Hastig zog Kahlan die Blechdose aus dem Regal und riß den Deckel auf. Die Dose enthielt ein gelbliches Pulver; die Farbe stimmte. Sie beugte sich hinunter und zeigte es Richard, der noch immer auf der Trage lag. Der langte hinein, entnahm eine Prise, schnupperte daran, kostete mit der Zungenspitze; schließlich nickte er.
»Aber nur ganz wenig«, sagte er kraftlos, hob den Arm und hielt es ihr hin. Kahlan streckte ihre geöffnete Hand vor, während er ihr ein wenig des zerstoßenen Pulvers hineinstreute. Den Rest ließ er, zu entkräftet, um sich die Mühe zu machen, es in die Dose zurückzutun, achtlos zu Boden fallen. Kahlan gab die winzige Pulvermenge in ihrer Hand in einen der Töpfe mit kochendem Wasser.
In den anderen mit heißem Wasser gefüllten Töpfen wurden Kräuterbeutel aufgebrüht; mehrere Ortsbewohner waren damit beschäftigt, auf Richards Geheiß Pflanzenstengel zu zermahlen.
»Lobelien«, hauchte Richard. Er hatte die Augen geschlossen.
Owen beugte sich über ihn. »Lobelien?«
Er nickte. »Das müßte ein getrocknetes Kraut sein.«
Owen wandte sich herum zu den Regalen und machte sich an die Suche; die Wand des Hauses, des einstigen Arbeitsplatzes jenes Mannes, der Gift und Gegenmittel für Richard zubereitet hatte, war in Hunderte kleiner quadratischer Fächer unterteilt. Es war ein kleines, einfaches Haus mit nur wenig Licht, zudem war es nicht annähernd so gut ausgestattet wie die anderen Kräuterkennerküchen, die Kahlan zuvor gesehen hatte. Immerhin besaß der Mann eine umfangreiche Sammlung von Zutaten, aus denen er – und das war viel wichtiger – höchstwahrscheinlich das Gegenmittel hergestellt hatte.
»Hier!« Owen hielt ihm einen Beutel vors Gesicht. »Auf dem Schildchen steht Lobelie.«
»Zerstoße eine kleine Menge von etwa halber Daumennagelgröße, siebe die Fasern heraus und wirf sie weg, dann gib den Rest in die Schüssel mit dem dunkleren Öl.«
Obwohl Richard sich mit Kräutern auskannte, waren seine Kenntnisse bei weitem nicht fundiert genug, um das Heilmittel gegen das ihm verabreichte Gift zusammenzumischen. Immerhin schien seine Gabe ihn anzuleiten.
Mittlerweile befand er sich in einem tranceähnlichen Zustand. Was genau, vermochte Kahlan nicht zu sagen. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwer, so daß sie sich allmählich kaum noch zu helfen wußte. Wenn sie nichts unternähmen, würde er sterben, und zwar schon bald. Solange er ruhig auf der Bahre lag, hatte er es vergleichsweise bequem, nur würde er dadurch wohl kaum genesen.
Der Weg bis nach Witherton war nicht weit gewesen, trotzdem viel zu lang für Kahlans Geschmack.
»Schafgarbe«, stöhnte Richard.
Kahlan beugte sich über ihn. »In welcher Zubereitung?«
»Als Öl«, sagte Richard.
Kahlan tastete sich suchend durch das Regal mit kleinen Fläschchen, bis sie eins mit der Aufschrift SCHAFGARBENÖL gefunden hatte. Sie ging in die Hocke und hielt es Richard vors Gesicht.
»Wie viel?«
Sie nahm eine seiner Hände, legte das Fläschchen hinein und schloß seine Finger darum, damit er die Größe abschätzen konnte. »Wie viel?«
»Ist es voll?«
Hastig zog Kahlan den geschnitzten Holzstöpsel heraus. »Ja.«
»Die Hälfte«, hauchte Richard. »Zu den anderen Ölen.«
»Ich hab das Mutterkraut gefunden«, rief Jennsen und sprang von einem Hocker herunter.
»Mach eine Tinktur«, wies Richard sie an.
Kahlan stöpselte das Fläschchen wieder zu und ging neben ihm in die Hocke. »Und weiter?«
»Mach mir eine Infusion aus Königskerze.«
»Königskerze, Königskerze«, murmelte Kahlan, während sie sich an die Arbeit machte.
Während Richard seine Instruktionen erteilte, war ein halbes Dutzend Personen damit beschäftigt, Sude herzustellen, Kräuter zu mahlen, zu zerreiben und zu filtern. Waren diese fertig, wurden einige Zubereitungen miteinander vermengt, während man andere, deren Herstellung noch nicht ganz abgeschlossen war, zunächst gesondert aufbewahrte. Während des gesamten Arbeitsprozesses wurde die Vielzahl der verschiedenen Arbeitsvorgänge zusammengeführt und an speziellen Punkten vereinfacht.
Richard winkte Owen zu sich, der sich darauf die Hände an den Hosenbeinen abwischte und sich in Erwartung neuer Instruktionen über ihn beugte.
»Kühlen«, sagte Richard mit geschlossenen Augen. »Wir benötigen etwas Kühles. Wir müssen es irgendwie abkühlen.«
Owen überlegte kurz. »Nicht weit von hier gibt es einen Bach.«
Richard deutete mit der Hand auf verschiedene Plätze, an denen Leute arbeiteten. »Schütte die Schüsseln mit Zubereitungen und Pulvern dort drüben in den Kessel mit kochendem Wasser. Dann trag ihn zum Bach und halte ihn hinein, bis er abgekühlt ist.« Mit erhobenem Finger mahnte er zur Vorsicht. »Aber nicht zu tief, damit das Wasser aus dem Bach nicht in den Kessel schwappt und alles verdirbt.«
Owen schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht.«
Ungeduldig stand er daneben, während Kahlan den Inhalt der flachen Schüsseln in den Kessel mit kochendem Wasser gab. Schließlich reichte sie ihm den Kessel an, worauf er sofort zur Tür hinauseilte, um ihn im Bach abzukühlen. Cara folgte ihm nach draußen, um sicherzugehen, daß dem Gebräu, vielleicht Richards einzige Chance, sein Leben zu retten, nichts zustieß.
Unterdessen hockte Jennsen auf der anderen Seite neben ihm auf dem Boden und hielt seine Hand. Kahlan strich sich mit dem Handrücken nervös das Haar aus dem Gesicht, ehe sie sich ebenfalls neben ihm niederließ und, während sie auf Caras und Owens Rückkehr warteten, seine freie Hand ergriff.
Es schien Stunden zu dauern, bis Owen endlich mit dem Kessel zurückgelaufen kam, auch wenn Kahlan wußte, daß in Wirklichkeit nicht annähernd so viel Zeit verstrichen war.
»Seih es durch ein Tuch«, wies Richard sie an, »aber drück das Tuch am Schluß nicht aus, sondern laß die Flüssigkeit einfach durchlaufen, bis du etwa eine halbe Tasse hast. Sobald das erledigt ist, gib das Öl hinzu.«
Alles stand daneben und schaute Kahlan bei der Arbeit zu. Als sie genügend Flüssigkeit aus dem Kessel in der Tasse aufgefangen hatte, goß sie das Öl hinzu.
»Rühr es mit einer Zimtstange um«, wies Richard sie an.
Owen kletterte sogleich auf einen Hocker. »Ich meine mich zu erinnern, hier irgendwo Zimt gesehen zu haben.« Er reichte Kahlan eine Stange, worauf sie augenblicklich daranging, die goldene Flüssigkeit umzurühren – doch das Ergebnis blieb unbefriedigend.
»Öl und Wasser wollen sich nicht mischen«, erklärte sie, an Richard gewandt.
Er hatte seinen Kopf auf die ihr abgewandte Seite gewälzt. »Versuch es weiter. Irgendwann kommt der Moment, da sich beides vermengt.«
Unschlüssig rührte sie weiter, obwohl unverkennbar war, daß sich das Öl längst zu Klumpen verdickt hatte und sich nicht mit dem durch das Tuch geseihten Wasser vermischen ließ. Je mehr es abkühlte, desto weniger sah es danach aus, als wollte die Sache funktionieren.
Kahlan spürte eine erste verzweifelte Träne über ihre Wange rollen und von ihrem Kinn herabtropfen.
Plötzlich stockte der Tasseninhalt: tapfer rührte sie dennoch weiter, um Richard den Mißerfolg nicht eingestehen zu müssen. Der wachsende Kloß in ihrem Hals machte das Schlucken zunehmend schwierig.
Und auf einmal verflüssigte sich der Tasseninhalt wieder! Kahlan entfuhr ein überraschtes Keuchen. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete sie, wie der Tasseninhalt sich urplötzlich in eine geschmeidige, sirupartige Flüssigkeit verwandelte.
»Richard!« Sie wischte sich die Träne aus dem Gesicht. »Endlich haben sich die beiden Flüssigkeiten vermischt. Was jetzt?«
Er streckte seine Hand vor. »Dann ist es fertig. Flöß es mir ein.«
Jennsen und Cara halfen ihm, sich aufzurichten. Kahlan setzte ihm die kostbare Tasse mit beiden Händen vorsichtig an die Lippen und kippte sie etwas, um ihm das Trinken zu erleichtern. Es dauerte eine Weile, bis er die gesamte Flüssigkeit hinuntergeschluckt hatte; mehrmals mußte er zwischen den einzelnen, winzigen Schlucken absetzen, um sein Husten zu unterdrücken.
Es war erheblich mehr, als sich in jedem der kleinen, rechteckigen Fläschchen befunden hatte, doch da er es erst so spät zu sich nahm, vermutete Kahlan, daß er möglicherweise eine größere Menge benötigte.
Als er fertig war, stellte sie die Tasse auf dem Arbeitstisch ab und leckte einen Tropfen der Flüssigkeit von ihrem Finger. Das Gegenmittel verströmte ein zartes Zimtaroma und hatte einen süßlich würzigen Geschmack. Sie hoffte sehr, daß es so seine Richtigkeit hatte.
Nach der Anstrengung des Trinkens hatte Richard Mühe, wieder zu Atem zu kommen. Behutsam legten sie ihn wieder auf den Rücken. Seine Hände zitterten, und er machte einen erbärmlichen Eindruck.
»Laßt mich einfach ausruhen«, murmelte er.
Ihnen allen stand eine lange Nacht bevor. Kahlan bezweifelte, ob sie würde schlafen können, solange sie nicht sicher wußte, daß Richard wieder gesund werden würde.
Zedd deutete nach vorn. »Der dort drüben muß auch noch weggeräumt werden«, sagte er zu Chase.
Chase trug ein Kettenhemd über einem hellbraunen, ledernen Waffenrock. Seine schweren schwarzen Hosen wurden von einem ebenfalls schwarzen, durch einen großen, mit dem Emblem der Grenzposten – einer verzierten Silberschnalle – besetzten Gürtel gehalten. Unter seinem schwarzen Umhang befand sich ein kleines, an allen nur erdenklichen Stellen – an den Beinen, der Hüfte, den Oberarmen sowie hinter seinen beiden Schultern – festgeschnalltes Waffenarsenal, von kleinen, dünnen Dornen, die man zwischen den Fingern der geschlossenen Faust hielt, um den Schädelknochen zu durchstoßen, bis hin zu einer sichelförmigen Streitaxt, mit der sich ein Schädel mit einem einzigen, sauberen Hieb spalten ließ. In Chases Händen wurde jede einzelne von ihnen zur tödlichen Waffe.
Es war bereits einige Zeit her, daß sein Können als Grenzposten gefragt war. Chase glich immer mehr einem Mann, dem seine Bestimmung abhanden gekommen war.
Der kräftige Grenzposten ging hinüber auf die andere Seite des Wehrgangs und bückte sich, um ein unter einem Toten eingeklemmtes Messer aufzuheben.
Er gab ein Brummen von sich, als er es wiedererkannte. »Da ist es ja.« Er hielt das mit einem Walnußgriff versehene Messer ins Licht und betrachtete es. »Ich hatte schon befürchtet, ich hätte es verloren.«
Ohne hinsehen zu müssen, schob er das Messer in eine leere Scheide, dann griff er mit einer Hand in den Hosenbund des Toten, hob den steifen Körper vom Boden hoch, trat zu einer Öffnung in der mit Zinnen versehenen Mauer und wuchtete die Leiche hinaus ins Nichts.
Zedd riskierte einen Blick über die Brüstung. Mehrere tausend Fuß ging es senkrecht in die Tiefe, ehe das Muttergestein des Berges sich weit genug nach außen neigte, daß ein fallender Gegenstand dagegen prallen mußte. Darunter folgte eine mehrere tausend Fuß hohe Granitwand, ehe schließlich der Wald begann.
In den Bergen näherte sich die goldene Sonne dem Horizont, und die Wolken waren plötzlich durchzogen von goldenen Streifen. Aus der Entfernung wirkte die Stadt tief unten prachtvoll wie immer, doch Zedd wußte, daß sie mittlerweile völlig menschenleer war, ein Ort ohne Einwohner, die ihn hätten mit Leben füllen können.
»Chase, Zedd!«, rief Rachel aus der offenen Tür. »Der Eintopf ist fertig.«
Zedd warf seine dürren Arme in die Luft. »Wird auch allmählich Zeit, verdammt! Man könnte ja glatt verhungern, bis so ein Eintopf endlich gar ist.«
Rachel stemmte ihre mit dem Holzlöffel bewehrte Hand in die Hüfte und drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Wenn du weiter solche schlimmen Wörter gebrauchst, kriegst du überhaupt nichts zu essen.«
Chase sah zu Zedd hinüber und stieß einen Seufzer aus. »Und Ihr glaubt, Ihr hättet Sorgen. Man sollte nicht meinen, daß eine kleine Göre, die mir kaum bis an die Gürtelschnalle reicht, eine solche Plage sein kann.«
Zedd folgte Chase zur Türöffnung in der massiven Steinmauer. »Ist sie immer so anstrengend?«
Chase zauste Rachel im Vorübergehen das Haar. »Immer«, vertraute er ihm an.
»Ist der Eintopf überhaupt etwas geworden?«, erkundigte sich Zedd. »Ist er wirklich so gut, daß es sich lohnt, dafür auf Kraftausdrücke zu verzichten?«
»Sobald es schwierig wurde, hat Friedrich mir geholfen«, sagte Rachel. »Und er meint, er ist köstlich.«
»Nun, wir werden sehen«, sagte Chase.
Rachel drehte sich herum und drohte ihm mit dem hölzernen Kochlöffel. »Aber erst mußt du dir die Hände waschen. Ich hab dich einen Toten über die Mauer schmeißen sehen. Du darfst dich erst an den Tisch setzen und essen, wenn du dir die Hände gewaschen hast.«
Chase warf Zedd einen bemüht nachsichtigen Blick zu. »Irgendwo da draußen läuft in diesem Moment ein kleiner Junge herum und hat seinen Spaß, ohne sich der traurigen Tatsache bewußt zu sein, daß er eines schönen Tages das liebreizende Fräulein ›Wasch-dir-bloß-die-Händevor-dem-Essen‹ ehelichen wird.«
Zedd mußte schmunzeln, daß Chase Rachel wie eine Tochter bei sich aufgenommen hatte, war so ziemlich die beste Lösung gewesen, die Zedd sich hatte wünschen können. Rachel hatte es damals ebenso empfunden, und es sah ganz so aus, als hätte sich bis zu diesem Tag nichts daran geändert. Sie war geradezu vernarrt in ihn.
Als sie schließlich vor dem behaglichen Kaminfeuer am Tisch saßen und Zedd sich seine mittlerweile dritte Portion Eintopf schmecken ließ, konnte er sich nicht erinnern, wann ihm die Burg der Zauberer zuletzt so wundervoll erschienen war. Und das alles nur, weil sie endlich wieder ein Kind und ein paar liebe Freunde beherbergte.
Friedrich hatte schnell erkannt, daß er zu spät gekommen war. Er hatte seinen Kopf gebraucht und war kurz entschlossen zu Chase geeilt, jenem alten Freund, von dem er Richard hatte erzählen hören.
Während Chase sofort losgezogen war, um Zedd und Adie zu Hilfe zu eilen, war Friedrich in die Burg zurückgekehrt, um die Leute auszuspionieren, die sie eingenommen hatten. Dort angekommen, hatte er, peinlich darauf bedacht, allen Schwestern aus dem Weg zu gehen, die Augen offen gehalten, so daß er Chase und Zedd wertvolle Informationen über die Stärke der Besatzer und ihren alltäglichen Tagesablauf hatte liefern können. Anschließend hatte er sie nach Kräften bei der Rückeroberung unterstützt.
Zedd mochte ihn. Nicht nur, weil er beängstigend geschickt mit einem Messer umzugehen wußte, sondern auch, weil es sich sehr unterhaltsam mit ihm plaudern ließ. Da er selbst einmal mit einer Hexenmeisterin verheiratet gewesen war, konnte er sich frei von jeglicher Befangenheit, die manch anderer gegenüber Zauberern an den Tag legte, mit Zedd unterhalten. Zudem hatte er sein ganzes Leben in D’Hara verbracht, was es ihm ermöglichte, ihnen allerhand nützliche Informationen zu liefern.
Rachel hielt die geschnitzte Figur eines Falken in die Höhe. »Sieh mal, was Friedrich für mich gemacht hat, Zedd. Hast du jemals eine so schöne Schnitzerei gesehen?«
Zedd lächelte. »Nein, bestimmt nicht.«
»Das ist doch nichts Besonderes«, wehrte Friedrich ab. »Hätte ich ein wenig Blattgold, könnte ich sie dir vergolden. Damit habe ich mir früher meinen Lebensunterhalt verdient.« Dann fügte er lächelnd hinzu: »Bis Lord Rahl mich zum Grenzposten ernannt hat.«
»Wißt Ihr«, wandte sich Zedd beiläufig an die beiden Männer, »zur Zeit ist die Burg eher durch Eindringlinge ohne Magie gefährdet als durch solche mit. Meine Wenigkeit mag einen guten Schutz gegen jene bieten, denen mit Magie beizukommen ist, nicht aber gegen all die anderen.«
Chase nickte. »Da ist etwas dran.«
»Nun, die Sache ist die. Ich dachte mir, da es keine Grenze mehr gibt, dafür aber ständig Schwierigkeiten hier, würdet ihr beide vielleicht die verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen wollen, bei der Sicherung der Burg der Zauberer zu helfen. Ich bin für diese Aufgabe längst nicht so geeignet wie jemand, der in diesen Dingen ausgebildet ist.« Zedd beugte sich vor, die Stirn eindringlich gerunzelt. »Es wäre wirklich überaus wichtig.«
Chase hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und kaute behäbig einen Bissen Zwieback. Schließlich rührte er mit seinem Löffel in der Schale und sagte: »Nun, wenn Jagang die nicht mit der Gabe Gesegneten dazu benutzen würde, dieses Gemäuer erneut in seine Gewalt zu bringen, könnte dies katastrophale Folgen haben.« Er dachte einen Moment darüber nach. »Emma wird es gewiß verstehen.«
Zedd zuckte die Achseln. »Warum holst du sie nicht her?
Chase sah ihn verwundert an. »Hierher?«
Der Zauberer deutete um sich. »Geräumig genug ist die Burg doch allemal.«
»Aber wohin sollen wir mit unseren Kindern?« Chase lehnte sich zurück. »Alle meine Kinder, hier in der Burg, das wäre dir bestimmt zu aufreibend, Zedd – sie würden überall herumtoben und in den Fluren spielen. Es würde dich in den Irrsinn treiben. Außerdem«, fügte er mit einem gespielt finsteren Seitenblick auf Rachel hinzu, »ist eines häßlicher als das andere.«
»Nun, eine Belastung wäre es zweifellos«, gab Zedd ihm unumwunden Recht, »aber schließlich geht es vornehmlich um den Schutz der Burg. Und dafür ist wohl kaum ein Opfer zu groß.«
»Was meinst du, Rachel?«, fragte Chase schließlich. »Wie würde es dir gefallen, hier in diesem alten, staubigen Gemäuer bei Zedd zu wohnen?«
Rachel kam sofort angerannt und schlang ihm ihre Arme ums Bein. »Au ja, bitte. Das wäre einfach prima.«
Chase seufzte. »Damit wäre die Sache wohl entschieden. Aber du mußt immer schön artig sein und darfst Zedd nicht stören, indem du zu viel Krach machst.«
»Versprochen«, sagte Rachel. Dann sah sie mit besorgter Miene hoch zu Zedd, »muß Mutter wieder durch diesen engen Tunnel in die Burg hineinkriechen, wie damals?«
Zedd lachte amüsiert. »Aber nein, diesmal lassen wir sie zur Vordertür herein, wie es sich für eine Dame geziemt.« Er wandte sich an Friedrich. »Was meint Ihr, Grenzposten? Wärt Ihr bereit, Richards Anordnung weiterhin zu befolgen, indem Ihr hier bleibt und bei der Bewachung der Burg helft?«
Friedrich ließ den geschnitzten Vogel um eine seiner Flügelspitzen kreisen und dachte nach.
»Vielleicht würde Euch ein Posten als offizieller Vergolder der Burg der Zauberer reizen? Blattgold gibt es hier zur Genüge. Und wenn eines Tages die Einwohner Aydindrils zurückkehren, hättet Ihr auch einen festen Kundenstamm.«
Friedrich starrte nachdenklich auf den Tisch. »Ich weiß nicht. Dieses eine Abenteuer war ja gut und schön, aber seit dem Tod meiner Frau Althea habe ich ein wenig das Interesse an den Dingen verloren.«
Zedd nickte verständnisvoll. »Das kann ich Euch nachempfinden. Ich war früher auch verheiratet. Trotzdem, ich glaube, es würde Euch gut tun, für eine Arbeit bezahlt zu werden, die auch gebraucht wird.«
Friedrichs Miene hellte auf. »Also gut, einverstanden. Ich nehme Euren Posten an, Zauberer.«
»Gut«, freute sich Chase. »Dann habe ich jemanden, der mir hilft, unartige Kinder ins Verlies zu sperren.«
Rachel kicherte, als er sie wieder auf dem Boden absetzte.
Chase schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Nun, Friedrich, ich denke, als künftige Burgwächter sollten wir uns jetzt vielleicht mit dem einen oder anderen Rundgang davon überzeugen, daß hier alles sicher ist. Bei der Größe des Gemäuers wird Rikka ein wenig Unterstützung sicherlich gelegen kommen.«
»Gebt nur Acht auf die Schilde«, ermahnte Zedd die beiden, als sie bereits auf dem Weg zur Tür waren.
Kaum waren die beiden Männer gegangen, holte Rachel ihm zum Rest des Eintopfes einen weiteren Zwieback.
»Wenn wir hier wohnen, werden wir dir zuliebe auch ganz leise sein, Zedd.«
»Ach, weißt du, Rachel, die Burg ist riesengroß. Ich glaube, es würde mich kaum stören, wenn du mit deinen Geschwistern hier ein wenig spielen würdest.«
»Wirklich?«
Zedd holte den lederbezogenen Ball mit den verblichenen blauen und rosa Zick-Zack-Linien aus seiner Tasche hervor und legte ihn auf den Tisch.
Rachel bekam vor Überraschung leuchtende Augen.
»Diesen alten Ball hier habe ich gefunden«, sagte er und deutete mit dem Zwieback darauf. »Ich denke, ihm wäre sehr viel wohler zumute, wenn er jemanden hätte, der mit ihm spielt. Was meinst du, würden du und deine Geschwister wohl mit ihm spielen wollen, wenn ihr hier wohnt? Ihr könntet ihn nach Herzenslust durch die Flure springen lassen.«
Vor Staunen klappte ihr Mund auf. »Wirklich, Zedd?« Ihr Gesichtsausdruck entlockte Zedd ein Schmunzeln. »Ja, wirklich.«