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Ann vernahm den fernen Widerhall von Schritten, die sich in dem langen, menschenleeren Gang draußen vor der äußeren Tür ihres vergessenen Verlieses unter dem Palast des Volkes, dem Sitz der Macht in D’Hara, näherten. Längst war sie nicht mehr gewiß, ob es Tag oder Nacht war; in der lautlosen Finsternis war ihr jedes Zeitgefühl abhanden gekommen. Die Laterne sparte sie sich für die Momente auf, da man ihr das Essen brachte, sie in ihrem Reisebuch an Verna schrieb – oder für die Augenblicke, in denen sie sich so allein fühlte, daß sie froh war, zumindest die Gesellschaft einer winzigen Flamme zu haben.

In der Dunkelheit blieb ihr nichts weiter zu tun, als über ihr Leben und alles, wofür sie so hart gearbeitet hatte, nachzudenken. Jahrhundertelang war sie den Schwestern des Lichts in ihrem Bemühen, dem Licht des Schöpfers in der Welt zum Triumph zu verhelfen und dafür zu sorgen, daß der Hüter der Unterwelt blieb, wo er hingehörte – in seinem Reich, der Welt der Toten –, ein Vorbild gewesen.

Jahrhundertelang hatte sie mit Bangen jene Zeit erwartet, die ihnen laut Prophezeiungen nun bevorstand.

Fünfhundert Jahre hatte sie auf die Geburt des Einen gewartet, der es vermochte, sie erfolgreich in den Kampf um das Überleben der Gabe des Schöpfers, der Magie, zu führen – gegen den Widerstand all jener, die dieses Wissen aus der Welt zu verbannen suchten. Fünfhundert Jahre lang hatte sie darauf hingearbeitet, ihm die Möglichkeit zu geben zu tun, was er tun mußte: den Kräften, die die Magie auslöschen wollten, Einhalt zu gebieten.

Die Prophezeiungen besagten, nur Richard habe eine Chance, ihre Sache vor dem Untergang zu bewahren und ihre Feinde daran zu hindern, ein graues Leichentuch über die Menschheit zu breiten, nur er könne ein Aussterben der Gabe verhindern. Keine Rede davon, daß er obsiegen werde, nur daß er die Möglichkeit habe, ihnen zum Sieg zu verhelfen. Ohne Richard – so viel galt als sicher – war alle Hoffnung verloren. Aus diesem Grund hatte Ann ihm lange vor seiner Geburt und lange, bevor er zu ihrem Führer wurde, ihr Leben gewidmet.

Kahlan hingegen sah in Anns Tun vor allem die ebenso unzulässige wie unbeholfene Einmischung in das Leben eines anderen. In ihren Augen waren Anns Bemühungen vielmehr die Ursache dessen, was sie am meisten fürchtete. Der Gedanke, Kahlan könnte womöglich sogar Recht haben, verstörte Ann manchmal zutiefst. Vielleicht war es eine Fügung des Schicksals, daß Richard auf die Welt gekommen war und aus freien Stücken beschlossen hatte, zu tun, was ihnen im Kampf um den Erhalt der Gabe zum Sieg verhelfen würde. Zumindest Zedd war absolut sicher, daß Richard nur aufgrund seines Verstandes, seines freien Willens und in bewußter Absicht ihr Führer hatte werden können.

Wenn das zutraf, dann hatte Ann sie mit ihrem Versuch, auf Dinge Einfluß zu nehmen, die man weder beeinflussen konnte noch durfte, an den Rand des Untergangs geführt.

Die Schritte kamen naher. Vielleicht war es Essenszeit? Sie verspürte keinen Hunger.

Wenn sie ihr Essen bekam, wurde es auf das Ende eines langes Stabes plaziert, den man dann durch die kleine Öffnung in der äußeren Tür, durch den mit einem Schutzschild versehenen Vorraum, anschließend durch die Öffnung in der zweiten, inneren Tür und schließlich bis zu Ann schob. Nathan war nicht bereit, das geringste Fluchtrisiko einzugehen, indem er die Wachen ihre Zellentür öffnen ließ, nur um ihr die Mahlzeiten zu bringen.

Bislang hatte man ihr verschiedene Brotsorten, Fleischgerichte, Gemüse und Wasserschläuche in die Zelle geschoben. Obwohl keineswegs schlecht, empfand sie das Essen als unbefriedigend. Auch die erlesensten Speisen vermochten nicht zu befriedigen, wenn man sie in einem Verlies zu sich nehmen mußte.

Als Prälatin hatte sie sich bisweilen als Gefangene ihres Amtes empfunden. Nur selten hatte sie das Refektorium aufgesucht, wo die Schwestern des Lichts – vor allem in den späteren Jahren – für gewöhnlich ihre Mahlzeiten einnahmen. Die Prälatin beim Abendessen unter sich zu wissen, erzeugte bei allen eine angespannte Nervosität. Und kam es gar zu häufig vor, ging etwas von ihrer natürlichen Beklommenheit, von ihrem Unbehagen in Gegenwart einer Autoritätsperson verloren.

Nach Anns fester Überzeugung war eine gewisse Distanz, ein gewisser schuldiger Respekt, zur Aufrechterhaltung der Disziplin unverzichtbar – insbesondere an einem Ort, wo ein Bann den Lauf der Zeit für die dort Lebenden verlangsamte. Äußerlich wirkte Ann etwa wie eine Siebzigjährige, aber da während ihrer Zeit unter dem Bann, mit dem der Palast der Propheten belegt war, ihr Alterungsprozeß drastisch verlangsamt worden war, stand in Kürze bereits ihr tausendster Geburtstag an.

Natürlich hatte all ihre Disziplin letztendlich kaum etwas genutzt. Unter ihrer Obhut als Prälatin hatten die Schwestern der Finsternis ihre Gemeinschaft unterwandert. Es gab Hunderte von Schwestern, und niemand vermochte genau zu sagen, wie viele insgeheim einen Eid auf den Hüter geleistet hatten; offenbar jedoch hatten seine verlockenden Versprechungen Wirkung hinterlassen. Natürlich waren sie nichts als blanke Illusion, aber wie erklärte man das jemandem, der ihnen bereits erlegen war? Für Frauen, die jeden außerhalb des Palasts altern und sterben sahen, während sie selbst scheinbar ewiger Jugend frönten, war Unsterblichkeit eine Verlockung, der sie nur schwerlich widerstehen konnten.

Wer von den Schwestern Kinder hatte, sah, wie sie des Palasts verwiesen wurden, um unter normalen Verhältnissen aufzuwachsen, sah diese selbst und deren Kinder alt werden und sterben. Einer Frau, die diese Dinge sah, die den ständigen Verfall und Tod all ihrer Lieben vor Augen hatte, während sie selbst für immer jung, attraktiv und begehrenswert zu bleiben schien, mußte das Angebot der Unsterblichkeit zunehmend verlockend erscheinen, je offenkundiger die eigene Blüte zu verblassen drohte.

Altern, das war der Eintritt in ein Endstadium, bedeutete das Ende des Lebens: im Palast der Propheten war es eine endlos lange, schwere Prüfung. Ann war bereits seit mehreren Jahrhunderten alt. Lange Zeit jung zu bleiben war eine wundervolle Erfahrung, ein langes Alter hingegen nicht – zumindest nicht für jeden. Für Ann war das Leben an sich wundervoll – und nicht so sehr eine Frage des Alters und des Wissens, das sie sich angeeignet hatte. Aber das empfand durchaus nicht jeder so.

Jetzt, nach der Zerstörung des Palasts, würden sie alle im selben Tempo altern wie alle anderen. Hatte Ann vor kurzem noch auf eine Zukunft von vielleicht einhundert Jahren blicken können, so stand ihr jetzt womöglich nur ein flüchtiger Augenblick von einem Jahrzehnt bevor – viel mehr ganz sicher nicht.

Allerdings bezweifelte sie. daß sie in diesem feuchten Loch, abgeschnitten von Licht und Leben, überhaupt so lange überleben würde.

Irgendwie kam es ihr gar nicht so vor, als wären sie und Nathan fast eintausend Jahre alt. Das Gefühl, im normalen Tempo außerhalb des Banns zu altern, war ihr unbekannt, dennoch meinte sie, keinen großen Unterschied zu den außerhalb des Palasts Lebenden feststellen zu können. Vielmehr glaubte sie, der Bann, der ihren Alterungsprozeß drosselte, beeinflußte auch ihre Zeitwahrnehmung – zumindest in gewissem Maße.

Welchen Sinn hatte ihr Leben gehabt? Wie viel Gutes hatte sie, bei ehrlicher Betrachtung, tatsächlich erreicht? Sie hörte, wie sich die Tür am Ende des zu ihrer Zelle führenden Ganges scharrend öffnete, und beschloß, die Nahrungsaufnahme zu verweigern. Sie würde keinerlei Nahrung mehr zu sich nehmen, bis Nathan, wie sie es verlangt hatte, kam und mit ihr sprach.

Manchmal gab man ihr zum Essen etwas Wein. Den schickte ihr Nathan, um sie zu ärgern, dessen war sie sich sicher. Zuweilen hatte auch er in seinem Gefängnis im Palast der Propheten Wein verlangt. Ann hatte die betreffenden Anfragen stets vorgelegt bekommen und sie ausnahmslos abschlägig beschieden.

Waren Zauberer an sich bereits gefährlich genug, so waren Propheten – also Zauberer mit dem Talent zu Prophezeiungen – potentiell um ein Vielfaches gefährlicher, am gefährlichsten jedoch waren betrunkene Propheten.

Eine Prophezeiung aufs Geratewohl abzugeben kam einer Aufforderung an das Unheil gleich. Es war vorgekommen, daß eine einfache Prophezeiung, die aus dem Gefängnis der steinernen Mauern des Palasts der Propheten gedrungen war, Kriege ausgelöst hatte.

Zuweilen hatte Nathan um weibliche Gesellschaft ersucht. Diese Anfragen waren Ann am verhaßtesten gewesen, denn sie hatte ihnen gelegentlich stattgegeben. Irgendwie hatte sie sich dazu verpflichtet gefühlt. Nathan, eingesperrt in seine Gemächer, sein einziges Verbrechen seine Abstammung und seine Talente, hatte nur wenig vom Leben, und für den Palast war es eine Kleinigkeit, ihm gelegentlich einen Damenbesuch zu bezahlen.

Nicht selten hatte er die Gelegenheit genutzt, sich über die Frauen lustig zu machen – und eine Prophezeiung abgegeben, die sie in die Flucht getrieben hatte, ehe man mit ihnen sprechen und sie zum Schweigen bringen konnte.

Ohne eine entsprechende Ausbildung war niemand befugt, Prophezeiungen zu Gesicht zu bekommen. Wer nicht über das nötige Verständnis ihrer Feinheiten verfügte, neigte leicht dazu, sie fehlzudeuten. Eine Prophezeiung gegenüber Uneingeweihten zu enthüllen, das war, als werfe man eine brennende Fackel in trockenes Gras.

Prophezeiungen waren ausschließlich den Eingeweihten vorbehalten.

Beim Gedanken, daß der Prophet auf freiem Fuß war, zog sich Anns Magen zu einem festen Knoten zusammen. Gleichwohl hatte sie ihn zuweilen heimlich selbst befreit, damit er sie auf einer wichtigen Reise begleiten konnte – meist waren dies Reisen gewesen, die der Beeinflussung eines bestimmten Aspekts in Richards Leben galten, oder präziser, dem Versuch, Richards Geburt und sein späteres Leben zu gewährleisten. Aber Nathan war nicht nur der personifizierte Ärger, er war auch ein bemerkenswerter Prophet mit einem aufrichtigen Interesse, ihre Seite triumphieren zu sehen. Schließlich vermochte er anhand der Prophezeiungen zu erkennen, was andernfalls geschehen würde; wenn er eine Prophezeiung sah, dann in all ihrer erschreckenden Klarheit.

Nathan trug stets einen Rada’Han – einen Halsring –, der es ihr oder jeder anderen Schwester ermöglichte, ihn zu kontrollieren, weshalb er als ihr Reisebegleiter keine unmittelbare Gefahr für die Welt darstellte. Er mußte tun, was immer sie befahl, und gehen, wohin sie ihn beorderte. Er war auf ihren gemeinsamen Reisen also nicht wirklich frei.

Das hatte sich grundlegend geändert, denn er hatte den Rada’Han inzwischen abgelegt.

Ann hörte die Schritte vor der äußeren Tür stehen bleiben. Gedämpfte Stimmen drangen zu ihr in die Zelle. Hätte sie ohne weiteres auf ihr Han zugreifen können, hätte sie ihr Gehör auf diese Stimmen einstellen und ihre Worte mühelos verstehen können. Sie seufzte. Nicht einmal dieses Talent nützte ihr hier drinnen etwas, an diesem Ort, der unter dem durch die Gestalt des Palasts gebildeten Bann stand. Es ergäbe wohl auch wenig Sinn, solch wohl durchdachte Pläne zur Unterbindung der Magie von Außenstehenden zu entwickeln und gleichzeitig zuzulassen, daß sie innerhalb dieser Wände geflüsterte Gespräche belauschten.

Die äußere Tür protestierte kreischend, als sie aufgezogen wurde. Das war neu. Seit dem Tag ihrer Inhaftierung hatte niemand mehr die Außentür geöffnet.

Ann eilte an die Tür ihrer winzigen Zelle, vor das kaum erkennbare Lichtquadrat, das die winzige Öffnung in der Eisentür markierte. Sie packte die Eisenstäbe mit beiden Händen und brachte ihr Gesicht ganz nah heran, um zu sehen, wer dort draußen stand, und was der Betreffende dort tat.

Als sie einen Schlüssel im Schloß rasseln hörte, trat Ann von der Tür zurück. Mit einem hallenden Klirren wurde der Riegel zurückgeschoben, und knirschend öffnete sich die Tür. Kühle Luft strömte herein, viel frischer als der abgestandene Mief den einzuatmen sie gewohnt war. Ein gelblicher Lichtschein füllte schwankend die Zelle, als am Ende eines in rotes Leder gehüllten Armes eine Laterne in die Zelle gehalten wurde. Eine Mord-Sith.

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