Verna blieb stehen, als sie Rikka entschlossenen Schritts ihren Weg kreuzen sah. Sie bekam die Mord-Sith beim Arm zu fassen.
»Was gibt’s, Prälatin?«, fragte Rikka schroff.
»Habt Ihr gehört, um was es dabei geht?«
Rikka sah sie verständnislos an. »Worum es wobei geht?«
Der Bote war auf der gegenüberliegenden Seite der behelfsmäßigen Wegkreuzung stehen geblieben. Pferde trabten in beiden Richtungen vorüber, eines davon mit einem Karren voller Wasserfässer im Schlepp. Auf der Nebenstraße kreuzte ein Trupp schwerbewaffneter Soldaten. Das Lager, eines von mehreren mit einem Schutzwall umgebenen Feldlagern, hatte sich mittlerweile zu einer Stadt entwickelt, durchzogen von einem dichten Netz aus Wegen und Straßen, die mitten durch das Chaos aus kampierenden Soldaten, Pferden und Karren führten.
»Irgend etwas stimmt nicht«, sagte Verna.
»Tut mir leid, mir ist nichts zu Ohren gekommen.«
»Habt Ihr gerade zu tun?«
»Nichts Dringendes.«
Verna packte Rikkas Arm mit festem Griff und drängte sie weiterzugehen. »General Meiffert hat nach mir geschickt. Vielleicht kommt Ihr am besten mit. Fall er Euch ebenfalls benötigt, müssen wir nicht erst lange nach Euch suchen lassen.«
Rikka zuckte die Achseln. »Mir soll’s recht sein.«
Kurz darauf blieb der Bote am Rand der Lagerstraße stehen. »Dort drüben, Prälatin. General Meiffert trug mir auf, Euch zu dem Zelt bei den Bäumen zu bringen.«
Verna dankte dem jungen Burschen und suchte sich, begleitet von Rikka, einen Weg durch das morastige Gelände. Das Zelt stand, ein wenig abseits des allgemeinen Lagertreibens, in einem ruhigeren Bereich, wo die Offiziere des öfteren mit den eben von ihren Patrouillen zurückgekehrten Kundschaftern zusammentrafen.
Die Wachen sahen Verna kommen und steckten kurz den Kopf zum Zelt hinein, um ihre Ankunft anzukündigen. Fast augenblicklich kam General Meiffert aus dem Zelt hervor und eilte ihr entgegen. In seinen blauen Augen funkelte eiserne Entschlossenheit, sein Gesicht dagegen war aschfahl.
»Ich bin unterwegs Rikka begegnet«, erklärte Verna, während General Meiffert sie mit einem flüchtigen Neigen des Kopfes begrüßte. »Ich hielt es für sinnvoll, sie gleich mitzubringen, falls Ihr sie ebenfalls benötigt.«
Der blonde D’Haraner warf Rikka einen kurzen Blick zu. »Ja, sehr gut. Tretet bitte ein, beide.«
Verna hielt ihn am Ärmel zurück. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
Die Augen des Generals wanderten zu Rikka und dann wieder zurück zu Verna. »Es gibt Nachricht von Jagang.«
Rikkas Ton hatte eine gewisse Schärfe, als sie fragte: »Wie konnte ein Bote Jagangs durch unsere Linien brechen, ohne getötet zu werden?«
Es entsprach der üblichen Praxis, niemanden, aus welchem Grund auch immer durch den Paß zu lassen. Nicht einmal eine Maus sollte hindurchschlüpfen können, daher war es unmöglich zu sagen, ob es sich nicht vielleicht um ein Täuschungsmanöver handelte.
»Es handelte sich um einen kleinen Wagen, der von einem einzelnen Pferd gezogen wurde.« Er sah Verna an. »Die Posten vor Ort dachten, der Wagen sei leer und ließen ihn, eingedenk Eurer ausdrücklichen Anweisung, durch.«
Verna war etwas überrascht, daß Anns Warnung sich so buchstäblich erfüllt hatte. »Ein Wagen hat ganz von allein die Grenze überquert? Ein leerer Wagen, ohne Fahrer?«
»Nun, ganz so war es nicht. Die Posten, die ihn bemerkt hatten, hielten ihn für leer. Das Pferd scheint ein Arbeitspferd zu sein, das an Straßen gewöhnt ist; es trottete, wie man es ihm beigebracht hatte, gemächlich die Straße entlang.« Als er Vernas verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte, preßte General Meiffert verlegen die Lippen aufeinander, ehe er dem Zelt den Rücken kehrte. »Kommt mit, dann zeige ich es Euch.«
Er führte sie zum dritten Zelt in der Reihe und hielt die Zeltöffnung zur Seite. Verna zog den Kopf ein und verschwand im Innern, gefolgt von Rikka und dem General. Drinnen, auf einer Bank, saß eine junge Novizin, Holly, den Arm um ein überaus verängstigt aussehendes Mädchen von höchstens zehn Jahren gelegt.
»Ich bat Holly, bei ihr zur bleiben«, erklärte General Meiffert mit leiser Stimme. »Ich dachte, es würde sie vielleicht nicht so nervös machen wie ein Soldat, der auf sie aufpaßt.«
»Natürlich«, sagte Verna. »Sehr weise von Euch. Demnach war sie es also, die die Nachricht überbracht hat?«
Der junge General nickte. »Sie saß hinten auf der Ladefläche, weshalb die Soldaten, die ihn kommen sahen, ihn zunächst für leer hielten.«
Jetzt wurde Verna auch klar, warum eine solche Botin hatte durchschlüpfen können. Es war ziemlich unwahrscheinlich; daß die Posten ein Kind töten würden, zumal die Schwestern es einer Prüfung unterziehen konnten, um sicherzustellen, daß es keine Gefahr darstellte. Verna fragte sich, was Zedd wohl dazu zu sagen hatte. Eine Bedrohung kam selten allein, und obendrein meist überraschend. Behutsam näherte sich Verna den beiden auf der Bank und beugte sich lächelnd zu ihnen hinunter.
»Mein Name ist Verna. Geht es dir gut, Kleines?« Das Mädchen nickte schüchtern. »Möchtest du vielleicht etwas zu essen?«
Wieder nickte es, während es leicht zitternd die auf es herabstarrenden Erwachsenen mit ihren großen, braunen Augen musterte.
»Prälatin«, warf Holly ein, »Valery ist bereits unterwegs, um ihr etwas zu holen.«
»Verstehe«, sagte Verna, ohne von ihrem Lächeln abzulassen. Sie ließ sich auf die Knie herunter und tätschelte begütigend die in seinem Schoß liegenden Hände des Mädchens. »Bist du hier aus der Gegend?«
Das Mädchen kniff seine großen braunen Augen halb zusammen, wie um abzuschätzen, ob von der vor ihr hockenden erwachsenen Frau eine Gefahr ausging. Vernas Lächeln und die freundliche Berührung schien es ein wenig zu beruhigen. »Etwas nördlich von hier, Ma’am.«
»Hat dich jemand zu uns geschickt?«
Ihre großen braunen Augen füllten sich mit Tränen, aber sie fing nicht an zu weinen. »Mein Eltern sind dort unten, auf der anderen Seite vom Paß. Die Soldaten halten sie fest. Als Gäste, sagen sie. Soldaten sind gekommen und haben uns zur Armee gebracht. Dort mußten wir die letzten Wochen bleiben. Heute haben sie mir dann gesagt, ich soll einen Brief über den Paß zu den Leuten hier bringen. Sie haben gesagt, wenn ich tue, was man mir sagt, lassen sie meine Mutter, meinen Vater und mich wieder nach Hause gehen.«
Verna tätschelte erneut die Hände der Kleinen. »Verstehe. Nun, das war ganz richtig von dir, daß du deinen Eltern hilfst.«
»Ich will nur nach Hause.«
»Wirst du auch, Kleines.« Verna richtete sich wieder auf. Bemüht, sich ihre Anspannung nicht anmerken zu lassen, verabschiedete sich Verna mit einem Lächeln von den Mädchen, bevor sie die anderen aus dem Zelt hinausgeleitete. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was Jagang mit diesem Schachzug bezweckte.
»Was steht in dem Brief?«, fragte Verna, während sie zum Kommandozelt hinübereilten.
Unmittelbar vor dem Zelt blieb General Meiffert zögernd stehen und sah Verna, während er mit dem Daumen über einen der Messingknöpfe an seiner Uniformjacke rieb, in die Augen. »Es wäre mir ganz lieb, wenn Ihr ihn selbst lesen würdet, Prälatin. In einigen Punkten ist er recht unmißverständlich; andere dagegen ... nun, ich hatte gehofft, Ihr würdet es mir vielleicht erklären können.«
Als sie in das Zelt trat, sah Verna Captain Zimmer bereits an der Seite warten. Von dem gewohnten ansteckenden Lächeln, das den Mann mit dem markanten Kinn sonst auszeichnete, war nichts zu sehen. Der Captain war Befehlshaber der d’Haranischen Spezialtruppen, einer Einheit, deren Aufgabe es war, Tag und Nacht heimlich auf feindliches Gebiet vorzudringen und so viele Gegner wie möglich zu töten. Der Vorrat schien unerschöpflich; dessen ungeachtet schien der Captain fest entschlossen, ihn bis zur Neige aufzubrauchen.
Plötzlich blitzte es, und alle hoben kurz den Kopf; das Unwetter kam offenbar näher. Nach einer kurzen Verzögerung erbebte der Erdboden unter dem lang anhaltenden Donnergrollen.
General Meiffert nahm ein kleines, zusammengefaltetes Stück Papier vom Tisch und reichte es Verna.
»Dies ist der Brief, den das Mädchen bei sich hatte.«
Nach einem kurzen Blick in die grimmigen Mienen der beiden Offiziere faltete Verna das Blatt Papier auseinander und las den in säuberlicher Handschrift abgefaßten Text:
Ich habe Zauberer Zorander sowie eine Hexenmeisterin namens Adie in meiner Gewalt; zudem bin ich im Besitz der Burg der Zauberer mit allem, was sich darin befindet. Mein Schleifer wird mir in Kürze Lord Rahl und die Mutter Konfessor übergeben.
Eure Sache ist verloren. Im Falle einer sofortigen Kapitulation und der Freigabe der Pässe werde ich Eure Truppen verschonen. Andernfalls werde ich sie bis zum letzten Mann töten.
Sie ließ den Arm mit dem Blatt Papier in ihren zitternden Fingern sinken.
»Gütiger Schöpfer«, entfuhr es Verna leise. Ihr schwindelte.
Rikka riß ihr den Zettel aus der Hand, kehrte ihr den Rücken zu und las ihn durch. Sie stieß einen leisen Fluch aus.
»Wir müssen ihn dort herausholen«, erklärte Rikka. »Wir müssen Zedd und Adie aus der Gewalt Jagangs befreien.«
Captain Zimmer schüttelte den Kopf. »Ein solches Vorhaben ist völlig undurchführbar.«
Rikkas Gesicht wurde rot vor Zorn. »Er hat mir das Leben gerettet! Und Euch auch! Wir müssen ihn dort rausholen!«
Anders als die aufgebrachte Rikka war Verna um einen milderen Ton bemüht. »Was Zedd betrifft, empfinden wir wohl alle das Gleiche; wahrscheinlich hat er jedem von uns bereits mehrfach das Leben gerettet. Bedauerlicherweise wird Jagang ihn aus ebendiesem Grund nur noch übler mißhandeln.«
Rikka fuchtelte mit der Nachricht vor ihren Gesichtern. »Also lassen wir ihn einfach dort krepieren? Wir sollen zulassen, daß Jagang ihn umbringt? Schleichen wir uns heimlich ein, was auch immer!«
Captain Zimmer legte den Handballen auf das lange Messer an seinem Gürtel. »Herrin Rikka, angenommen, ich verrate Euch, daß ich hier irgendwo in diesem Lager einen Mann versteckt habe, und ließe Euch, ohne daß Euch jemand behelligt oder irgendwelche Fragen stellt, ungehindert nach ihm suchen, wie lange würdet Ihr wohl brauchen, um ihn zu finden?«
»Aber man wird sie nicht in irgendeinem x-beliebigen Zelt untergebracht haben«, gab Rikka zurück. »Nehmt zum Beispiel uns. Als die Nachricht eintraf, wurde sie da in irgendein beliebiges Zelt dieses Lagers gebracht? Nein, sie gelangte an exakt die Stelle, wo man sich mit derartigen Dingen befaßt.«
Captain Zimmer deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Feind jenseits des Gebirges. »Ich war schon so oft im Lager der Imperialen Ordnung, daß ich es kaum noch zählen kann,«, sagte er. »Ich glaube, Ihr macht Euch völlig falsche Vorstellungen von der ungeheuren Größe ihres Feldlagers. Millionen von Kriegern lagern dort.
Das ganze Feldlager ist ein einziger von Halsabschneidern bevölkerter Sumpf, in dem das blanke Chaos regiert. Genau diese heillose Unordnung ermöglicht es uns ja, unbemerkt hineinzuschleichen, ein paar von ihnen zu töten und gleich darauf wieder abzutauchen. Es ist ganz sicher kein Ort, an dem man länger verweilen möchte. Fremde fallen dort für gewöhnlich auf, erst recht, wenn sie blond sind. Das soll allerdings nicht heißen, daß meine Manner und ich nicht bereit waren, bei einem Versuch, Zedd dort herauszuholen, unser Leben aufs Spiel zu setzen; ich will damit nur sagen, daß wir unser Leben umsonst aufopfern würden.«
Ein Gefühl grenzenloser Hoffnungslosigkeit breitete sich im Zelt aus.
Der General gestikulierte mit dem Blatt Papier, nachdem Rikka es ihm zurückgegeben hatte. »Habt Ihr eine Vermutung, was ein Schleifer sein könnte, Prälatin?«
Verna sah ihm in seine festen, blauen Augen. »Ein Seelenräuber.«
Der General legte die Stirn in Falten. »Ein was?«
»Damals, im Großen Krieg vor dreitausend Jahren, verwandelten die Zauberer Menschen in Waffen. Eine dieser Waffen waren die Traumwandler wie Jagang. Am besten läßt es sich vielleicht so erklären: Ein Schleifer ist in gewisser Hinsicht dasselbe wie ein Traumwandler. Ein Traumwandler vermag in den Verstand eines Menschen einzudringen und ihn völlig zu beherrschen. Mit einem Schleifer verhält es sich meines Wissens ähnlich, nur daß er sich des Geistes, der Seele, bemächtigt.«
Rikka schnitt eine Grimasse. »Warum sollte jemand so etwas tun?«
Verna warf in einer verzweifelten Geste die Hände in die Luft. »Genau weiß ich das auch nicht. Um sein Opfer zu beherrschen, vielleicht. Die Veränderung der mit der Gabe Gesegneten ist eine von alters her übliche Praxis. Man veränderte mit der Gabe Gesegnete mit Hilfe von Magie, um sie einem bestimmten Verwendungszweck anzupassen. Mit subtraktiver Magie entfernte man bestimmte unerwünschte Eigenschaften, ehe man anschließend, mit Hilfe additiver Magie, ein bestimmtes erwünschtes Wesensmerkmal hinzufügte oder hervorhob. Auf diese Weise entstanden damals Ungeheuer in Menschengestalt.
Ich bin auf diesem Gebiet nicht sonderlich bewandert, aber nach meiner Ernennung zur Prälatin hatte ich Zugang zu Büchern, die ich nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Dort fand ich auch den Verweis auf die Schleifer. Sie wurden benutzt, um in das Wesen einer Person hineinzuschlüpfen und sie ihres innersten Kerns zu berauben – ihres Geistes, ihrer Seele.
Die Verwandlung von Personen mit dem Ziel, Schleifer zu erschaffen, ist eine lange ausgestorbene Kunst. Ich fürchte, mit meinen Kenntnissen zu diesem Thema ist es nicht weit her. Ich meine aber gelesen zu haben, daß diese Schleifer genannten Geschöpfe damals ungemein gefährlich waren.«
»Eine lange ausgestorbene Kunst«, murmelte der General. Er sah aus, als bereitete es ihm größte Mühe, sich zu beherrschen. »Die damaligen Zauberer schufen also Waffen wie diesen Schleifer, aber wieso war Jagang dazu imstande? Er ist kein Zauberer. Könnte es sein, daß er ganz einfach lügt?«
Verna ließ sich die Frage einen Moment durch den Kopf gehen. »Er verfügt über mit der Gabe Gesegnete, die seiner unmittelbaren Befehlsgewalt unterliegen. Einige von ihnen sind imstande, Magie aus der Unterwelt zu gebrauchen. Wie gesagt, meine Kenntnisse auf diesem Gebiet sind begrenzt, doch vermutlich ist es möglich, daß er dazu imstande war.«
»Aber wie?«, hakte der General nach. »Wieso konnte Jagang so etwas tun? Er ist nicht einmal ein Zauberer.«
Verna verschränkte die Hände vor dem Körper. »Er hat Schwestern des Lichts und der Finsternis in seiner Gewalt. Damit hat er, theoretisch, alles, was er braucht. Zudem ist er ein geschichtlich interessierter Mann. Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, daß er großen Wert auf Bücher legt. Er besitzt eine umfassende und ziemlich wertvolle Sammlung, ein Umstand, der den Propheten Nathan mit großer Sorge erfüllte, weswegen er eine Unmenge wichtiger Folianten vernichtete, ehe sie Jagang in die Hände fallen konnten.
Nichtsdestoweniger besitzt der Kaiser noch zahllose andere Bücher und hat jetzt, nach der Eroberung der Burg der Zauberer, Zugriff auf bedeutende Bibliotheken. Überdies sind diese Bücher gefährlich, sonst wären sie schließlich gar nicht erst in der Burg der Zauberer weggesperrt worden.«
»Und nun kann Jagang frei über sie verfügen.« General Meiffert fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, dann packte er die Lehne des vor dem kleinen Schreibtisch stehenden Stuhls mit beiden Händen, um sich darauf abzustützen. »Was meint Ihr, stimmt es, daß er Zedd und Adie in seiner Gewalt hat?«
Die Frage war der verzweifelte Versuch, sich einen letzten Hoffnungsschimmer zu bewahren. Verna schluckte trocken, während sie sorgfältig über die Frage nachdachte. Um keine falschen Hoffnungen zu wecken, bemühte sie sich bei ihrer Antwort um größtmögliche Aufrichtigkeit, schließlich hatte sie sich, seit sie Jagangs Mitteilung gelesen hatte, selbst an diese vage Hoffnung geklammert.
»Meiner Meinung nach ist er nicht der Typ, der sich damit zufrieden gibt, mit etwas zu prahlen, das er nicht wirklich erreicht hat. Ich denke, er sagt die Wahrheit – nicht zuletzt, weil er uns seine hämische Freude über sein gelungenes Schurkenstück zeigen will.«
Der General löste seine Hände von der Stuhllehne und wandte sich ab, um über Vernas Worte nachzudenken. Schließlich stellte er eine noch weit beklemmendere Frage.
»Sagt er Eurer Meinung nach auch die Wahrheit, wenn er behauptet, dieser Schleifer habe Lord Rahl und die Mutter Konfessor in seiner Gewalt? Was glaubt Ihr, wird dieses grauenhafte Geschöpf, dieser Schleifer, die beiden tatsächlich Jagang in Kürze übergeben?«
Im Stillen überlegte Verna, ob das nicht vielleicht auch der Grund für Anns und Nathans überstürzte Reise quer durch die Alte Welt sein könnte. Sie wußte, daß Richard und Kahlan sich irgendwo dort unten befanden; ein dringenderer Grund für Anns und Nathans Reise in den Süden war eigentlich kaum vorstellbar. War es möglich, daß dieser Schleifer sie bereits in seine Gewalt gebracht oder sich sogar ihrer Seelen bemächtigt hatte? Ein Gefühl der Mutlosigkeit überkam Verna. Sie fragte sich, ob Ann nicht längst wußte, daß der Schleifer Richard in seiner Gewalt hatte, und sie sich deswegen nur sehr vage über den Zweck ihrer Mission äußerte.
Schließlich sagte sie: »Ich weiß es nicht.«
»Meiner Meinung nach ist Jagang einfach ein Fehler unterlaufen«, sagte Captain Zimmer.
Verna machte ein erstauntes Gesicht. »Und der wäre?«
»Er hat uns soeben ungewollt verraten, wie viel Schwierigkeiten ihm die Pässe bereiten. Im Grunde hat er uns verraten, wie gut unsere Verteidigungsmaßnahmen funktionieren und wie verzweifelt er in Wahrheit ist. Gelingt ihm der Durchbruch nicht in diesem Frühjahr, wird seine riesige Armee noch einen weiteren Winter durchhalten müssen. Deswegen will er daß wir ihn durchlassen.
Die Winter in D’Hara sind hart erst recht für Männer wie seine Truppen, die diese Witterungsbedingungen nicht gewöhnt sind. Ich habe mit eigenen Augen eindeutige Hinweise auf die ungeheure Zahl seiner Verluste während des letzten Winters gesehen. Hunderttausende seiner Soldaten sind irgendwelchen Krankheiten zum Opfer gefallen.«
»Soldaten hat er zur Genüge«, warf General Meiffert ein. »Die Verluste kann er also verschmerzen. Er erhält ständig Nachschub frischer Truppen, als Ersatz für die an Fieber und anderen Krankheiten Gestorbenen des letzen Winters.«
»Ihr glaubt also, der Captain irrt sich?«, fragte Verna.
»Nein, ich stimme insofern überein, als Jagang die Geschichte gerne zum Abschluß bringen würde; nur glaube ich nicht, daß es ihn schert, wie viele seiner Soldaten dabei ums Leben kommen. Meiner Ansicht nach ist er besessen von der Idee, die Welt zu beherrschen. Geduldig, wie er im Allgemeinen ist, sieht er das Ende nahe, sein großes Ziel in greifbare Nähe gerückt. Wir sind die Einzigen, die ihm dabei noch im Weg stehen und verhindern, daß ihm der Fang in die Hände fällt. Auch seine Männer warten bereits ungeduldig auf ihre Beute.
Sein Entschluß, mit seinem Vormarsch auf Aydindril einen Keil in die Neue Welt zu treiben, hat ihn seinem Ziel nahe gebracht – ihn in gewisser Hinsicht aber auch wieder davon entfernt. Wenn es ihm nicht gelingt, die Pässe zu überqueren, könnte er sich dazu durchringen, seine Armee zusammenzuziehen und den langen Marsch zurück in den Süden anzutreten, in das Tal des Kern, um dort den Fluß zu überqueren und nach D’Hara hinaufzumarschieren. Hat seine Armee erst einmal das offene Gelände im Süden erreicht, haben wir keine Möglichkeit mehr sie aufzuhalten.
Wenn er jetzt nicht bei den Pässen durchbrechen kann, bedeutet das für ihn zwar einen weiten Marsch und einen langen Aufschub, am Ende jedoch wird er uns besiegen. Statt dessen würde er das lieber gleich erledigen, weshalb er uns in einem Handel anbietet, das Leben unserer Soldaten zu schonen.«
Verna starrte leeren Blicks vor sich hin. »Es ist stets ein folgenschwerer Fehler, sich mit dem Bösen aussöhnen zu wollen.«
»Der Meinung bin ich auch«, bestätigte General Meiffert. »Sobald wir die Pässe freigegeben haben, wird er jeden unserer Männer abschlachten.«
Die Stimmung im Zelt war so bleiern wie der Himmel draußen.
»Ich denke, wir sollten ihm mit einem Brief antworten«, schlug Rikka vor. »Mit einem Brief, in dem wir ihm mitteilen, daß wir nicht glauben, er habe Zedd und Adie in seiner Gewalt. Wenn wir ihm glauben sollen, muß er uns einen Beweis liefern. Er soll uns ihre Köpfe schicken.«
Captain Zimmer vermerkte den Vorschlag mit einem Lächeln.
Der General trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, während er darüber nachdachte. »Angenommen, es verhält sich so, wie Ihr vermutet, Prälatin, und Jagang hat sie tatsächlich in seiner Gewalt, dann sind uns die Hände gebunden – er wird sie töten. Und nach dem, was Zedd Jagangs Streitmacht in Aydindril angetan hat, ganz zu schweigen von dem verheerenden Schlag, den er der Imperialen Ordnung vergangenen Sommer, als die Mutter Konfessor bei uns weilte, versetzt hat, weiß ich, daß es kein schneller Tod sein wird. Aber letztendlich wird er sie töten.«
»Dann seid Ihr auch der Meinung, daß es keine andere Möglichkeit gibt?«, fragte Verna.
General Meiffert wischte sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich gebe es nur äußerst ungern zu, aber ich fürchte, sie sind verloren. Deshalb sollten wir Jagang, glaube ich, nicht auch noch die Genugtuung verschaffen, ihm unsere wahren Gefühle diesbezüglich mitzuteilen.«
Verna drehte sich der Kopf bei der Vorstellung, daß Zedd und Adie gefoltert wurden, daß sie sich in der Gewalt Kaiser Jagangs und der Schwestern der Finsternis befanden. Ihr zitterten die Knie bei der Vorstellung, daß die d’Haranischen Streitkräfte Zedd verlieren könnten. Niemand außer ihm verfügte über seine Erfahrung, sein Wissen. Er war ganz einfach unentbehrlich.
»Also gut, schreiben wir Jagang einen Brief«, entschied Verna.
»Das Einzige, was wir tun können«, sagte Rikka, »ist, ihm das zu verweigern, wonach es ihn am meisten verlangt. Und das ist unsere Kapitulation.«
General Meiffert zog den Stuhl unter dem Tisch hervor und forderte Verna auf, Platz zu nehmen und den Brief aufzusetzen. »Falls ihn ein solches Schreiben tatsächlich ärgert, könnte es sein, daß er uns einfach ihre Köpfe schickt. In diesem Fall bliebe ihnen unvorstellbares Leid erspart. Es ist das Einzige, was wir für sie tun können – und gleichzeitig das Beste.«
Verna musterte forschend die grimmigen Mienen und vermochte nichts als Entschlossenheit in ihnen zu erkennen. Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder, den General Meiffert ihr anbot, und entkorkte das Tinten-Faß, ehe sie dem kleinen Stapel in einer neben ihr stehenden Schachtel einen Bogen Papier entnahm.
Sie tauchte die Feder ein und starrte einen Augenblick auf das leere Blatt, um zu überlegen, wie sie das Schreiben formulieren sollte. Dabei versuchte sie sich vorzustellen, was Kahlan schreiben würde. Dann kam ihr ein Gedanke; sie beugte sich über den Tisch und schrieb.
Ich halte Euch nicht für fähig, Zauberer Zorander gefangen zu nehmen. Wenn doch, würdet Ihr uns zum Beweis seinen Kopf schicken. Und verschont uns mit Eurem Begehr, die Pässe zu öffnen, nur weil Ihr unfähig seid, es selbst zu tun.
Rikka, die ihr beim Schreiben über die Schulter gesehen hatte, rief aus: »Ich finde es gut.«
Verna sah zu den anderen auf. »Wie soll ich unterzeichnen?«
»Was würde Jagangs Zorn – oder seine Sorge – am meisten erregen?«, fragte Captain Zimmer.
Verna tippte das Ende der Feder gegen ihr Kinn und dachte nach. Dann fiel es ihr ein. Sie setzte die Feder auf das Blatt.
Unterzeichnet: die Mutter Konfessor.