42

Während die Männer sich zu ihren Füßen drängten und ihrer Dankbarkeit über das Ende ihrer Strafe der Verbannung freien Lauf ließen, wechselte Richard einen verstohlenen Seitenblick mit Kahlan. Cara zog angesichts des Schauspiels ein entschieden mißbilligendes Gesicht, verzichtete jedoch darauf, einzugreifen.

Es gab ein paar ältere Männer in der Gruppe sowie einige mittleren Alters, die meisten jedoch waren entweder sehr jung, wie Owen, oder ein wenig älter, wie Richard. Alle, ohne Ausnahme, hatten schwere Zeiten durchgemacht.

Das Schwierigste stand Richard noch bevor; er mußte sie dazu bringen, sich dem zu stellen, was sie jetzt erwartete. Er sah hinüber zu Jennsen, die ein wenig abseits stand, und bedeutete ihr mit einem Wink, vorzutreten. Alle Augen waren auf sie gerichtet; gespannt beobachteten die Männer, wie sie ins Licht trat. Sie bot einen so bezaubernden Anblick, daß Richard, als er sie über die Steine klettern sah, ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. Verlegen spielte sie mit einer ihrer roten Locken und blickte schüchtern hinüber zu den Männern.

Als Richard ihr seinen Arm entgegenstreckte, nahm sie die beschützende Geste dankbar an.

»Dies ist meine Schwester, Jennsen Rahl«, stellte Richard sie vor. »Sie wurde, genau wie jeder einzelne von euch, von der Gabe völlig unbeleckt geboren. Unser gemeinsamer Vater hat versucht, sie zu töten, so wie es Tausende von Jahren bei nicht mit der Gabe geborenen Nachkommen üblich war.«

»Und Ihr?«, warf jemand ein, der offenbar noch immer skeptisch war. »Werdet Ihr sie nicht verstoßen?«

Richard zog sie mit dem Arm zu sich heran. »Warum sollte ich? Für welches Verbrechen sollte ich sie verstoßen? Weil sie als Frau und nicht, wie ich, als Mann geboren wurde? Weil sie kleiner ist als ich? Weil sie rotes und nicht blondes Haar hat? Weil ihre Augen blau sind und nicht grau? ... Weil sie nicht mit der Gabe gesegnet ist?«

Die Männer traten verlegen von einem auf den anderen Fuß und verschränkten die Arme vor dem Körper. Einige wandten, spürbar peinlich berührt, daß jemand nach seinen Ausführungen überhaupt diese Frage gestellt hatte, die Augen ab.

»Sie ist wunderschön, gescheit und weiß ihren Verstand zu gebrauchen. Auch sie kämpft um ihr Recht auf Leben, und das mit angemessenen Mitteln. Und weil sie, wie ich, den Wert des Lebens kennt, nehme ich sie mit offenen Armen auf.«

In diesem Augenblick vernahm Richard ein Meckern und drehte sich herum. Betty, hinter sich das lose Seilende, kam den Hang heraufgetrottet. Jennsen schnappte sich den Strick und betrachtete das lose Ende. Richard sah sofort, daß es durchgebissen war.

»Was hast du bloß wieder angestellt, Betty«, schimpfte sie und drohte der verstockten Ziege mit dem ausgefransten Ende des Stricks.

Betty, sichtlich stolz auf sich selbst, antwortete mit einem fröhlichen Meckern.

Jennsen stieß einen tiefen Seufzer aus und entschuldigte sich achselzuckend bei Richard.

Unterdessen waren die Männer unter ängstlichem Gemurmel zurückgewichen.

»Ich bin keine Hexe«, rief Jennsen ihnen erbost zu. »Nur weil ich rote Haare habe, bedeutet das noch lange nicht, daß ich eine Hexe bin.«

Das schien die Männer nicht im Mindesten zu überzeugen.

»Ich hatte bereits mit einer überaus echten Hexe zu tun«, versuchte Richard sie zu beschwichtigen. »Daher kann ich euch versichern, rotes Haar hat nichts zu bedeuten. Das stimmt einfach nicht.«

»Es stimmt sehr wohl«, beharrte einer. Er zeigte auf Betty. »Das da ist ihr dienstbarer Geist.«

Richard runzelte die Stirn. »Dienstbarer Geist?«

»Ganz recht«, bestätigte ein anderer. »Eine Hexe hat stets einen Vertrauten bei sich. Sie hat ihren dienstbaren Geist gerufen, und da ist er gekommen.«

»Gerufen?« Jennsen schwenkte das zerfranste Seilende vor ihren Augen. »Ich hatte sie an einem Baum festgebunden, und sie hat den Strick durchgenagt.«

Einer drohte ihr mit erhobenem Finger. »Ihr habt sie mit Magie gerufen, und sie ist gekommen.«

Die Hände wütend zu Fäusten geballt, trat Jennsen einen Schritt auf die Männer zu. Wie auf ein Kommando wichen sie einen Schritt zurück.

»Ihr alle hattet Familie und Freunde – ihr alle habt in einer Gemeinschaft gelebt. Ich dagegen hatte nie Freunde; ich konnte keine haben, weil meine Mutter und ich unser Leben lang vor meinem Vater davonlaufen mußten, um nicht aufgegriffen zu werden. Hätte er mich gefaßt, hätte er mich gefoltert und schließlich umgebracht – wie er es auch mit euch getan hätte. Wahrend meiner ganzen Kindheit konnte ich nie Freunde haben, deshalb hat mir meine Mutter Betty geschenkt. Betty war damals gerade geboren; wir sind zusammen aufgewachsen. Sie hat ihren Strick durchgenagt, weil ich die Einzige bin, die ihr jemals nahe stand und sie ganz einfach bei mir sein wollte.

Ich wurde, wegen des Verbrechens meiner Geburt, von allen anderen verbannt – genau wie eure Vorfahren. Ihr wißt, wie ungerecht und schmerzhaft eine solche Verbannung ist, und nun wagt ihr es, mich abzuweisen, nur weil ich rote Haare und als Haustier eine Ziege habe? Ihr seid nichts weiter als ein Haufen rückgratloser Feiglinge und Heuchler!

Erst vergiftet ihr den einzigen Menschen auf der ganzen Welt, der den Mut besitzt, eure Verbannung aus dem Rest der Menschheit zu beenden, und jetzt habt ihr Angst vor mir und weist mich aufgrund eures albernen Aberglaubens zurück. Ich wünschte, ich besäße Magie, denn dann würde ich euch alle für eure Herzlosigkeit zu einem Häuflein Asche verbrennen!«

Richard legte ihr eine Hand auf die Schulter und zog sie ein Stück zurück. »Ich bin sicher, das wird sich klären lassen«, redete er leise auf sie ein. »Laß mich nur mit ihnen reden.«

»Ihr taucht einfach hier auf und behauptet, Ihr seid ein Zauberer«, rief ein älterer Mann im Hintergrund, »und erwartet, daß wir Euch glauben – einfach so, nur weil Ihr es sagt. Und im selben Atemzug verlangt Ihr, wir dürfen nicht an unserer Überzeugung festhalten, daß sie eine Hexe mit ihrer Vertrauten sein könnte, und das nur, weil es unserem Glauben entspricht.«

»Genau«, rief ein anderer. »Ihr behauptet, an echte Magie zu glauben, aber unseren Glauben tut Ihr als Unsinn ab. Vieles, was Ihr sagt, klingt vernünftig, aber ich bin nicht mit allem einverstanden.«

Teilweise Zustimmung durfte er auf keinen Fall zulassen; einen Teil der Wahrheit abzulehnen hieße sie ganz ablehnen. Richard wägte seine Möglichkeiten ab, überlegte, wie er diese Leute, die immun gegen Magie waren, sie nicht einmal wahrnehmen konnten, von der Existenz echter Magie überzeugen könnte. Aus ihrer Sicht machte er sich des gleichen Irrtums schuldig, den er ihnen vorwarf. Nur, wie sollte er einem Blinden die Farben des Regenbogens zeigen?

»Ihr habt nicht ganz Unrecht«, rief er ihnen zu. »Gebt mir einen Augenblick Zeit, dann zeige ich euch die echte Magie, von der ich spreche.«

Er winkte Cara zu sich heran. »Holt das Warnzeichen her«, raunte er ihr in vertraulichem Ton zu.

Cara machte sich sogleich auf den Weg, den Hang hinunter. Er sah, daß Jennsen Tränen der Wut in den Augen standen, sie jedoch nicht weinte. Kahlan zog sie noch ein Stück weiter zurück, als Richard sich von neuem an die Manner wandte.

»Es gibt noch etwas, das ich euch erzählen muß – Dinge, die ihr unbedingt verstehen müßt. Ich habe die Verbannung beendet, aber das heißt nicht, daß ich euch bedingungslos als Mitglieder unseres Volkes akzeptiere.«

»Aber Ihr habt uns doch bereits in unserer neuen Heimat willkommen geheißen«, wandte Owen ein.

»Ich habe lediglich ausgesprochen, was für jeden offenkundig ist – daß ihr das Recht auf ein eigenes Leben habt. Euch als Bürger D’Haras, als Bürger dessen, wofür D’Hara derzeit steht, willkommen zu heißen – so ihr dies wollt –, war eine freundliche Geste. Aber dieser Willkommensgruß bedeutet nicht, daß ich euch bedingungslos willkommen heiße.

Natürlich sollte es jedem freistehen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, aber – damit wir uns nicht mißverstehen – zwischen dieser Freiheit und Anarchie besteht ein großer Unterschied.

Sollten wir aus unserem Kampf siegreich hervorgehen, seid ihr als freie Bürger eines d’Haranischen Reiches willkommen; doch dieses Reich hält an bestimmten Werten fest. So steht es euch zum Beispiel frei, zu denken, was immer ihr für richtig haltet, und zu versuchen, andere von der Richtigkeit eurer Ansichten zu überzeugen. Doch das verträgt sich nicht mit der Auffassung, daß diejenigen, die für diese Freiheiten kämpfen, in euren Augen als Barbaren oder gar Kriminelle gelten, während ihr selbst in den Genuß der Früchte ihres Kampfes kommen wollt. Zumindest hätten sie euren Respekt und Dank verdient. Ihr Leben ist nicht weniger wert als eures und darf euretwegen nicht einfach geopfert werden. Das wäre Sklaverei.«

»Aber ihr habt barbarische Bräuche und bedient Euch des Mittels der Gewalt, um für ein Land zu kämpfen, das wir noch nicht einmal gesehen haben«, wandte einer der jüngeren Männer ein. Mit ausgestrecktem Arm zeigte er hinter sich nach Bandakar. »Das einzige Land, das wir je kennen gelernt haben, liegt dort – und Eure Vorliebe für Gewalt lehnen wir bedingungslos ab.«

»Land?« Richard breitete die Arme aus. »Wir kämpfen nicht für ein bestimmtes Land. Wir sind einem Ideal verpflichtet; dem Ideal der Freiheit – unabhängig davon, wo jemand lebt. Uns geht es nicht darum, ein bestimmtes Territorium zu verteidigen, unser Blut für ein Stück Erde zu vergießen. Wir kämpfen nicht etwa aus Liebe zur Gewalt. Wir kämpfen für unsere persönliche Freiheit, für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, für die Sicherung unseres Fortbestands, für unser Glück.

Ihr glaubt in eurer selbstgefälligen Arroganz offenbar, eure bedingungslose Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung macht euch zu edlen, erleuchteten Wesen. In Wahrheit aber ist sie nichts weiter als die unterwürfige moralische Kapitulation vor dem Bösen. Wenn ihr jegliche Selbstverteidigung bedingungslos ablehnt – offenbar, weil ihr sie als vermeintliche Kapitulation vor der Gewalt betrachtet –, bleibt euch als letztes Mittel nur, um Gnade zu betteln oder Versöhnung anzubieten.

Aber das Böse kennt keine Gnade, und jeder Versuch, sich mit dem Bösen auszusöhnen, wäre nichts weiter als eine schrittweise Kapitulation. Aber vor dem Bösen zu kapitulieren bedeutet im günstigsten Fall Sklaverei und schlimmstenfalls den Tod. Eure bedingungslose Ablehnung jeglicher Gewalt bedeutet in Wirklichkeit nichts anderes, als den Tod dem Leben vorzuziehen.

Ihr werdet stets nur das erreichen, was ihr bereitwillig annehmt.

Das Recht, ja, die absolut zwingende Notwendigkeit, an jedem Vergeltung zu üben, der als Erster zum Mittel der Gewalt greift, ist eine der Grundvoraussetzungen für das eigene Überleben. Die Ethik der Selbstverteidigung gründet sich auf das Recht eines jeden Einzelnen auf Leben. Darin äußert sich eine völlige Ablehnung jeder Gewalt, die sich nur durch die unerschütterliche Bereitschaft, jeden zu vernichten, der sich mit Gewalt gegen einen wendet, garantieren läßt. Die bedingungslose Entschlossenheit, jeden auszumerzen, der es wagt, gewaltsam gegen einen vorzugehen, erhöht wiederum den Wert des Lebens eines jeden Einzelnen. Somit ist die Weigerung, das eigene Leben jedem dahergelaufenen Schurken oder Tyrannen zu überlassen, im Grunde eine Bejahung des Lebens selbst.

Wenn ihr nicht bereit seid, euer Recht auf Leben zu verteidigen, dann benehmt ihr euch wie hilflose Nager, die mit einem Raubvogel debattieren wollen. Ihr haltet seine Methoden für verkehrt, er hält euch für sein Fressen.

Nach den Lehren der Imperialen Ordnung ist die Menschheit verdorben und böse, weshalb das Leben selbst von geringem Wert ist; ihr ganzes Verhalten bestätigt dies. Sie predigt, Erlösung und Glück können nur in einer anderen Welt erlangt werden, und das auch nur, wenn man sein Leben in dieser bereitwillig opfert.

Großzügigkeit, so sie aus freien Stücken erfolgt, ist eine wunderbare Sache, der Glaube an das Primat der Selbstaufopferung als moralische Bedingung dagegen ist nichts anderes als die Befürwortung der Sklaverei. Wer euch einzureden versucht, es sei eure bindende Pflicht, euch für andere aufzuopfern, versucht euch blind zu machen gegen die Ketten, die man euch im selben Moment um den Hals legt.

Seid ihr erst D’Haraner, wird niemand mehr von euch verlangen, euer Leben für andere zu opfern; aus dem gleichen Grund könnt ihr aber ebenso wenig verlangen, daß andere sich für euch aufopfern. Was ihr glauben wollt, bleibt euch überlassen, auch wenn ihr nicht mit der Waffe in der Hand für das Überleben der Gemeinschaft kämpfen wollt. Trotzdem müsst ihr euren Beitrag zur Unterstützung unserer Ziele leisten und dürft weder materiell noch geistig zu der Zerstörung unserer Werte und damit unseres Lebens beitragen – das wäre Verrat und würde als solcher geahndet.

Die Imperiale Ordnung hat unschuldige Länder wie das eure gewaltsam erobert; um die Herrschaft an sich zu reißen, haben sie Menschen versklavt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet. In der Neuen Welt sind ihre Truppen nicht minder gewaltsam vorgegangen. Damit hat sie das Recht verwirkt, gehört zu werden. Das ist mitnichten ein moralischer Konflikt; es gibt auch keine ethischen Fragen mehr zu diskutieren: Sie muß zu Staub zermalmt werden.«

Einer der Männer trat vor. »Aber der natürliche Anstand im Umgang mit unseren Mitmenschen gebietet doch, daß wir uns ihrer für ihr fehlerhaftes Verhalten erbarmen.«

»Der höchste Wert ist das Leben selbst – was ihr in eurer wirren Vorstellung von Erbarmen zwar erkennt, aber nur zum Teil. Mit der bewußten, vorsätzlichen Ermordung eines Menschen nehmen sie diesem etwas Unersetzliches. Ein Mörder, der aus freiem Antrieb tötet, hat sein Recht auf Leben verwirkt.«

»Weil die Imperiale Ordnung Eure Heimat überfallen hat«, dachte Owen laut nach, »wollt Ihr also jeden in der Alten Welt umbringen?«

»Nein. Die Imperiale Ordnung ist eine Verkörperung des Bösen, und sie stammt aus der Alten Welt, aber das heißt nicht, daß alle Menschen in der Alten Welt böse sind, nur weil sie zufällig auf einem von bösen Menschen regierten Stück Land geboren wurden. Manche unterstützen diese Tyrannen tatkräftig und machen sich das Böse dadurch zu eigen, doch das trifft längst nicht auf alle zu. Viele Menschen in der Alten Welt sind ebenfalls Opfer der Herrschaft der Imperialen Ordnung und leiden sehr unter ihrem barbarischen Regime; viele kämpfen sogar bereits dagegen. Während wir hier miteinander sprechen, setzen viele von ihnen ihr Leben aufs Spiel, um sich von diesen bösen Menschen zu befreien. Unser Kampf hat das gleiche Ziel: Freiheit.

Wo diese Freiheitssuchenden geboren sind, spielt dabei keine Rolle. Wir glauben an den Wert des individuellen Lebens; die Heimat macht einen noch nicht zu einem bösen Menschen – was zählt, sind Überzeugungen und Taten.

Aber damit wir uns recht verstehen – viele Menschen nehmen tatkräftigen Anteil an der Imperialen Ordnung und ihren mörderischen Methoden. Keine Tat darf jemals folgenlos bleiben. Deswegen muß die Imperiale Ordnung vernichtet werden.«

»Aber einer Art Kompromiß würdet Ihr doch sicher auch zustimmen«, wandte ein älterer Mann ein.

»Wer, in der Hoffnung auf Aussöhnung, bedenkenlos den Kompromiß mit dem nicht bußfertigen Bösen sucht, läßt sich nur von ihm infizieren. Von diesem Tag an wird sein Gift durch seine Adern fließen, bis es ihn schließlich tötet.«

»Aber diese Strafe ist viel zu hart«, erwiderte der alte Mann. »Mit dieser unbeugsamen Haltung verstellt man nur den Weg zu einer konstruktiven Lösung. Es gibt immer Spielraum für einen Kompromiß.«

Richard tippte mit dem Daumen gegen seine Brust. »Ihr habt beschlossen, mir Gift zu verabreichen, ein Gift, das mich töten wird. Das macht es zu etwas Bösem. Welche Art von Kompromiß soll ich eurer Meinung nach wohl mit diesem Gift schließen?«

Darauf wußte niemand eine Antwort.

»Ein Kompromiß, etwa beim Aushandeln eines Preises, ist durchaus legitim – zwischen Partnern, die über die gleichen Moralvorstellungen verfügen und bereit sind, fair und ehrlich miteinander umzugehen. In Fragen der Ethik oder Wahrheit aber kann es keine Kompromisse geben.

Kompromisse mit Mördern zu schließen – denn genau das schlagt ihr vor – hieße, ihnen eine moralische Gleichwertigkeit einräumen, die ihnen von Rechts wegen gar nicht zustehen kann. Moralische Gleichwertigkeit bedeutet, daß ihr nicht besser seid als sie. Somit wäre ihre Überzeugung – daß es ihnen zusteht, euch zu foltern, zu vergewaltigen und zu ermorden – eurer Sichtweise moralisch gleichwertig. In einer solchen Situation existiert jedoch keine moralische Gleichwertigkeit, es kann sie gar nicht geben, weswegen es auch keinen Kompromiß geben kann – sondern nur völlige Selbstaufgabe.

Die Möglichkeit eines Kompromisses gegenüber diesen Männern auch nur anzudeuten hieße ihr Morden billigen.«

Die meisten Männer wirkten schockiert und verwirrt, daß jemand es wagte, so offen und unverblümt zu ihnen zu sprechen. Das Interesse an ihrem Vorrat leerer Phrasen schien offenbar zu erlahmen; einige schienen von Richards Ausführungen berührt, anderen schien die ungewohnte Klarheit Mut zu machen. Er sah es ihren Augen an – es war, als sähen sie bestimmte Dinge zum allerersten Mal.

Cara näherte sich Richard von hinten und reichte ihm das Warnzeichen. Er war nicht sicher, aber dem Anschein nach hatte sich die tiefschwarze Verfärbung seit dem letzten Mal, als er sie gesehen hatte, weiter über die Oberfläche der kleinen Statuette ausgebreitet. Drinnen rieselte der Sand nach wie vor auf das kleine Häufchen herab, das sich am Boden angesammelt hatte.

»Kaja-Rang hat die Grenze quer über diesen Paß gelegt, um euer Volk wegzusperren; er war es auch, der euch euren Namen gab. Er wußte, daß ihr Gewalt ablehnt, und befürchtete, ihr könntet Verbrechern zum Opfer fallen. Also gab er euch die Möglichkeit, sie aus eurem Land zu verbannen, damit die von euch bevorzugte Lebensweise nicht in Gefahr geriet. Er erzählte eurem Volk von der Passage durch die Grenze, damit ihr euch der Verbrecher entledigen konntet – sofern ihr den Willen dazu aufbrachtet.«

Owen schien verwirrt. »Wenn dieser große Zauberer, Kaja-Rang, uns von der Bevölkerung der Alten Welt trennen wollte, weil er befürchtete, wir würden uns mit ihnen vermischen und unser Merkmal der völligen Unbeflecktheit von der Gabe, wie Ihr es nennt, unter ihnen verbreiten, was war dann mit den Verbrechern, die wir ausgewiesen hatten? Diese Männer mußten doch genau das bewirken, was er befürchtete. Die Passage durch die Grenze zu schaffen und unseren Vorfahren davon zu erzählen scheint den Zweck der Grenze zu untergraben.«

Richard konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Sehr gut, Owen. Du fängst an, eigenständig zu denken.«

Owen strahlte. Richard deutete auf das Bildnis Kaja-Rangs.

»Siehst du, wohin sein Blick gerichtet ist? Der Ort nennt sich die Säulen der Schöpfung. Dort herrscht eine so unerträgliche Hitze, daß dort kein Leben existieren kann – es ist ein Land des Todes. Die von Kaja-Rang eingerichtete Grenze war an den Seiten begrenzt; wenn jemand aus eurem Land verbannt und durch diesen Grenzstreifen geschickt wurde, verhinderten die tödlichen seitlichen Begrenzungen, daß diese Verbannten in die Welt als Ganzes entkommen konnten. Ihnen stand nur ein einziger Weg offen: zu den Säulen der Schöpfung.

Selbst wenn man genügend Wasser und Vorräte bei sich hatte und den genauen Weg kannte, bedeutete der Versuch, das unter dem Namen ›Säulen der Schöpfung‹ bekannte Tal zu durchqueren, fast immer den sicheren Tod. Ohne dies aber, ohne genaue Kenntnis dieses Gebietes, wie man es durchwanderte und auf welchem Weg man wieder hinausgelangte, hatten die von euch Verdammten den sicheren Tod vor Augen.«

Die Männer rissen entsetzt die Augen auf. Schließlich sprach einer das Ungeheuerliche aus: »Dann haben wir, wenn wir einen Verbrecher verbannten, ihn also im Grunde hingerichtet.«

»So ist es.«

»Dieser Kaja-Rang hat uns also hinterlistig getäuscht«, setzte er hinzu. »Er hat uns dazu verleitet, diese Verbrecher in Wahrheit zu töten.«

»Ihr haltet das für eine hinterlistige Täuschung?«, fragte Richard. »Ihr selbst habt doch wissentlich bekannte Verbrecher auf die Welt losgelassen, damit sie ahnungslose Bürger ausrauben. Ihr habt wissentlich Gewalttäter auf freien Fuß gesetzt und damit ahnungslose Bürger außerhalb eures Landes zu Opfern ihrer Gewalt verdammt. Statt einen Mörder hinzurichten, gabt ihr ihnen – soweit ihr dies damals wissen konntet, hättet ihr auch nur einen Moment darüber nachgedacht – auch noch die Möglichkeit, weiterhin Menschen umzubringen. In dem blinden Bestreben, Gewalt um jeden Preis zu vermeiden, habt ihr sie in Wahrheit noch gefördert.

Ihr habt euch eingeredet, diese anderen Menschen zählten nicht, weil sie nicht wie ihr, erleuchtet seien; daß ihr besser wärt als sie, weil ihr euch über Gewalt erhaben wähntet und sie bedingungslos ablehntet. Wenn ihr überhaupt einen Gedanken auf sie verschwendet habt, dann waren diese Menschen jenseits der Grenze für euch Barbaren, deren Leben nicht zählte. Im Grunde habt ihr das Leben Unschuldiger für diese Männer, von denen ihr wußtet, daß sie Verbrecher sind, geopfert.

Kaja-Rang hat also nicht nur verhindert, daß die von der Gabe völlig Unbeleckten auf freien Fuß kamen, sondern er hat die von euch verbannten Verbrecher ihrer gerechten Strafe zugeführt, bevor sie anderen ein Leid antun konnten. Ihr dünkt euch nobel, weil ihr Gewalt ablehnt, dabei hättet ihr sie mit eurem Verhalten um ein Haar noch gefördert. Allein Kaja-Rangs mutigem Entschluß ist es zu verdanken, daß das verhindert wurde.«

»Gütiger Schöpfer, in Wahrheit ist es noch viel schlimmer.« Owen ging in die Knie und ließ sich schwer zu Boden fallen. »Viel schlimmer, als Ihr ahnt.«

Auch einige seiner Kameraden schien das kalte Grausen gepackt zu haben. Einige mußten sich, wie Owen, zu Boden sinken lassen, andere wandten sich ab, das Gesicht in den Händen vergraben.

»Was soll das heißen?«, fragte Richard.

Owen, aschfahl im Gesicht, sah auf. »Die Geschichte, die ich Euch über unser Land erzählt habe ...über die Ortschaft, aus der wir stammen, und die anderen großen Städte, und daß dort alle glücklich und zufrieden miteinander lebten ...« Richard nickte. »Nun, das traf nicht auf alle zu.«

Owen hob seine Hände in einer hilflosen Geste. »Einigen von uns war dieses einfache, unbeschwerte Leben nicht genug. Sie wollten ... na ja, sie wollten gewisse Dinge verändern. Sie sagten, sie wollten alles besser machen, wollten unsere Lebensumstände verbessern, sich eigene Häuser bauen, obwohl das völlig unseren Gewohnheiten widersprach.«

»Es stimmt, was Owen sagt«, bestätigte ein älterer Mann mit finsterer Stimme. »Ich hab zu meiner Zeit jede Menge dieser Leute kennen gelernt, die unsere Regeln des Zusammenlebens, die manche nur noch als ›lästige Gängelei‹ bezeichneten, einfach nicht mehr ertrugen.«

»Und was geschah, wenn jemand Veränderungen wollte oder die in eurem Reich geltenden Regeln nicht mehr ertrug?«, wollte Richard wissen.

Owen blickte nach rechts und links, in die niedergeschlagenen Gesichter der anderen. »Die Großen Sprecher verwarfen ihre Ideen als untauglich. Der Weise erklärte, sie würden nur Zwist unter uns säen. Ihre Hoffnungen auf eine Verbesserung der Verhältnisse zerschlugen sich, und sie selbst wurden öffentlich gebrandmarkt.« Owen schluckte. »Also beschlossen sie, Bandakar zu verlassen. Sie verließen unser Land über den Pfad, der durch die Öffnung in der Grenze führte, und versuchten ein neues, eigenes Leben anzufangen. Nicht einer von ihnen ist je zu uns zurückgekehrt.«

Richard wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Demnach sind sie auf der Suche nach einem neuen Leben, einem Leben, das besser war als das, was ihr ihnen bieten konntet, umgekommen.«

»Ich glaube, Ihr versteht nicht.« Owen erhob sich. »Wir sind genau wie diese Leute.« Er deutete mit seinem Arm hinter sich, auf seine Kameraden. »Wir haben uns geweigert, zurückzukehren und uns den Soldaten der Imperialen Ordnung zu ergeben, obwohl wir wußten, daß unseretwegen Menschen gefoltert wurden. Uns war klar, daß unsere Rückkehr die Soldaten nicht davon abhalten würde, also gingen wir nicht zurück.

Wir haben uns dem ausdrücklichen Wunsch unserer Großen Sprecher und des Weisen widersetzt, um unser Volk zu retten, und wurden dafür gebrandmarkt. Wir haben den Paß überquert, um Informationen zu beschaffen und eine Möglichkeit zu finden, wie wir uns der Imperialen Ordnung entledigen konnten. Begreift Ihr nicht? Wir haben uns praktisch genauso verhalten wie alle diese Männer in der Geschichte unseres Volkes. Wie sie, so beschlossen auch wir, unser Land zu verlassen und die Dinge zu verändern, statt die alten Zustände einfach weiter hinzunehmen.«

»Vielleicht fangt ihr jetzt endlich an zu begreifen«, sagte Richard, »daß alles, was man euch beigebracht hat, euch nur zeigte, wie man den Tod, aber nicht das Leben annimmt. Vielleicht versteht ihr jetzt, daß das, was ihr die Lehren der Erleuchtung nennt, nichts anderes waren als Scheuklappen, die man euch vor die Augen band.«

Er legte Owen eine Hand auf die Schulter und betrachtete die kleine Statuette von sich selbst in seiner anderen Hand, ehe er seinen Blick über die nervösen, angespannten Gesichter wandern ließ.

»Ihr seid es, die übrig geblieben sind, nachdem alle anderen die Prüfung nicht bestanden hatten. Nur ihr habt es so weit gebracht. Ihr allein habt endlich angefangen, von eurem Verstand Gebrauch zu machen, um für euch und eure Lieben einen Ausweg zu finden. Ihr müßt noch viel lernen, aber zumindest habt ihr einen ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht. Jetzt dürft ihr nicht mehr innehalten; wenn ihr eine reelle Chance haben wollt, eure Lieben zu retten, müßt ihr euch beherzt den Herausforderungen stellen, die ich euch jetzt erklären werde.«

Zum allerersten Mal zeichnete sich so etwas wie Stolz in ihren Mienen ab. Sie hatten Anerkennung gefunden – nicht für das fehlerfreie Herunterbeten irgendwelcher leerer Phrasen, sondern für Entscheidungen, die sie ganz allein getroffen hatten.

Загрузка...