11

»Was hast du?«, fragte Kahlan, als sie ihr Pferd neben den Wagen lenkte.

Richard schien über irgendwas völlig außer sich zu sein. Dann erst fiel ihr auf, daß er das Buch in der einen Hand hielt, während die andere zur Faust geballt war. Er öffnete den Mund und wollte ihr gerade etwas erklären, doch als Jennsen, vorne auf dem Bock neben Tom, sich herumdrehte, wandte er sich statt dessen an sie: »Kahlan und ich werden ein Stück voraus die Straße erkunden. Pass gut auf Betty auf, damit sie nicht aus dem Wagen springt, in Ordnung, Jen?«

Jennsen lächelte ihn an und nickte.

Richard kletterte über die Seitenwand des Wagens und sprang ab, während Kahlan sich aus dem Sattel herüberbeugte und die Zügel von Richards Pferd von der Rückwand des Wagens losband. Einen Fuß im Steigbügel, schwang er sich mit einer fließenden Bewegung in den Sattel. Mit einer leichten Verlagerung seines Gewichts nach vorn brachte er das Pferd dazu, sich in Bewegung zu setzen. Kahlan preßte ihre Schenkel gegen die Flanken ihres Tieres und spornte es zu einem leichten Galopp an, um mit ihm Schritt zu halten. Er ritt ein kleines Stück voraus und folgte dem Pfad im flacheren Gelände zwischen den schroffen Bergflanken um mehrere leichte Biegungen, bis er schließlich zu Cara und Friedrich aufschloß. die vorausgeritten waren, um den Weg zu erkunden.

»Wir werden uns eine Weile weiter vorn umsehen«, erklärte er ihnen, schon jetzt schweißgebadet wegen der drückenden Hitze. »Warum laßt ihr euch nicht zurückfallen und behaltet den Weg hinter uns im Auge?«

Cara riß ihre Zügel herum und machte kehrt; Friedrich folgte ihr.

Aus der Nähe bot das zerklüftete Gebirge im Osten einen furchteinflößenden Anblick. Steile Wände aus nacktem Felsgestein ragten unter vorspringenden Plateaus in die Höhe, auf denen sich das Geröll der höher gelegenen Ebenen und Klippen häufte, so als sei der gesamte Gebirgszug in allmählicher Auflösung begriffen. Ein Aufstieg über dieses unsichere Geröll schien angesichts der mehrere tausend Fuß tiefen Schluchten unmittelbar jenseits der überhängenden Felsvorsprünge schier unmöglich. Wenn es überhaupt Pässe über diese vollkommen reiz- und leblosen Hänge gab, dann waren sie zweifellos dünn gesät und würden sich als überaus beschwerlich erweisen.

Aber die Überquerung dieses grauen, abweisenden Gebirgszuges in dieser Hitze war, wie sie jetzt erkennen konnte, mitnichten ihr größtes Problem.

Hinter diesen näher gelegenen Bergen, die sich in der brütenden Hitze parallel zum Rand der Wüste in nordsüdlicher Richtung erstreckten, war stellenweise bereits zu erkennen, was sich dahinter verbarg – eine noch weit entmutigendere Kette schneebedeckter Gipfel, die jede Überquerung des Gebirges in östlicher Richtung zu einem aussichtslosen Unterfangen verdammte. Die Ausmaße dieses beeindruckenden Gebirgszugs übertrafen alles, was Kahlan bislang gesehen hatte. Nicht einmal die zerklüfteten Gipfel des Rang’Shada-Gebirges in den Midlands vermochten es mit ihnen aufzunehmen. Diese Berge schienen einem Volk von Riesen anzugehören. Jähe Felsklippen ragten tausende Fuß in den Himmel. Es gab beängstigende Hänge, die weder Paß noch Riß aufwiesen und so steil waren, daß sich fast kein Baum auf ihnen halten konnte. Hohe, unter einer dichten Schneedecke verborgene Bergspitzen, die sich majestätisch bis weit über die windgepeitschte Wolkendecke erhoben, drängten sich so dicht zusammen, daß sie nicht so sehr an separate Gipfel, sondern vielmehr an die schartige Klinge eines langen Messers erinnerten.

Sie hatte ihn tags zuvor die eindrucksvollen Berge betrachten sehen und ihn gefragt, ob er eine Möglichkeit sehe, sie zu überqueren. Er hatte verneint; die einzige Möglichkeit, auf die andere Seite hinüberzugelangen, sei möglicherweise jener schmale Einschnitt, den er zuvor bei der Entdeckung der seltsamen ehemaligen Grenze gesehen hatte, und dieser Einschnitt lag noch ein gutes Stück weiter nördlich.

Fürs Erste hielten sie sich an die trockene Seite des näheren Gebirgszugs, der parallel zu den nicht übermäßig schwierig zu passierenden Niederungen verlief.

Am Fuß eines sanft geschwungenen, mit Büscheln aus braunem Gras bedeckten Hügels ließ Richard sein Pferd endlich langsamer gehen. Er drehte sich im Sattel herum und vergewisserte sich, daß die anderen, wenn auch in recht großer Entfernung, ihm noch immer folgten, ehe er sein Pferd dicht neben Kahlan lenkte. »Ich habe im Buch einige Kapitel übersprungen.«

Das gefiel ihr überhaupt nicht. »Als ich dich vor einiger Zeit fragte, wieso du nicht ein paar Seiten überspringst, hieß es noch, das sei nicht eben ratsam.«

»Ich weiß, aber ich komme einfach nicht weiter, und wir brauchen dringend Antworten.« Kaum waren die Pferde in gemächliches Schrittempo verfallen, rieb Richard sich fröstelnd die Schultern. »Nach all der Hitze kann ich gar nicht recht glauben, wie kalt es hier wird.«

»Kalt? Wovon redest du?«

»Erinnerst du dich noch an diesen seltenen Menschenschlag?« Das Leder seines Sattels knarzte, als er sich zu ihr hinüberbeugte. »Die gänzlich ohne Gabe geboren werden und nicht einmal einen Funken der Gabe besitzen? Die Säulen der Schöpfung? Nun, damals, als dieses Buch geschrieben wurde, waren sie keineswegs so rar.«

»Willst du damit sagen, daß die Geburt dieser Menschen damals eher etwas Selbstverständliches war?«

»Das nicht. Aber die so Geborenen wurden mit der Zeit erwachsen, heirateten und brachten Kinder zur Welt – Kinder, die nicht mit der Gabe gesegnet waren.«

Kahlan sah ihn überrascht an. »Die zerbrochenen Glieder in der Vererbungskette der Gabe, von denen du bereits gesprochen hast?«

Richard nickte. »Sie alle waren Kinder des Lord Rahl. Damals herrschten noch andere Verhältnisse als in der jüngsten Vergangenheit unter Darken Rahl oder dessen Vater. Soweit ich es beurteilen kann, waren sämtliche Kinder des Lord Rahl und seiner Gemahlin Teil seiner Familie – und wurden, trotz ihres angeborenen Makels, auch so behandelt. Offenbar haben die Zauberer damals ihnen zu helfen versucht – sowohl den direkten Nachkommen, aber auch deren Kindern und Kindeskindern. Sie haben versucht, sie zu heilen.«

»Zu heilen? Aber von was?«

In einer verzweifelten Geste warf Richard gereizt die Arme in die Luft. »Nun, immerhin waren sie ohne die Gabe geboren – ohne den geringsten Funken der Gabe, den sonst jeder besitzt. Ganz offensichtlich haben die Zauberer damals versucht, die Lücken in der Vererbungskette zu schließen.«

»Und wie kamen sie darauf, sie könnten einen Menschen heilen, der nicht einmal einen Funken der Gabe besitzt?«

Die Lippen aufeinander gepresst überlegte Richard, wie er es ihr am besten erklären konnte. »Du erinnerst dich an die Zauberer, die dich über die Grenze schickten, um Zedd zu finden?«

»Ja ...« Ihre Antwort klang skeptisch gedehnt.

»Sie waren ohne die Gabe, mit anderen Worten, nicht als Zauberer geboren worden. Demnach waren sie zweit- oder drittrangige Zauberer – irgendwas dergleichen. Du hast mir einmal von ihnen erzählt.« Er schnippte mit den Fingern, als es ihm wieder einfiel. »Ich hab’s. Zauberer dritter Ordnung. Richtig?«

»Ja. Nur einer, Giller, war ein Zauberer Zweiter Ordnung. Außer Zedd war es niemandem gelungen, die Prüfung zum Zauberer Erster Ordnung zu bestehen, weil sie nicht im üblichen Sinn mit der Gabe gesegnet waren. Zauberer zu sein war ihre Berufung, und obwohl sie nicht im herkömmlichen Sinn mit der Gabe gesegnet waren, besaßen sie jenen Funken der Gabe, der allen Menschen innewohnt.«

»Genau das meine ich«, sagte Richard. »Trotzdem gelang es Zedd, sie im Gebrauch von Magie zu unterweisen, so daß sie Zauberer werden konnten – obwohl sie diese Gabe gar nicht von Geburt an besaßen.«

»Dafür war die Arbeit eines ganzes Lebens erforderlich, Richard.«

»Ich weiß. Das Entscheidende aber ist, daß Zedd ihnen helfen konnte. Zauberer zu werden – zumindest so weit, daß sie seine Prüfung bestehen und Magie anwenden konnten.«

»Ja, mag sein. Ich war noch ein Kind, als sie mich in der Funktionsweise der Magie und der Burg der Zauberer unterwiesen und mich über die Menschen und Geschöpfe in den Midlands unterrichteten, die Magie besaßen. Sie waren vielleicht nicht mit der Gabe geboren, hatten aber ihr ganzes Leben darauf hingearbeitet, Zauberer zu werden. Bis sie es schließlich waren«, beharrte sie trotzig.

Um Richards Mundwinkel spielte ein gewisses Lächeln, ein Lächeln, das ihr verriet, daß sie soeben die Kernpunkte seiner Argumentation umrissen hatte. »Nur waren sie eben mit diesem Aspekt, mit dieser Eigenschaft der Gabe, nicht geboren worden.« Er beugte sich zu ihr. »Demnach muß Zedd, damit sie Zauberer werden konnten, sie nicht nur ausgebildet, sondern ihnen auch mit Mitteln der Magie geholfen haben, richtig?«

Der Gedanke behagte Kahlan überhaupt nicht. »Das weiß ich nicht; sie haben mir nie von ihrer Ausbildung zum Zauberer erzählt. Über diese Dinge zu sprechen hätte einfach nicht unserem Verhältnis entsprochen, noch war es Bestandteil meiner Ausbildung.«

»Aber Zedd verfügt über additive Magie«, hakte Richard nach. »Damit lassen sich Dinge verändern, man kann etwas hinzufügen und sie zu mehr machen, als sie ursprünglich waren.«

»Mag sein«, gab Kahlan ihm zögernd Recht. »Worauf willst du hinaus?«

»Darauf, daß Zedd Menschen, die nicht mit der Gabe zum Zauberer geboren waren, ausgebildet hat und – viel wichtiger – daß er sie dabei mit Hilfe seiner Kraft unterstützt hat. indem er sie zu mehr machte, als sie von Geburt an waren.« Als sein Pferd eine niedrige, knorrige Fichte umging, sah Richard flüchtig in ihre Richtung. »Mit anderen Worten, er hat Menschen mit Hilfe von Magie verändert.«

Kahlan stieß einen tiefen Seufzer aus, löste den Blick von Richard und betrachtete, bemüht, in vollem Umfang zu begreifen, was er da soeben gesagt hatte, die sanft geschwungenen, grasbewachsenen Hügel, die sich vor ihnen zu beiden Seiten erstreckten.

»Ich habe zuvor nie darüber nachgedacht, aber gut, von mir aus«, sagte sie schließlich. »Und was folgt daraus?«

»Wir dachten, nur die Zauberer von damals seien zu so etwas fähig gewesen, aber offenbar handelt es sich weder um eine vergessene Kunst, noch war es vollkommen aus der Luft gegriffen, als ich dachte, daß die Zauberer damals glaubten, sie könnten das, was ist zu dem verändern, was es ihrer Meinung nach sein sollte. Was ich sagen will, ist Folgendes: Wie Zedd, der den Menschen etwas gab, womit sie nicht geboren waren, haben auch die Zauberer damals versucht, den als ›Säulen der Schöpfung‹ geborenen Menschen einen Funken der Gabe zu geben.«

Kahlan überlief es eiskalt, als es ihr dämmerte. Die Folgerungen waren in der Tat schwindelerregend. Nicht nur die Zauberer damals, auch Zedd hatte sich magischer Kräfte bedient, um die Natur von Menschen zu verändern, mithin das, was sie ihrem Wesen nach von Geburt waren.

Vermutlich hatte er, indem er die ihnen bei der Geburt mitgegebenen Talente verstärkte und ihnen damit ermöglichte, ihr Potential voll auszuschöpfen, ihnen nur geholfen, ihren größten Wunsch im Leben – ihre Berufung – zu verwirklichen. Aber das bezog sich auf Menschen, denen dieses Potential bereits angeboren war. Die Zauberer damals dagegen hatten sich vermutlich ähnlicher Mittel bedient, um den Menschen zu helfen, nur offenbar aus weniger menschenfreundlichen Motiven.

»Demnach müssen die Zauberer von damals, die Erfahrung mit dem Verändern menschlicher Talente hatten, im Glauben gewesen sein, die ›Säulen der Schöpfung‹ genannten Menschen könnten geheilt werden.«

»Geheilt von dem Umstand, daß sie nicht mit der Gabe geboren worden waren«, sagte sie im flachen Tonfall völligen Unglaubens.

»Nicht ganz, schließlich haben sie ja nicht versucht, sie zu Zauberern zu machen. Aber sie dachten wohl, man könnte sie wenigstens vom Fehlen jenes winzigen Funkens der Gabe heilen, der sie befähigte, mit Magie eine Wechselbeziehung einzugehen.«

»Und was passierte dann?«

»Dieses Buch ist nach dem Ende des Großen Krieges geschrieben worden – nachdem die Barriere errichtet und die Alte Welt dahinter weggesperrt worden war. Es wurde in einer Zeit geschrieben, als in der Neuen Welt Frieden herrschte, oder die Barriere die Alte Welt doch zumindest unter Verschluß hielt.

Erinnerst du dich, was wir vor einiger Zeit herausgefunden haben? daß Zauberer Ricker und seine Leute unserer Meinung nach irgend etwas unternommen hatten, um die Fähigkeit subtraktiver Magie zu beschneiden, über die Nachkommen eines Zauberers weitervererbt zu werden? Nun, nach dem Krieg wurden die mit der Gabe Geborenen allmählich immer seltener, und wer noch mit der Gabe geboren wurde, der wurde ohne deren subtraktive Seite geboren.«

»Mit anderen Worten, schon nach kürzester Zeit gab es nahezu niemanden mehr, der sowohl mit der additiven als auch der subtraktiven Seite der Gabe auf die Welt kam. Aber das wußten wir doch längst.«

»Richtig.« Richard beugte sich zu ihr und deutete auf das Buch. »Es wurden immer weniger Zauberer geboren, gleichzeitig stellten diese Zauberer plötzlich fest, daß sie alle völlig ohne Gabe Geborenen – ausnahmslos zerbrochene Glieder in der Vererbungskette – auf dem Hals hatten. Plötzlich hatten sie es nicht nur mit dem Problem der sinkenden Geburtsrate unter den mit der Gabe zum Zauberer Geborenen zu tun, sondern sie sahen sich auch noch dem von ihnen sogenannten Problem der ›Säulen der Schöpfung‹ konfrontiert.«

Kahlan schwankte leicht im Sattel, als sie darüber nachdachte und sich die Situation damals in der Burg der Zauberer vorzustellen versuchte. »Mir leuchtet ein, daß sie überaus besorgt gewesen sein mußten.« Sie senkte viel sagend die Stimme. »Wenn nicht verzweifelt.«

Abrupt verhielt Kahlan ihr Pferd und schob sich hinter Richard, der sein Tier soeben um einen alten, umgestürzten Baum herumlenkte.

Anschließend ließ sie ihr Pferd wieder zu Richard aufschließen und lenkte es neben ihn. »Vermutlich gingen die Zauberer damals dazu über, dasselbe zu tun wie Zedd. Sie begannen, die Berufenen, die Zauberer werden wollten, aber nicht mit der Gabe gesegnet waren, auszubilden.«

»Richtig. Nur zielte ihre Ausbildung darauf ab, die mit additiver Magie ausgestatteten Kandidaten zu befähigen, auch die subtraktive Seite zu gebrauchen – so wie die vollwertigen Zauberer der damaligen Zeit. Mit der Zeit aber verloren sie auch diese Fähigkeit, so daß sie letztendlich nur noch das tun konnten, was auch Zedd getan hat – nämlich Männer zu Zauberern auszubilden, die ausschließlich additive Magie ausüben konnten.

Aber das ist eigentlich gar nicht das zentrale Thema des Buches«, fuhr Richard mit einer wegwerfenden Handbewegung fort. »Sondern nur ein Nebenaspekt, um zu verdeutlichen, was damals alles versucht wurde. Anfangs war man noch voller Zuversicht; man glaubte, diese Säulen der Schöpfung könnten auf die gleiche Weise vom völligen Fehlen der Gabe geheilt werden, wie man den nur zu additiver Magie fähigen Zauberern die Benutzung beider Seiten der Magie beibringen und die ohne Begabung zum Zauberer Geborenen zu Zauberern ausbilden konnte, indem man sie zumindest in der Benutzung additiver Magie unterwies.«

Die Handbewegungen, mit denen er seine Ausführungen unterstrich, erinnerten sie auffällig an Zedds aufgeregtes Gefuchtel, sobald er über irgend etwas in Erregung geriet. »Mit anderen Worten, man versuchte, das Wesen dieser Menschen zu verändern. Es war der verzweifelte Versuch, den ohne einen Funken der Gabe Geborenen die Möglichkeit zu geben, eine Wechselbeziehung mit Magie einzugehen. Man fügte also weder etwas hinzu noch verstärkte man bereits Vorhandenes, sondern versuchte, etwas aus dem Nichts zu erschaffen.«

Die Vorstellung behagte Kahlan ganz und gar nicht. Sie wußten beide, daß die Zauberer der damaligen Zeit ungeheure Macht besessen und daß sie mit der Gabe Geborene verändert hatten – indem sie deren Gabe mit einem bestimmten Ziel manipulierten.

Sie machten Menschen zu Waffen.

Eine dieser Waffen waren zu Zeiten des Großen Krieges die Vorfahren Jagangs: die Traumwandler. Traumwandler wurden geschaffen, um sich des Verstandes der Menschen in der Neuen Welt zu bemächtigen und ihn auf diese Weise zu beherrschen. In dieser verzweifelten Lage wurden die Bande zu dem jeweiligen Lord Rahl geschaffen – als Gegenmittel gegen diese Waffe, und als Schutz der Menschen vor den Traumwandlern.

Auf diese Weise entstanden aus den mit der Gabe Geborenen damals eine Vielzahl menschlicher Waffen. Die damit verbundenen Veränderungen waren oftmals tiefgreifend, vor allem aber unumkehrbar – zuweilen entstanden dadurch menschliche Ungeheuer von grenzenloser Grausamkeit. Aus diesem Erbe stammte auch Jagang.

Während dieses Großen Krieges weigerte sich nun einer der Zauberer, dem wegen Verrats der Prozeß gemacht wurde, den von ihm angerichteten Schaden offenzulegen. Nachdem man ihm nicht einmal unter Folter ein Geständnis abpressen konnte, nahmen die den Prozeß führenden Zauberer bei den Talenten eines Zauberers mit Namen Merritt Zuflucht und befahlen die Schaffung einer Konfessorin. Bei Gericht war man mit den Ergebnissen dieses Zauberers Merritt so zufrieden, daß man anordnete, den Orden der Konfessorinnen ins Leben zu rufen.

Im Grunde empfand Kahlan nicht anders als andere Menschen auch, sie war nicht weniger menschlich, nicht weniger weiblich und liebte das Leben wie jeder andere auch – aber der bei ihr angewendete Zauber blieb nicht folgenlos: Sie erhielt ihre Konfessorinnenkraft. Auch sie war das Kind einer Frau, die man in eine menschliche Waffe verwandelt hatte – einer Waffe, deren Zweck in diesem Fall die Wahrheitsfindung war.

»Was hast du?«, erkundigte sich Richard.

Sie sah ihn an und bemerkte den sorgenvollen Ausdruck auf seinem Gesicht. Kahlan zwang sich zu lächeln und versuchte ihn mit einem Kopfschütteln zu beschwichtigen.

»Was hast du denn nun herausgefunden, nachdem du einige Kapitel übersprungen hattest?«

Richard holte tief Luft und legte seine gefalteten Hände auf den Knauf seines Sattels. »Im Großen und Ganzen war es, als hätten sie Farben zu verwenden versucht, um den ohne Augen Geborenen das Sehen zu ermöglichen.«

Nach allem, was Kahlan über Magie und Geschichte wußte, bedeutete dies einen grundlegenden Unterschied selbst zu den böswilligsten Experimenten bei der Verwandlung von Menschen in Waffen. Selbst bei den schändlichsten Versuchen war es stets darum gegangen, einen bestimmten menschlichen Wesenszug zu entfernen und gleichzeitig eine naturgegebene Anlage dieser Menschen zu verstärken oder ihr etwas hinzuzufügen. Nie zuvor war der Versuch unternommen worden, aus dem Nichts etwas völlig Neues zu erschaffen.

»Mit anderen Worten«, faßte Kahlan zusammen, »sie sind gescheitert.«

Richard nickte. »Ja, da standen sie nun, der Große Krieg war längst vorbei, und die Alte Welt – deren Ziel, wie das der Imperialen Ordnung, das Ende aller Magie war – lag sicher weggesperrt hinter der neu geschaffenen Barriere. Und plötzlich mußten sie feststellen, daß die Geburtenrate der mit der Gabe der Zauberei Geborenen ins Bodenlose stürzte und die vom Geschlecht der Rahls geschaffene Magie, nämlich die Bande zwischen ihnen und dem Volk, die verhindern sollte, daß der Traumwandler von den Menschen Besitz ergreift, eine unerwartete Nebenwirkung hatte – sie brachte die von der Gabe völlig Unbefleckten hervor, die eine unwiderrufliche Unterbrechung in der Abstammungslinie der Magie bedeuteten.«

»Somit sahen sie sich schlagartig mit gleich zwei Problemen konfrontiert«, sagte Kahlan. »Es wurden weniger Zauberer geboren, die sich der Probleme mit der Magie annehmen konnten, gleichzeitig wurden Menschen geboren, die überhaupt keine Verbindung mehr zur Magie hatten.«

»Ganz genau. Wobei das zweite Problem rascher wuchs als das erste. Anfangs waren sie noch überzeugt, eine Lösung zu finden, ein Heilmittel. Das jedoch blieb aus – und es kam noch schlimmer: Wie ich eben bereits erklärte, brachten die von der Gabe völlig Unbefleckten, wie Jennsen, stets Nachkommen zur Welt, die exakt so waren wie sie. Bereits nach wenigen Generationen schwoll die Zahl der ohne Verbindung zu jeglicher Magie Geborenen über jedes erwartete Maß hinaus an.«

Kahlan stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sie befanden sich wirklich in einer verzweifelten Lage.«

»Blankes Chaos drohte.«

Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Was beschloß man dagegen zu tun?«

Richard betrachtete sie mit einem dieser Blicke, die ihr verrieten, daß ihn die Antwort auf diese Frage ziemlich verstört hatte.

»Sie gaben der Magie den Vorrang vor den Menschen. Nach ihrem Dafürhalten war diese Eigenschaft – die Magie, aber auch diejenigen, die sie besaßen – wichtiger als das menschliche Leben.« Er hob aufgeregt die Stimme. »Sie änderten den Grund, weshalb sie den Krieg überhaupt nur geführt hatten, nämlich das Recht der mit Magie Geborenen auf ein eigenständiges, ihren von Geburt an mitgegebenen Anlagen entsprechendes Leben, und kehrten es ins völlige Gegenteil, bis diese abstrakte Eigenschaft plötzlich wichtiger war als das Menschenleben, das sie in sich barg!«

Er atmete hörbar aus und senkte die Stimme. »Die Betroffenen waren viel zu zahlreich, als daß man sie alle hätte hinrichten können, also begnügte man sich mit der zweitbesten Lösung – man verbannte sie.«

Kahlan zog erstaunt die Brauen hoch. »Man verbannte sie. Wohin?«

Richard beugte sich zu ihr. die Augen fiebrig vor Erregung. »In die Alte Welt.«

»Was!«

Achselzuckend tat Richard, als machte er sich zum Anwalt der Zauberer von damals, um die Absurdität ihrer Denkweise bloßzulegen. »Was hätten sie auch tun sollen? Sie hinzurichten kam nicht in Frage, es waren schließlich Freunde und Familienangehörige. Viele der Menschen, die einen Funken der Gabe besaßen – ohne zum Zauberer oder zur Hexenmeisterin begabt zu sein, weshalb sie selbst sich als nicht mit der Gabe gesegnet betrachteten – hatten Söhne, Töchter, Brüder Schwestern, Onkel, Tanten, Basen oder Nachbarn, die mit einem der von der Gabe völlig Unbefleckten – mit einer dieser Säulen der Schöpfung – verheiratet waren. Sie waren fester Bestandteil einer Gesellschaft, in der die wahrhaft mit der Gabe Gesegneten zwangsläufig immer seltener wurden. In einer Gesellschaft, in der sie zunehmend zur Minderheit wurden, in der das Mißtrauen ihnen gegenüber stetig wuchs, brachten es die mit der Gabe gesegneten Herrschenden nicht über sich, diese mit einem Makel behafteten Menschen samt und sonders einfach auszurotten.«

»Soll das etwa heißen, sie haben es auch nur in Betracht gezogen?«

Richards Blick bestätigte ihr genau dies – und verriet ihr gleichzeitig, was er von diesem Gedanken hielt. »Aber letztendlich brachten sie es nicht über sich. Denn nachdem sie alles versucht hatten, mußten sie erkennen, daß sie die Verbindung dieser Menschen zur Magie, war sie einmal abgerissen, nicht wiederherstellen konnten. Diese Menschen heirateten und bekamen Kinder, deren Kinder wiederum heirateten und ebenfalls Kinder in die Welt setzten, die diesen Makel ausnahmslos weitervererbten, so daß die Zahl der mit dem Makel Behafteten rascher anschwoll, als alle vorhergesehen hatten.

Soweit es die mit der Gabe Gesegneten betraf, war ihre Welt ebenso bedroht wie zuvor durch den Großen Krieg, denn die Alte Welt hatte damals dasselbe Ziel verfolgt – die Vernichtung aller Magie. Plötzlich schienen sich ihre schlimmsten Befürchtungen auf makabre Weise zu bestätigen.

Der Schaden war irreparabel, seine Ausbreitung nicht aufzuhalten, und es war unmöglich, all diese Menschen, die mitten unter ihnen lebten, umzubringen. Und jetzt, da der Makel immer weiter um sich griff, wurde ihnen auch noch bewußt, daß ihnen die Zeit davonzulaufen drohte. Also beschlossen sie, auf den einzigen noch verbliebenen Ausweg zurückzugreifen – die Verbannung.«

»Und diese Menschen konnten die Barriere überwinden?«

»Den mit der Gabe Gesegneten war dies in allen praktischen Belangen völlig unmöglich, aber für die Säulen der Schöpfung existierte Magie nicht; sie vermochte sie in keiner Weise zu beeinflussen, somit war die Barriere für sie kein Hindernis.«

»Wie konnten die Verantwortlichen damals sicher sein, sämtliche Säulen der Schöpfung verbannt zu haben? Wenn auch nur einige wenige der Verbannung entgingen, hätte diese doch ihren Zweck verfehlt?«

»Die mit der Gabe Geborenen – Zauberer und Hexenmeisterinnen – können die von der Gabe völlig Unbeleckten irgendwie als das erkennen, was sie sind: als Lücken in der Welt, wie Jennsen sie nennt. Die mit der Gabe Geborenen können sie zwar sehen, nicht aber mit ihrer Gabe spüren. Offenbar war es nicht schwer festzustellen, wer zu den Säulen der Schöpfung gehörte.«

»Kannst du sie voneinander unterscheiden?«, fragte Kahlan. »Spürst du, daß Jennsen anders, daß sie eine Lücke in der Welt ist?«

»Nein, allerdings wurde ich auch nicht im Gebrauch meiner Talente unterwiesen. Und du?«

Kahlan schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Hexenmeisterin, folglich besitze ich wohl auch nicht die Fähigkeit, Menschen wie sie zu erkennen.« Sie verlagerte das Gewicht im Sattel. »Und was wurde damals nun aus diesen Menschen?«

»Die Bewohner der Neuen Welt trieben sämtliche nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen des Hauses Rahl sowie deren Nachkommen zusammen und schickten sie geschlossen durch die Große Barriere in die Alte Welt, deren Bewohner erklärt hatten, sie wollten eine Menschheit frei von jeglicher Magie.«

Die Ironie der Geschichte ließ Richard trotz aller Schrecklichkeit schmunzeln. »Im Wesentlichen gaben sie ihren Feinden damit, was sie angeblich wollten und wofür sie gekämpft hatten: eine Menschheit bar jeder Magie.«

Sein Lächeln erlosch. »Kannst du dir vorstellen, wir müßten über Jennsens Verbannung in eine furchterregende, unbekannte Welt entscheiden, nur weil sie unfähig ist, Magie wahrzunehmen?«

Kahlan versuchte, sich in die Situation zu versetzen, und schüttelte den Kopf. »Welch grauenhafte Vorstellung, entwurzelt und einfach fortgejagt zu werden, obendrein noch zu den Feinden des eigenen Volkes.«

Richard ritt eine Zeit lang schweigend weiter, ehe er schließlich mit der Geschichte fortfuhr. »Für die Verbannten bedeutete dies ein grauenhaftes Erlebnis, aber auch für die Zurückgebliebenen war es eine fast unerträglich traumatische Erfahrung. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie das gewesen sein muß: all die Freunde und Verwandten, die plötzlich aus deinem Leben, aus deiner Familie gerissen wurden, der Abbruch von Handelsbeziehungen, die Einbrüche im Auskommen?« Richards Worte waren erfüllt von bitterer Endgültigkeit. »Und das alles nur, weil man einen bestimmten Wesenszug für wichtiger hielt als das menschliche Leben.«

Allein schon das Zuhören hatte für Kahlan etwas unendlich Quälendes. Sie betrachtete Richard, der neben ihr ritt, den Blick gedankenverloren starr nach vorn gerichtet.

»Und was geschah dann?«, fragte sie schließlich. »Hat man je wieder von den Verbannten gehört?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht das Geringste. Sie lebten fortan jenseits der großen Barriere und existierten somit praktisch nicht mehr.«

Kahlan strich über den Hals ihres Pferdes, nur um das tröstliche Gefühl eines lebenden Wesens zu spüren. »Und was geschah mit all denen, die danach geboren wurden?«

Sein Blick war noch immer starr nach vorn gerichtet. »Sie wurden getötet.«

Kahlan schluckte angewidert. »Mir ist unbegreiflich, wie sie zu so etwas fähig sein konnten.«

»Unmittelbar nach der Geburt eines Kindes ließ sich feststellen, ob es mit der Gabe gesegnet war oder nicht. Angeblich war es einfacher, solange die Kinder noch keinen Namen hatten.«

Für einen Moment verschlug es Kahlan die Sprache, ehe sie mit matter Stimme wiederholte: »Es ist mir völlig unbegreiflich.«

»Nichts anderes haben Konfessorinnen nach der Geburt eines männlichen Konfessors getan.«

Seine Bemerkung traf sie ins Mark. Sie erinnerte sich nur äußerst ungern an diese Zeiten, an die Male, da eine Konfessorin ein männliches Kind zur Welt gebracht hatte, das schließlich auf Geheiß der Mutter getötet worden war.

Angeblich hatte es keine andere Möglichkeit gegeben, denn den männlichen Konfessoren der damaligen Zeit war es unmöglich, ihre Kraft zu beherrschen. Sie verwandelten sich in menschliche Ungeheuer, die Kriege vom Zaun brachen und unvorstellbares Leid über die Menschen brachten.

Angeblich hatte es auch in diesen Fällen keine andere Wahl gegeben, als die männlichen Nachkommen einer Konfessorin zu töten, ehe man ihnen einen Namen gab.

Kahlan brachte es nicht über sich, Richard in die Augen zu sehen. Die Hexe Shota hatte ihnen einst geweissagt, sie würden ein männliches Kind bekommen; doch weder Kahlan noch Richard kämen auch nur einen Moment auf den Gedanken, einem Kind etwas anzutun, das aus ihrer Liebe füreinander und für das Leben hervorgegangen war.

»Irgendwann, nachdem dieses Buch geschrieben worden war, änderte sich dann die Situation. Als dieses Buch verfaßt wurde, war der Lord Rahl von D’Hara gewöhnlich verheiratet, und im Allgemeinen erfuhr man, wenn er einen Nachkommen zeugte. War das Kind von der Gabe völlig unbeleckt, wurde seinem Leben so schonend wie möglich ein Ende bereitet.

Irgendwann wurden die herrschenden Zauberer des Hauses Rahl schließlich so wie Darken Rahl – sie nahmen sich jede Frau, die sie begehrten, wann immer ihnen danach zumute war – völlig ungeachtet der möglichen Folgen. Ob ein nicht mit der Gabe geborenes Kind aus einer solchen Verbindung tatsächlich eine Säule der Schöpfung war, verlor für sie jede Bedeutung. Sie töteten einfach sämtliche Nachkommen bis auf ihren mit der Gabe gesegneten Erben.«

»Aber wenn sie doch Zauberer waren, hätten sie doch ohne weiteres feststellen können, wer eine Säule der Schöpfung war, und wenigstens die Übrigen verschonen können.«

»Vermutlich, vorausgesetzt, sie hätten es wirklich gewollt. Aber wie im Falle Darken Rahls galt ihr ausschließliches Interesse ihrem einen mit der Gabe gesegneten Nachkommen. Alle übrigen wurden einfach umgebracht.«

»Weshalb sie sich aus Angst um ihr Leben versteckten und es nur einer von ihnen gelang, sich Darken Rahls Zugriff zu entziehen – bis du ihn schließlich getötet hast. Und deswegen hast du jetzt eine Schwester – Jennsen.«

Richards Lächeln kehrte zurück. »Genau so ist es.«

Kahlan folgte seinem Blick mit den Augen und sah einige ferne, dunkle Punkte – schwarz gezeichnete Riesenkrähen –, die, getragen von den Aufwinden vor den steilen Felswanden der Berge im Osten, in großer Höhe dahinglitten und sie beobachteten.

Sie sog die heiße, feuchte Luft in ihre Lungen und atmete einmal tief durch. »Was glaubst du, Richard, könnten diese von der Gabe völlig unbeleckten Nachkommen, die man in die Alte Welt verbannt hatte, möglicherweise überlebt haben?«

»Wenn sie nicht von den Zauberern aus der Alten Welt umgebracht worden sind.«

»Aber die Menschen hier in der Alten Welt unterscheiden sich doch überhaupt nicht von denen in der Neuen Welt. Ich habe an der Seite von Zedd und den Schwestern des Lichts gegen die hiesigen Soldaten gekämpft; wir haben alle nur erdenklichen Arten der Magie ausprobiert, um den Vormarsch der Imperialen Ordnung aufzuhalten. Ich kann dir aus eigener Anschauung bestätigen, daß alle Soldaten aus der Alten Welt sich mit Magie beeinflussen lassen, was wiederum bedeutet, daß sie alle mit besagtem winzigen Funken der Gabe geboren worden sind. In der Alten Welt gibt es keine zerbrochenen Glieder in der Vererbungskette der Magie.«

»Nach allem, was ich hier unten gesehen habe, kann ich dir da nur zustimmen.«

Kahlan wischte sich den Schweiß von der Stirn, der ihr bereits in die Augen zu rinnen drohte. »Was mag also aus diesen Verbannten geworden sein?«

Richard sah hinüber zu den fernen Bergen, über denen die Riesenkrähen kreisten. »Ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung. Auf jeden Fall muß es ein grauenhaftes Erlebnis für sie gewesen sein.«

»Dann denkst du also, daß sie es möglicherweise nicht überlebt haben? Daß sie ausgestorben sind oder umgebracht wurden?«

Richard betrachtete sie mit einem versteckten Seitenblick. »Ich weiß es nicht. Aber was ich wirklich gerne wissen würde, ist, warum der Ort dort hinten im Buch den gleichen Namen trägt wie sie: die Säulen der Schöpfung.« Seine Augen bekamen einen gefährlichen Glanz. »Und was mir noch viel schlimmer erscheint: Warum zählt eine Abschrift dieses Buches, wie Jennsen uns erzählte, zu Jagangs kostbarsten Besitztümern?«

Dieser beunruhigende Gedanke ging auch Kahlan schon eine Weile durch den Kopf. Sie sah unter ihrer gerunzelten Stirn zu ihm hoch. »Du hättest vielleicht doch nicht mehrere Kapitel des Buches überspringen sollen, Lord Rahl.«

Sie hatte sich ein wenig mehr erhofft als nur ein flüchtiges Lächeln. »Mir würde ein Stein vom Herzen fallen, wenn das mein gravierendster Fehler in letzter Zeit gewesen wäre.«

»Was willst du damit sagen?«

Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Spürst du irgendeine Veränderung in deiner Konfessorinnenkraft?«

»Eine Veränderung?« Seine Frage ließ sie beinahe unweigerlich zurückschrecken; sie konzentrierte sich auf ihr Innerstes und unterzog die Kraft, die sie dort stets spürte, einer eingehenden Prüfung. »Nein, sie fühlt sich an wie immer.«

Die im Kern ihres Wesens schlummernde Kraft mußte, wenn sie gebraucht wurde, nicht erst abgerufen werden; sie war wie immer stets bereit. Um sie freizusetzen, brauchte sie nichts weiter zu tun, als ihre Fesseln zu lösen.

»Ich habe den Eindruck, mit dem Schwert stimmt etwas nicht«, sagte er völlig unvermittelt. »Mit seiner Kraft.«

Kahlan wußte beim besten Willen nicht, was sie von dieser Äußerung halten sollte. »Woher willst du das wissen? Was stimmt damit nicht?«

Richard strich gedankenverloren über die um seine Finger gewickelten Zügel. »Es ist schwer zu sagen, was genau nicht stimmt – normalerweise bin ich es gewöhnt, daß sie mir sofort auf Abruf zur Verfügung steht. Wenn ich sie brauche, reagiert sie zwar aus einem unerklärlichen Grund aber erst mit einer gewissen Verzögerung.«

Kahlan spürte, daß sie, mehr als je zuvor, sofort nach Aydindril zurück und Zedd aufsuchen mußten. Zedd hatte das Schwert in seiner Obhut gehabt. Auch wenn sie es nicht durch die Sliph mitnehmen konnten, so vermochte Zedd sie über jeden noch so unscheinbaren Aspekt seiner Kraft aufzuklären. Er würde wissen, was zu tun war – und vermutlich konnte er Richard auch bei seinen Kopfschmerzen helfen.

Denn mittlerweile war Kahlan überzeugt, daß Richard dringend Hilfe brauchte; er war unübersehbar nicht mehr er selbst. Seine grauen Augen waren glasig vor Schmerzen, aber auch noch etwas anderes hatte bei ihm Spuren hinterlassen: in seinem Gesicht, in seiner Art, sich zu bewegen, überhaupt in seiner ganze Körperhaltung.

Seine Ausführungen über das Buch und was er darin entdeckt hatte, schienen sehr an seinen Kräften gezehrt zu haben.

Immer mehr beschlich sie der Gedanke, daß gar nicht sie es war, der die Zeit davonlief, sondern Richard. Bei dem Gedanken überlief sie trotz der warmen Nachmittagssonne ein eisiger Schauer des Entsetzens.

Richard sah über die Schulter nach den anderen. »Laß uns zum Wagen zurückreiten. Ich muß dringend etwas Wärmeres anziehen. Irgendwie ist es kalt heute.«

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