Zedd, kaum fähig, sich auf den Beinen zu halten, wartete schwankend unweit des Zeltes, in das Schwester Tahirah soeben eine kleine Kiste gebracht hatte. Während sie den magischen Gegenstand drinnen behutsam auspackte und für die Untersuchung vorbereitete, standen nicht weit entfernt die Wachtposten und unterhielten sich; ihre Sorge, der hagere alte Mann mit dem Rada’Han um den Hals und den auf den Rücken gefesselten Händen könnte ihnen Ärger machen oder gar fliehen, war nicht übermäßig groß.
Diese Gelegenheit nutzte Zedd, um sich gegen ein Hinterrad des Transportwagens zu lehnen. Wenn man ihm nur erlauben würde, sich hinzulegen und ein wenig zu schlafen. Er riskierte einen heimlichen Blick über seine Schulter auf Adie, die ihm mit einem kurzen, tapferen Lächeln antwortete.
Als er einen neugierig um sich blickenden Elitesoldaten in Lederharnisch und Kettenrüstung unweit stehenbleiben sah, hob Zedd den Kopf. Am oberen Rand seines rechten Ohres fehlte ein v-förmiges Knorpelstück. Er trug zwar die unter Elitesoldaten übliche Uniform, nicht aber die dazu passenden Stiefel. Als er sich umdrehte, bemerkte Zedd, daß sein linkes Auge nicht ganz so weit geöffnet war wie das rechte; Augenblicke später hatte er sich bereits unter die Gruppen patrouillierender Soldaten gemischt und war verschwunden.
Während Zedd das unablässige Gedränge aus vorüberziehenden Soldaten, Schwestern und anderen beobachtete, überkamen ihn immer wieder verstörende Visionen von Personen aus seiner Vergangenheit und anderer ihm bekannter Menschen. Es war entmutigend, von diesen Trugbildern heimgesucht zu werden – Täuschungen, erzeugt von einem Verstand, der ihm aus Schlafmangel und wegen der fortwährenden Anspannung zusehends seinen Dienst versagte.
Wie ein Racheengel stürzte die hakennasige Schwester plötzlich wieder aus dem Zelt. »Schafft sie herein«, blaffte sie.
Die vier Wachtposten traten augenblicklich in Aktion; zwei packten Adie, die beiden anderen griffen Zedd. Sie schleiften ihn ins Zelt, beförderten ihn um den Tisch herum und drückten ihn so wuchtig auf den Stuhl, daß ihm die Luft mit einem Ächzen aus den Lungen wich.
Zedd schloß die Augen, verzog gequält das Gesicht und wünschte, sie würden ihn, damit er sie nie wieder öffnen mußte, einfach töten. Aber wenn sie ihn töteten, würden sie Richard seinen Kopf schicken, und er wollte sich lieber nicht ausmalen, wie schmerzhaft das für den Jungen wäre.
»Nun?«, fragte Schwester Tahirah.
Zedd schlug die Augen auf und betrachtete den Gegenstand vor ihm mitten auf dem Tisch. Ihm stockte der Atem.
Es war ein entworfener Bann, genannt Sonnenuntergangsbann.
Zedd schluckte. Offensichtlich hatte keine der Schwestern ihn bislang geöffnet. Nein, das hätten sie niemals gewagt. Hätten sie es getan, säße er nicht hier.
Vor ihm auf dem Tisch stand ein kleines Kästchen von etwa der halben Größe seiner Handfläche. Es war der oberen Hälfte einer stilisierten Sonne nachempfunden – ein Halbkreis mit sechs spitz zulaufenden Strahlen, der die Sonne im Augenblick des Versinkens hinter dem Horizont darstellen sollte. Das Kästchen selbst war leuchtend gelb lackiert, ebenso wie die Strahlen, die jedoch am Rand mit orangefarbenen, grünen und blauen Streifen abgesetzt waren.
»Nun?«, wiederholte Schwester-Tahirah ihre Frage.
»Äh ...«
Ihr Blick war in ihr Buch, nicht auf das gelbe Kästchen gerichtet. »Was ist es?«
»Ich ... bin nicht sicher; ich kann mich nicht erinnern«, stammelte er, um Zeit zu gewinnen.
Die Schwester war nicht bei Laune, um sich in Geduld zu üben. »Wollt Ihr, daß ich ...«
»Ja, richtig«, beeilte er sich, bemüht unbekümmert zu klingen. »Jetzt erinnere ich mich. Es handelt sich um ein mit einem Bann belegtes Kästchen, das eine kleine Melodie spielt.«
Das entsprach durchaus der Wahrheit. Die Schwester war noch immer in ihr Buch vertieft. Zedd warf einen Blick über die Schulter zu der auf einer Bank sitzenden Adie und sah ihren blinden Augen an, daß etwas in der Luft lag. Hoffentlich bemerkte es die Schwester nicht ebenfalls.
»Es handelt sich also um eine Spieldose«, murmelte Schwester Tahirah, deren Hauptinteresse nach wie vor ihrer Liste mit magischen Objekten galt.
»Ja, ganz recht. Ein Kästchen, das einen musikalischen Bann enthält. Entfernt man den Deckel, spielt es eine Melodie.« Der Schweiß troff ihm in den Nacken und rann zwischen seine Schulterblätter. Zedd schluckte, bemüht zu verhindern, daß sich sein Zittern auf seine Stimme übertrug. »Probiert es halt aus, dann seht Ihr es selbst.«
Sie bedachte ihn über den Rand ihres Buches hinweg mit einem argwöhnischen Blick. »Ihr werdet den Deckel selbst abnehmen.«
»Nun ... das kann ich nicht. Man hat mir die Hände auf den Rücken gefesselt.«
»Benutzt Eure Zähne.«
»Meine Zähne?«
Mit dem hinteren Ende ihres Stiftes schob die Schwester das gelbe, halbsonnenförmige Kästchen näher zu ihm hin. »Ganz recht, Eure Zähne.«
Er hatte auf ihren Argwohn spekuliert, wagte aber nicht, es zu übertreiben. Also bewegte er seine Zunge im Mund und versuchte verzweifelt, ein wenig Speichel zu erzeugen. Blut wäre besser, aber er wußte genau, wenn er sich auf die Innenseite seiner Lippe biss, würde die Schwester Verdacht schöpfen. Blut war ein allzu gebräuchlicher Katalysator.
Ehe die Schwester mißtrauisch werden konnte, beugte Zedd seinen Oberkörper vor und versuchte, seine Lippen über das Kästchen zu stülpen. Er bekam den unteren Rand der Sonne mit den Zähnen zu fassen und versuchte, seinen Oberkiefer über einen der spitzen Strahlen zu schieben. Das Kästchen war eine Spur zu groß. Ihre Hand auf seinem Hinterkopf, half Schwester Tahirah ein wenig nach. Das war alles, was er brauchte! Er packte den Deckel mit den Zähnen, doch statt nur den Deckel anzuheben, hob er das ganze Kästchen vom Tisch. Der Deckel löste sich erst nach einigem Hin- und Herwerfen des Kopfes. Er legte ihn daneben ab.
Wurde ein Sonnenuntergangsbann nicht von einem am Diebstahl der in der Burg eingelagerten Gegenstände Beteiligten geöffnet, mußte er von einem Zauberer, den der Bann erkannte, aktiviert werden. Rasch, bevor sie merkte, was er tat, ließ er zu ebendiesem Zweck ein wenig Speichel in das Kästchen träufeln.
Als die Musik ertönte, überkam Zedd ein übermütiges Glücksgefühl. Es funktionierte also, der Bann war noch aktiv. Er spähte durch den schmalen Schlitz der Zeltöffnung. Bald schon würde die Sonne hinter dem Horizont untergegangen sein.
Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte zu der fröhlichen Melodie getanzt, wäre in lauten Jubel ausgebrochen. Trotz seines nahen Endes überkam ihn ein Gefühl unbeschwerter Heiterkeit. Seine Qualen würden bald ein Ende haben, in Kürze würden sämtliche aus der Burg entwendeten magischen Objekte vernichtet werden, und er mit ihnen. Sie würden nichts mehr aus ihm herausbekommen. Er würde ihre Sache nicht verraten.
Es betrübte ihn zutiefst, daß die gefangenen Familien, mit deren Hilfe man seine Kooperation zu erzwingen hoffte, dabei ebenfalls umkommen würden, aber wenigstens mußten sie nicht länger leiden. Er verspürte einen traurigen Stich, als ihm bewußt wurde, daß auch Adie sterben würde. Diese Vorstellung war ihm mindestens genauso verhaßt wie der Gedanke, daß sie litt.
Die Schwester legte den Deckel wieder zurück an seinen Platz. »Wie reizend.«
Die Musik brach ab, doch das spielte keine Rolle mehr der Bann war längst aktiviert. Die Musik war lediglich eine Bestätigung – und gleichzeitig eine Warnung, sich außer Reichweite zu begeben. Die Chancen dafür waren gleich Null.
Auch das war nicht mehr von Belang.
Schwester Tahirah nahm das gelbe Kästchen vom Tisch und beugte sich mit den Worten zu Zedd herab: »Ich werde es jetzt wieder zurückbringen, und in meiner Abwesenheit werde ich die Wachen das nächste Mädchen hereinbringen lassen, damit Ihr es Euch genau ansehen und darüber nachdenken könnt, was die Männer im Nachbarzelt gleich mit ihm anstellen werden. Und zwar ohne das geringste Zögern, solltet Ihr noch einmal versuchen, uns hinzuhalten und unsere Zeit zu verschwenden.«
»Aber ich ...«
Seine Worte wurden brutal abgewürgt, als der Rada’Han um seinen Hals einen brennenden heißen Stich vom Schädelansatz bis zur Hüfte hinabjagte. Sein Rücken krümmte sich, als Zedd, der Ohnmacht nahe, einen Schrei ausstieß. »Ihr begleitet mich«, rief Schwester Tahirah den Wachen zu. »Ich brauche jemanden, der mir zur Hand geht. Der Posten, der das nächste Kind hereinbringt, kann auf die beiden aufpassen.«
Obwohl der Schmerz allmählich nachließ, starrte Zedd mit Tränen in den Augen an die Decke des Zeltes. Er merkte, wie Licht hereinfiel, als die Zeltöffnung zurückgeschlagen wurde, anschließend wanderten Schatten über die Leinwand, als die Schwester und die vier Soldaten hinausgingen und sie den Posten mit dem Kind hereinschickte. Zedd starrte zum Zeltdach hinauf, um nicht noch einem Kind in die Augen sehen zu müssen.
Nach einer Weile hatte er sich erholt und richtete sich wieder auf.
Etwas seitlich stand einer der hünenhaften Elitesoldaten in seiner Uniform aus Lederharnisch, Kettenhemd und dem breiten, waffenstarrenden Gürtel, vor sich ein blondes Mädchen – dasselbe Mädchen, das Zedd zuvor zugelächelt hatte. Zedd schloß kurz gequält die Augen, als er sich ausmalte, was sie diesem armen Kind antun würden.
Als er die Augen aufschlug, lächelte sie ihn schon wieder an. Jetzt zwinkerte sie ihm auch noch zu.
Zedd kniff die Augen zusammen. Sie hob ihr mit Blumen bedrucktes Kleid gerade weit genug, daß er die zwei Messer, die um jeden ihrer Oberschenkel geschnürt waren, sehen konnte. Der Anblick ließ ihn erneut die Augen zusammenkneifen. Er hob den Blick und sah in ihr lächelndes Gesicht.
»Rachel ...?«
Ihr Lächeln wurde breiter, bis sie schließlich über das ganze Gesicht strahlte.
Zedd sah hoch in das Gesicht des Hünen, der hinter ihr Wache stand.
»Bei den Gütigen Seelen ...«, stieß Zedd tonlos hervor.
Es war der Grenzposten.
»Ich höre, Ihr habt Euch hier in Schwierigkeiten gebracht«, begrüßte ihn Chase.
Einen Moment lang war Zedd absolut sicher, daß alles nur Einbildung sein konnte. Dann erkannte er, warum Rachel ihm einerseits vertraut und doch so anders vorkam; sie war mehr als zweieinhalb Jahre älter als bei ihrer letzten Begegnung und trug ihr früher kurz geschnittenes, blondes Haar jetzt lang. Außerdem mußte sie seiner Schätzung nach mindestens einen Fuß gewachsen sein.
Chase hakte seine Daumen hinter seinen breiten Ledergürtel. »Vernünftig, wie Ihr seid, Adie, kann es eigentlich nur Zedd gewesen sein, der Euch diesen Schlamassel eingebrockt hat.«
Zedd sah über seine Schulter. Er konnte sich nicht erinnern, wann er Adie zuletzt hatte lächeln sehen.
»Der Mann bedeutet nichts als Ärger«, erklärte sie dem Grenzposten.
Zweieinhalb Jahre war es jetzt her, daß er seinen alten Freund Chase, den Grenzposten, gesehen hatte. Er war es gewesen, der sie damals mit Adie zusammengebracht hatte, damit sie Richard den Weg durch die Grenze zeigen konnte, ehe Darken Rahl sie niederriß. Chase war älter als Richard, aber einer seiner engsten und vertrautesten Freunde.
»Vor ein paar Tagen tauchte ein älterer Grenzposten mit Namen Friedrich auf und behauptete, nach mir zu suchen«, erklärte Chase. »Er sagte, ein ›Lord Rahl‹ hätte ihn zur Burg der Zauberer geschickt, um Euch zu warnen. Dieser Lord Rahl hätte ihm auch von mir erzählt; und da Ihr verschwunden wart und die Burg der Zauberer erobert war, sei er nach Westland gekommen, um mich zu suchen. Grenzposten können stets aufeinander zählen. Also haben Rachel und ich beschlossen, herzukommen und Eure alte Haut zu retten.«
Zedds Blick fiel auf den Sonnenstrahl, der durch den schmalen Schlitz der Zeltöffnung fiel. »Ihr müßt von hier verschwinden, und zwar noch vor Sonnenuntergang – sonst werdet Ihr getötet. So beeilt euch, lauft, solange ihr noch dazu in der Lage seid.«
Chase machte ein erstauntes Gesicht. »Ich habe doch nicht den ganzen weiten Weg hierher gemacht, um ohne Euch wieder abzuziehen.«
»Aber Ihr begreift nicht ...«
Ein Messer wurde durch die Seitenwand des Zeltes gestoßen und schlitzte die Leinwand von oben nach unten auf. Als einer der Elitesoldaten sich durch den Schlitz zwängte, starrte Zedd ihn verblüfft an; auch er kam ihm irgendwie bekannt vor, doch etwas an ihm stimmte nicht.
»Nicht!«, rief Zedd Chase zu, als der Hüne nach seiner an der Hüfte baumelnden Axt greifen wollte.
»Du rührst dich nicht von der Stelle!«, befahl der durch den Schlitz im Zelt getretene Soldat Chase. »Draußen wartet ein Kamerad, der dich bei der geringsten Bewegung mit dem Schwert durchbohrt.«
Zedd klappte der Unterkiefer runter. »Captain Zimmer?«
»Selbstverständlich. Ich bin gekommen, um Euch hier herauszuholen.«
»Aber... aber Euer Haar ist schwarz.«
Der Captain zeigte ihm sein ansteckendes Lächeln. »Das ist Ruß. Wäre keine gute Idee, sich mitten in Jagangs Feldlager mit blonden Haaren blicken zu lassen. Ich bin gekommen, um Euch zu befreien.«
Zedd konnte es kaum glauben. »Aber Ihr müßt alle von hier verschwinden. Beeilt Euch, bevor die Sonne untergeht. Verlaßt sofort das Lager.«
»Habt Ihr noch mehr Männer mitgebracht?«, wandte sich Chase an den Captain.
»Eine handvoll. Und wer bist du?«
»Er ist ein alter Freund«, klarte Zedd ihn auf. »So hört doch ...«
In diesem Moment drangen von draußen Schreie und lautes Rufen herein. Captain Zimmer stürzte zur Zeltöffnung, als ein Mann seinen Kopf zum Schlitz herein steckte.
»Wir haben damit nichts zu tun«, beantwortete er die unausgesprochene Frage des Captain.
In der Ferne hörte man jemanden laut »Meuchler« brüllen. Im nu war Captain Zimmer hinter Zedd und schob einen Schlüssel in das Schloß seiner Handschellen, die sich mit einem Schnappen lösten; plötzlich hatte Zedd die Hände frei. Der Captain eilte zu Adie hinüber die sich bereits erhoben hatte und ihm den Rücken zudrehte, damit er auch ihre aufschließen konnte.
»Hört sich so an, als wäre dies unsere Chance«, sagte Rachel. »Nutzen wir das Durcheinander, um euch hier rauszuschaffen.«
»Der Kopf der Truppe«, konstatierte Chase mit einem Grinsen.
Kaum waren seine Hände frei, ließ Zedd sich auf die Knie fallen und schloß das Mädchen in seine Arme. Er brachte keinen Laut über die Lippen, doch das war auch nicht nötig. Ihre spindeldürren Arme um seinen Hals zu spüren, allein das war besser als alle Worte.
»Ich hab dich so vermißt Zedd«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Draußen vor dem Zelt war mittlerweile die Hölle losgebrochen. Befehle wurden gebrüllt, Soldaten liefen durcheinander, und in der Ferne erklang das Klirren von aufeinander prallendem Stahl.
Die Schwester stürzte zurück ins Zelt, sah, daß Zedd frei war, und jagte augenblicklich einen Energiestoß durch den Ring um seinen Hals. Der Schock warf ihn der Länge nach zu Boden.
In diesem Moment stürmte hinter Schwester Tahirah eine zweite, deutlich jüngere, blonde Schwester in einem schmutzig braunen Wollkleid ins Zelt. Schwester Tahirah fuhr herum. Die zweite Schwester versetzte ihr einen so harten Schlag, daß sie fast zu Boden gegangen wäre. Ohne zu zögern entfesselte Schwester Tahirah einen Energieblitz, der das Innere des Zeltes mit gleißendem Licht erfüllte. Doch statt die zweite Schwester durch die Zeltöffnung wieder nach draußen zu befördern, wie Zedd erwartet hatte, bewirkte er, daß Schwester Tahirah einen Schrei ausstieß und am Boden zusammenbrach.
»Hab ich dich!«, knurrte die zweite Schwester und setzte ihr einen Stiefel auf den Nacken, um sie am Boden festzuhalten.
Zedd blinzelte entgeistert. »Rikka?«
»Rikka?«, rief auch Captain Zimmer von der anderen Seite des Zeltes. Er schien verdutzt, nicht nur, weil er sie wiedererkannte, sondern vielleicht auch, weil die Mord-Sith ihren Zopf gelöst hatte und ihr blondes Haar jetzt offen trug.
»Zimmer?« Stirnrunzelnd betrachtete sie sein schwarzes Haar. »Was macht Ihr hier?«
»Was ich hier mache? Was habt Ihr hier verloren!« Er deutete mit einer Handbewegung auf ihr Kleid. »Und was in aller Welt habt Ihr da an?«
Rikka setzte ihr typisches, boshaftes Grinsen auf. »Das Kleid einer Schwester.«
»Einer Schwester?«, mischte Zedd sich ein. »Welcher Schwester?«
Rikka zuckte die Achseln. »Einer Schwester, die sich nicht so recht von ihrem Kleid trennen mochte und über dieser Geschichte glatt den Kopf verloren hat.« Mit Daumen und Zeigefinger zog sie ihre Unterlippe ein Stück vor. »Seht Ihr? Ihren Ring habe ich mir ebenfalls ausgeborgt. Ich habe den Spalt ein wenig auseinander gebogen und ihn hier befestigt, damit ich einer echten Schwester auch wirklich ähnlich sehe.«
Rikka riß Schwester Tahirah an den Haaren auf die Beine und stieß sie hinüber zu Adie. »Jetzt nehmt ihr endlich dieses Ding vom Hals.«
»Ich werde nichts dergleichen ...«
Rikka bohrte ihr den Strafer unters Kinn, bis ihr das Blut in Strömen über die Unterlippe sprudelte. Schwester Tahirah drohte zu ersticken und schnappte gequält nach Luft.
»Ich sagte, nehmt Adie dieses Ding vom Hals. Und wagt nicht, mir noch einmal zu widersprechen.«
Mühsam schleppte sich Schwester Tahirah zu Adie hinüber um den Befehl der Mord-Sith auszuführen.
Chase bedachte den noch immer am Boden liegenden Zedd mit zornigem Blick. »Und was machen wir jetzt – sollen wir vielleicht Hölzchen ziehen, um zu ermitteln, wer Euch retten darf?«
»Verdammt! Hört mir denn keiner zu! Ihr müßt alle sofort von hier verschwinden!«
Rachel drohte ihm mit erhobenem Finger. »Zedd, du weißt doch, daß du in Gegenwart von Kindern keine schlimmen Worte sagen darfst.«
Zedd, in seiner Verzweiflung unfähig, ein verständliches Wort hervorzubringen, glotzte offenen Mundes hoch zu Chase.
»Ich weiß schon«, seufzte der Grenzposten. »Manchmal kann sie eine echte Plage sein.«
»Die Sonne wird jeden Moment untergehen!«, brüllte Zedd.
»Es wäre besser, wir warten, bis es so weit ist«, erklärte Captain Zimmer. »Im Schutz der Dunkelheit ist es einfacher, aus dem Lager zu schleichen.«
Plötzlich erfüllte ein lautes Summen das Zelt, das selbst die Luft in Schwingungen versetzte, gefolgt von einem unvermittelten metallischen Knacken. Adie entfuhr ein Aufschrei der Erleichterung, als sich der Ring von ihrem Hals löste.
»Hört mir endlich mal jemand zu?« Zedd rappelte sich mühsam hoch und schüttelte aufgebracht die Fäuste. »Ich habe soeben einen Sonnenuntergangsbann ausgelöst!«
»Einen was?«, fragte Chase.
»Einen Sonnenuntergangsbann – das ist ein Schutzmechanismus aus der Burg der Zauberer, eine Art Schild, der sich, sobald er erkennt, daß andere Schilde verletzt und die dahinter gesicherten Gegenstände entnommen werden, heimlich unter die gestohlenen Gegenstände schmuggelt. Öffnet ein Dieb ihn, um nachzusehen, um was es sich handelt, wird der Bann aktiviert, worauf dieser beim ersten Sonnenuntergang zündet und sämtliche bei der Plünderung gestohlenen Gegenstände vernichtet.«
Schwester Tahirah drohte ihm mit erhobener Faust. »Was seid Ihr für ein Narr.«
Rikka faßte ihn beim Arm. »Also nichts wie weg.«
Chase packte Zedds anderen Arm und riß ihn noch einmal zurück. »Augenblick mal.«
Zedd befreite seine beiden Arme aus dem Griff und deutete durch den Schlitz in der Seitenwand des Zelts auf die untergehende Sonne. »Uns bleiben nur wenige Augenblicke, bis sich alles hier in einen Feuerball verwandelt.«
»Wie groß wäre dieser Feuerball?« fragte Captain Zimmer. Zedd warf verzweifelt die Hände über den Kopf. »Er wird Tausende Opfer fordern, also längst nicht das ganze Feldlager vernichten, aber der gesamte Bereich hier in der Nähe wird dem Erdboden gleichgemacht werden.«
Darauf fingen alle an, durcheinander zu reden, bis Chase ihnen mit einem barschen Kommando nach Ruhe ins Wort fiel. »Hört mir jetzt zu. Wenn wir den Eindruck erwecken, als wollten wir fliehen, wird man uns mit Sicherheit aufgreifen. Captain, Ihr und Eure Männer kommen mit mir. Wir tun so, als wären Zedd und Adie unsere Gefangenen. Rachel ebenfalls – auf dieselbe Weise bin ich bereits ins Lager hineingelangt. Ich hatte nämlich herausgefunden, daß hier auch Kinder festgehalten werden.« Mit einer flüchtigen Handbewegung deutete er auf Rikka und Schwester Tahirah. »Die beiden müssen aussehen wie Schwestern, die Gefangene in Gewahrsam haben, während wir die Aufpasser spielen.«
»Wollt Ihr nicht erst dieses Ding an Eurem Hals loswerden?«, wandte Rikka sich an Zedd.
»Dafür ist jetzt keine Zeit. Gehen wir.«
Adie faßte Zedd beim Arm. »Nein.«
»Was!«
»Hör mir zu, alter Mann. In den Zelten ringsum befinden sich all die Familien mit ihren Kindern. Sie werden sterben. Geh du nur, geh zur Burg der Zauberer. Unterdessen werde ich all die unschuldigen Menschen hier rausschaffen.«
Zedd gefiel diese Idee ganz und gar nicht doch Adie zu widersprechen war ein aussichtsloses Unterfangen, zudem blieb nun wirklich keine Zeit mehr.
»Wir werden uns also aufteilen«, sagte Captain Zimmer. »Ich und meine Männer werden die Rolle der Wachtposten übernehmen und die Männer, Frauen und Kinder zusammen mit Adie von hier fort hinter unsere Linien schaffen.«
Rikka nickte. »Richtet Verna aus, ich werde Zedd begleiten und ihm bei der Rückeroberung der Burg helfen. Er wird eine Mord-Sith brauchen, die ihm den Ärger vom Hals hält.«
Alle blickten um sich, um zu sehen, ob jemand etwas einzuwenden hatte. Da niemand etwas sagte, schien plötzlich alles geklärt.
»Also abgemacht«, sagte Zedd.
Er schlang seine Arme um Adie und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Nimm dich in Acht. Sag Verna, daß ich die Burg zurückerobern werde, und hilf ihr bei der Verteidigung der Pässe.«
Adie nickte. »Sei du auf der Hut und hör auf Chase – es war sehr heldenhaft von ihm, deinetwegen den weiten Weg hierher zu machen.«
Zedd lächelte, doch dann blieb ihm die Luft weg, als Chase sein Gewand packte und ihn mit einem kräftigen Ruck aus dem Zelt beförderte. »Die Sonne geht unter – wir sollten machen, daß wir verschwinden. Und vergeßt nicht, ihr seid unsere Gefangenen.«
»Die Rolle ist mir sozusagen auf den Leib geschrieben«, knurrte Zedd, wahrend er wie ein Sacke Getreide aus dem Zelt geschleift wurde. Adie spürte sein Lächeln. Sie lächelte zurück, dann war sie verschwunden.
»Augenblick!« Zedd langte in einen der Wagen hinein, zog einen Gegenstand hervor, den er vor der Zerstörung retten wollte, und ließ ihn in seine Tasche gleiten. »In Ordnung, jetzt können wir gehen.«
Das Feldlager draußen vor dem Zelt befand sich in heillosem Durcheinander. Elitetruppen in höchster Alarmbereitschaft hasteten auf ihrem Weg zu den Kommandozelten mit gezogenen Waffen vorbei. Andere Truppen eilten zum Ring aus Barrikaden hinüber. Trompeten bliesen Alarm und riefen die Soldaten mit verschlüsselten Kommandos auf ihre jeweiligen Positionen. Zedd befürchtete schon, seine kleine Gruppe könnte festgehalten und womöglich verhört werden.
Statt abzuwarten, bis es dazu kam, streckte Chase die Hand aus und schnappte sich einen der vorübereilenden Soldaten. »Was ist in dich gefahren? Schnapp dir gefälligst ein paar Männer, um die Gefangenen zu bewachen, bis ich sie an einen sicheren Ort gebracht habe! Der Kaiser verlangt unseren Kopf, wenn wir sie entkommen lassen.«
Der Soldat rief rasch ein Dutzend Soldaten zusammen und schloß sich der kleinen aus Rikka, Schwester Tahirah, Rachel und Zedd bestehenden Gruppe an. Rachel spielte die Rolle des kleinen, vor Angst heulenden Mädchens ziemlich überzeugend. Der besseren Wirkung wegen rüttelte Chase sie ab und zu durch und brüllte sie an, sie solle endlich die Klappe halten. Ein Blick über seine Schulter zeigte Zedd, daß die Sonne bereits den Horizont berührte, worauf er der vorneweg laufenden Rikka knurrend riet, einen Schritt zuzulegen.
An den Barrikaden wurden sie von den finster dreinblickenden Wachtposten erst eingehend gemustert, ehe diese sie passieren ließen. Da ihre eigentliche Aufgabe darin bestand, niemanden ins Lager hereinzulassen, versetzte diese Gruppe aus eigenen Truppen sowie einigen Gefangenen auf dem Weg nach draußen sie in vorübergehende Verwirrung, bis sich schließlich einer von ihnen dazu durchrang, sich ihnen in den Weg zu stellen, um sie anzuhalten und zu befragen.
Chase stieß ihn mit gestrecktem Arm zur Seite. »Aus dem Weg, Idiot! Befehl des Kaisers!«
Mit gerunzelter Stirn verfolgte er. wie die kleine Prozession an ihm vorüberhastete. Während er noch überlegte, wie er sich verhalten sollte, waren sie bereits vorbei und nicht mehr zu sehen. Das äußere, größere Feldlager hatte sie verschluckt.
Kurz darauf hatten sie den zentralen Bereich des Lagers hinter sich gelassen, doch schon wenig später machten gewöhnliche Soldaten, die Rikka der Gruppe vorauseilen sahen, erneut Anstalten, sich ihnen in den Weg zu stellen. Eine schöne Frau, hier, inmitten dieser primitiven Burschen, zog Ärger geradezu magnetisch an, und angesichts der Verwirrung, die diese Soldaten drüben bei den Kommandozelten sahen, glaubten sie freie Hand zu haben – zumindest, solange ihre Offiziere anderweitig beschäftigt waren. Rikka und Chase setzten alles daran, daß die kleine Gruppe ihr forsches Tempo beibehielt, doch plötzlich schlossen die Soldaten grinsend ihre Reihen und versperrten ihnen den Weg. Einer der Soldaten, dem zwei Schneidezähne fehlten, löste sich aus der Front seiner Kameraden und hielt, einen Daumen hinter seinen Gürtel gehakt, die andere Hand in die Höhe.
»Augenblick mal. Ich könnte mir vorstellen, daß die Damen gern auf einen Besuch bei uns hereinschauen würden.«
Rachel zögerte nicht eine Sekunde; sie langte unter den Saum ihres Kleides und zog ein Messer. Ohne ihre Schritte zu bremsen oder sich auch nur umzusehen, reichte sie es über ihre Schulter. In einer einzigen fließenden Bewegung, und ohne in seiner Vorwärtsbewegung innezuhalten, faßte Chase es an der Spitze und schleuderte es auf den Zahnlosen. Es bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch bis zum Heft in seine Stirn.
Noch während er nach hinten taumelte, reichte Rachel bereits das zweite Messer über ihre Schulter. Chase nahm es entgegen und warf. Als auch der zweite in einer schraubenden Bewegung tot zu Boden sank, traten die übrigen Männer zur Seite und ließen die kleine vorwärts stürmende Gruppe passieren. Tödliche Auseinandersetzungen wie diese waren im Lager der Imperialen Ordnung an der Tagesordnung.
Elitetruppen oder nicht – die einfachen Soldaten vertrauten auf ihre zahlenmäßige Überlegenheit und waren sich angesichts der schönen Frau in ihrer Mitte sicher, was sie wollten. Schon drängten von allen Seiten Soldaten herbei.
Zedd riskierte einen kurzen Blick nach hinten. »Jetzt. Runter auf den Boden!«
Rikka, Chase, Rachel und Zedd warfen sich in den Staub.
Einen winzigen Augenblick lang verharrte jeder der Umstehenden und starrte überrascht auf sie hinab. Auch die Soldaten, die sie eskortiert hatten, die Waffen für den erwarteten Kampf bereits in den Händen, waren verdutzt stehen geblieben.
Schwester Tahirah erkannte ihre Chance und schrie: »Hilfe! Diese Leute sind ...«
Die Welt erglühte in einem gleißend grellen Licht.
Einen Lidschlag später ließ eine krachende Explosion den Boden erzittern. Es folgte eine Wand aus Trümmerteilen, getrieben von dröhnendem Getöse.
Soldaten wurden in die Luft geschleudert, andere wurden von umherfliegenden Trümmerteilen niedergestreckt. Die Elitetruppen, die ihnen Geleitschutz gegeben hatten, wurden über Zedd hinweg durch die Luft gewirbelt.
Schwester Tahirah hatte sich im Augenblick des gleißend hellen Lichtblitzes umgedreht. Ein mit unglaublicher Geschwindigkeit heranfliegendes Wagenrad traf sie in Brusthöhe und trennte ihren Körper in zwei Teile. Ohne auch nur abgebremst zu werden, segelte das blutbesudelte Wagenrad weiter, während sich die zerfetzten Überreste der Schwester inmitten der Leichen zahlloser Soldaten über den Boden verteilten.
Das Grollen der Explosion hinter ihnen war noch nicht verklungen, da erhoben sich in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne die Schreie gräßlich verstümmelter Soldaten.
Zedd hoffte von ganzem Herzen, daß Adie auf ihrer Flucht nicht zu viel Zeit verloren hatte.
Chase packte Zedds Gewand an einer Schulter und zog ihn auf die Beine, während er mit seiner anderen Hand Rachel aufsammelte. Rikka packte die andere Schulter von Zedds Gewand und zog ihn nach vorn, bis seine beiden Retter sich schließlich mit ihm zusammen mitten in das Blutbad stürzten.
»Ihr hättet mich die Schwester zwingen lassen sollen, Euch den Halsring abzunehmen, als wir noch die Gelegenheit hatten«, rief Rikka ihm im Laufen zu.
»Hätten wir uns die Zeit genommen, waren wir dort hinten von dem Feuerball erfaßt worden.«
»Vermutlich«, antwortete sie.
Unter den Soldaten herrschte heilloses Durcheinander. In diesem Chaos fiel niemandem auf, daß die fünf im Begriff waren zu entkommen. Als sie sich hastig einen Weg durch das endlose Feldlager der Imperialen Ordnung bahnten, legte Zedd einen Arm um Rikkas Schulter und nahm sie beiseite.
»Danke, daß Ihr gekommen seid, um mich zu retten.«
Sie zeigte ihm ein gerissenes Lächeln. »Ich würde Euch niemals diesen Bestien überlassen – nicht nach allem, was Ihr für uns getan habt. Außerdem hat Lord Rahl Cara, die ihn beschützt; ich bin sicher, er wünscht sich auch für seinen Großvater den Schutz einer Mord-Sith.«
Zedd hatte sich also nicht getäuscht. Die ganze Welt stand Kopf.
»In einem Versteck haben wir Pferde sowie ein paar Vorräte untergebracht«, sagte Chase. »Trotzdem sollten wir auf dem Weg aus dem Lager ein zusätzliches Pferd für Rikka mitnehmen.«
Rachel hatte die Arme um Chases Hals geschlungen und blickte über seine Schulter. Die Stirn in ernste Falten gelegt, meinte sie leise zu Zedd: »Chase ist bedrückt, weil er die meisten seiner Waffen zurücklassen muß.«
Zedds Blick fiel auf die Streitaxt an seiner Hüfte, das Schwert an seiner anderen und auf die beiden Messer, die er hinten in seinem Gürtel stecken hatte. »Ja, ich sehe ein, daß es einen Mann verdrießlich stimmen kann, wenn er nur unzureichend bewaffnet ist.«
»Hier gefällt es mir nicht«, flüsterte Rachel Chase ins Ohr und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. Er tätschelte ihr den Rücken. »Nicht mehr lange, und wir sind wieder im Wald, Kleines.«
Ein innigeres Bild hätte sich Zedd hier, inmitten von Gebrüll und Tod, nicht vorzustellen vermocht.