem Sehvermögen der Gabe dieser Warnung bedurfte. Ihre blinden Augen sahen gewiß weit mehr als jeder Sehende.

Dem köstlichen Duft des Schinkeneintopfes folgend, gelangte Zedd in den gemütlichen, mit Bücherregalen gesäumten Raum, in dem sie sich die meiste Zeit aufhielten. An den niedrigen, mit kunstvollen alten Schnitzereien versehenen Deckenbalken hatte Adie Gewürze zum Trocknen aufgehängt. Vor dem großen offenen Kamin thronte ein Ledersofa, und von den bequemen Sesseln aus, die neben dem mit Silberintarsien verzierten Tisch vor dem im Rautenmuster bleiverglasten Fenster standen, hatte man einen atemberaubenden Blick auf ganz Aydindril.

Die untergehende Sonne tauchte die Stadt tief unten in ein warmes Licht. Alles schien fast so wie immer, außer, daß kein Rauch über dem Kochfeuer aufstieg.

Zedd legte den schweren, mit seiner Ernte gefüllten Leinensack auf einen Bücherstapel auf dem runden, hinter dem Sofa stehenden Mahagonitisch. Dann trat er mit schlurfenden Schritten näher an das Feuer heran, nicht ohne den betörenden Duft des Eintopfs in tiefen Zügen aufzunehmen.

»Adie«, rief er, »es duftet köstlich. Hast du heute schon einen Blick aus dem Fenster geworfen? Ich habe überaus merkwürdige Vögel gesehen.«

Lächelnd nahm er eine weitere Prise.

»Adie – meiner Meinung dürfte er jetzt fertig sein«, rief er zur Tür der Speisekammer hinüber. »Ich finde, wir sollten wenigstens mal probieren. Es kann nicht schaden, eben mal zu kosten, weißt du.«

Zedd blickte über seine Schulter. »Adie? Hörst du mir überhaupt zu?«

Er ging zur Tür hinüber und schaute in die Speisekammer, aber dort war niemand.

»Adie?«, rief er die Stufen an der Rückseite der Speisekammer hinunter. »Bist du da unten?«

Als sie nicht antwortete, verzog Zedd mißmutig den Mund.

»Adie?«, versuchte er es erneut. »Verdammt, Frau, wo steckst du nur?«

Er wandte sich wieder herum und linste hinüber zu dem Eintopf, der in dem an einem Arm über dem offenen Feuer hängenden Kessel vor sich hin köchelte.

Dann schnappte er sich einen langen Holzkochlöffel aus einem Speisekammerschrank, blieb mitten in der Kammer stehen und lehnte sich Richtung Treppe. »Laß dir nur Zeit, Adie. Ich bin hier oben und werde ein wenig ... lesen.«

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