Als Zedd wieder zu sich kam, war ihm schwindelig, und die in Wellen auftretende Übelkeit drohte ihm den Magen umzudrehen. Wahrscheinlich hatte er sich sein ganzes Leben noch nicht so elend gefühlt. Er hatte gar nicht gewußt, daß man ein so heftiges Verlangen verspüren konnte, sich zu übergeben, ohne es tatsächlich zu tun – obwohl man unfähig war, überhaupt den Kopf zu heben. Hätte er auf der Stelle sterben können, er hätte es als willkommene Erlösung von dieser grauenhaften Qual empfunden.
Er wollte seine Hände heben, um sich gegen die stechende Helligkeit zu schützen, mußte aber feststellen, daß man ihm die Handgelenke hinter dem Rücken zusammengebunden hatte.
»Ich glaube, er kommt zu sich«, sagte eine unterwürfige Männerstimme.
Trotz seiner grauenhaften Übelkeit versuchte Zedd instinktiv, anhand seiner Gabe festzustellen, wie viele Personen sich in seiner unmittelbaren Umgebung befanden, aus einem unerfindlichen Grund aber empfand er seine Gabe, gewöhnlich ein gedankenleichter Strom, dessen Gebrauch so einfach war wie der seiner Augen oder Ohren, als zäh und träge, so als steckte sie fest in klebriger Melasse. Vermutlich eine Folge dieses ekelhaften Zeugs, was immer es gewesen sein mochte, mit dem der Lappen getränkt gewesen war, den man ihm aufs Gesicht gedrückt hatte, um ihn zu betäuben. Immerhin, es gelang ihm zu spüren, daß sich nur eine einzige Person in der Nähe befand.
Kraftvolle Hände packten sein Gewand und rissen ihn mit einem Ruck auf die Beine. Zedd erteilte sich die Erlaubnis, sich zu übergeben, doch wider alle Erwartung tat sich nichts. Unvermittelt leuchtete mitten in der Luft ein kleines Flämmchen auf. Die unerwartete Helligkeit zwang Zedd, die Augen zusammenzukneifen. Die kleine, im Luftzug träge flackernde Flamme schwebte über der geöffneten Hand einer Frau mit drahtig grauem Haar. Jetzt erkannte Zedd in den Schatten noch weitere Personen; der Spürsinn seiner Gabe hatte sich erneut getäuscht. Wie zuvor sein Angreifer, mußten dies Leute sein, die für Magie unempfänglich waren.
Die vor ihm stehende Frau musterte ihn durchdringend, das Gesicht verzogen zu einer Mischung aus Befriedigung und Abscheu.
»Sieh an, sieh an«, sagte sie im Tonfall herablassender Genugtuung. »Der große Zauberer kommt wieder zu sich.«
Zedd enthielt sich einer Erwiderung, was sie zu amüsieren schien. Ihr scheußlich finsteres Gesicht mit der Hakennase, seitlich angestrahlt von der Flamme über ihrer Hand, kam naher.
»Jetzt gehörst du uns«, zischelte sie.
Zedd, der geduldig abgewartet hatte, um seine ganze Entschlossenheit zusammenzunehmen, stellte unvermittelt den erforderlichen, bis auf den Grund seiner Seele reichenden mentalen Kontakt zu seiner Gabe her um gleichzeitig Lichtblitze herbeizurufen, die Frau mit einem konzentrierten Luftkeil zu spalten und jeden Stein und Kiesel in der Umgebung anzusaugen, um sie unter einer Geröllawine zu begraben. Die von ihm entfesselte Energie würde, davon war er fest überzeugt, die Nacht zum Tage machen – doch nichts geschah.
Nicht gewillt, Zeit auf die vermutlich unergiebige Fehleranalyse zu vergeuden, sah er sich genötigt, von seinen gefühlsmäßigen Vorlieben Abstand zu nehmen und ein Zaubererfeuer zu entfachen, das sie verzehren sollte.
Wiederum geschah nichts.
Und nicht nur das – bereits der Versuch als solcher glich einem winzigen Stein, der endlos in einen tiefen, dunklen Brunnen fällt. Die erschreckende, unergründliche Leere, die er in seinem Innern vorfand, ließ seine Erwartung auf ein Nichts zusammenschrumpfen.
Vermutlich hätte er nicht einmal dann ein dem ihren ebenbürtiges Flammchen zu entzünden vermocht, wenn sein Leben davon abgehangen hätte. Aus irgendeinem Grund war ihm die Möglichkeit verwehrt, seine Talente zu etwas anderem als einer getrübten Wahrnehmung seiner Umgebung einzusetzen. Möglicherweise eine Nachwirkung der übelriechenden Substanz, die man ihm ins Gesicht gepreßt hatte, um ihn zu betäuben.
Zedd, außerstande, von seinen Kräften Gebrauch zu machen, tat das Einzige, was ihm jetzt noch blieb: Er spie ihr ins Gesicht.
Ihre Reaktion erfolgte gedankenschnell: Sie schlug ihm mit dem Handrücken so hart ins Gesicht, daß es ihn den Männern, die ihn hielten, aus den Armen riß. Außerstande, sich mit den Händen abzustützen, schlug er unerwartet hart auf den Boden. Dort blieb er, während die Nachwirkung des Schlages, den er hatte einstecken müssen, noch in den Ohren klang, eine Weile liegen und wartete, daß jemand sich über ihn beugte und ihm den Rest gab.
Statt dessen wurde er erneut auf die Füße gerissen. Einer der Männer griff ihm ins Haar und bog seinen Kopf in den Nacken, so daß er gezwungen war, der Frau direkt ins Gesicht zu sehen. Die finstere Miene, die ihm entgegenblickte, sah aus, als hätte sie sich dauerhaft in ihr Gesicht gegraben. Sie spuckte ihm ins Gesicht.
Zedd lächelte. »Hm, offenbar haben wir es mit einem verzogenen Balg zu tun, das gerne ›Wie du mir, so ich dir‹ spielt.«
Der unvermittelt wuchtige Hieb, der sich bis tief in seine Eingeweide zu bohren schien, entlockte Zedd ein gequältes Stöhnen. Hätten die Männer ihn nicht unter den Armen gestützt, er wäre eingeknickt und in sich zusammengesunken. Er war nicht ganz sicher, wie sie es angestellt hatte – vermutlich mit einer Faust aus Luft, abgefeuert mit der ganzen Kraft ihrer Gabe. Statt sie zu einer scharfen Kante zu verdichten, hatte sie der geballten Luft keine ausdrückliche Form verliehen, sonst hätte ihn der Schlag womöglich glatt entzweigerissen. Auch so bestand nicht der geringste Zweifel, daß seine Magengegend zu einem einzigen blauen Fleck erblühen würde.
Es dauerte eine lange, von quälender Verzweiflung erfüllte Zeit, bis er endlich wieder Luft holen konnte.
Die laut seiner Gabe nicht vorhandenen Männer richteten ihn gewaltsam wieder auf.
»Zu meiner Enttäuschung muß ich feststellen, daß ich mich in der Gewalt einer Hexenmeisterin von offenbar recht beschränktem Einfallsreichtum befinde«, spottete Zedd.
Seine Bemerkung rief ein Lächeln auf ihr boshaftes Gesicht. »Seid unbesorgt, Zauberer Zorander, Seine Exzellenz kann es gar nicht erwarten, Euren klapperdürren Körper in die Finger zu bekommen. Er beherrscht das Spiel ›Wie du mir, so ich dir‹ so meisterhaft, daß, da bin ich vollkommen sicher, sogar Ihr es als originell empfinden werdet. Nach meiner Erfahrung ist Seine Exzellenz in punkto Grausamkeit von beispiellosem Erfindungsreichtum. Er wird Euch gewiß nicht enttäuschen.«
»Was stehen wir dann hier noch rum? Ich kann es gar nicht erwarten, endlich ein paar Worte mit Seiner Exzellenz zu wechseln.«
Während die Schergen seinen Kopf für sie in den Nacken rissen, fuhr sie ihm mit einem Fingernagel seitlich über Gesicht und Hals, nicht so fest, um eine blutende Wunde zu hinterlassen, aber doch genug, um ihre nur mit Mühe unterdrückte Grausamkeit anzudeuten. Sie beugte sich erneut über ihn und zog dabei eine Braue hoch, daß es Zedd eiskalt überlief.
»Ich könnte mir denken, daß Ihr hochfliegende Pläne habt, was Ihr bei einer solchen Audienz zu tun oder sagen gedenkt.« Sie streckte die Hand vor und hakte ihren Finger hinter einen um seinen Hals befestigten Gegenstand. Als sie einmal kurz fest daran riß, merkte er, daß er eine Art Halsring trug. Nach der Art, wie er in die Haut an seinem Nacken schnitt, mußte er aus Metall sein.
»Ratet mal, was das ist«, forderte sie ihn auf. »Ratet einfach.«
Zedd seufzte. »Eure Art hat etwas wahrlich Ermüdendes. Aber vermutlich habt Ihr das bereits häufiger gehört.«
Erpicht darauf, ihm die schlechte Neuigkeiten mitzuteilen, überging sie seinen Spott. Ihr boshaftes Lächeln wurde breiter. »Es ist ein Rada’Han.«
Das Gefühl der Bestürzung nahm spürbar zu, Zedd vermied es jedoch, sich etwas anmerken zu lassen.
»Tatsächlich.« Er unterbrach sich, um lange und ausgiebig zu gähnen. »Nun, ich hatte auch nicht erwartet, daß eine Frau von Euren beschränkten geistigen Fähigkeiten sich etwas Originelles einfallen läßt.«
Sie rammte ihm ein Knie in den Unterleib. Zedd krümmte sich vor Schmerzen, außerstande, ein Stöhnen zu unterdrücken. Mit einer derart groben und brutalen Reaktion hatte er nicht gerechnet.
Die Schergen gönnten ihm keine Verschnaufpause und richteten ihn gewaltsam wieder auf, was ihm ein gequältes Ächzen entlockte. Er hatte die Zähne zusammengebissen, Tränen liefen ihm aus den Augen, und seine Knie drohten nachzugeben, und doch zwangen ihn die beiden Kerle, aufrecht stehen zu bleiben.
Ihr Lächeln begann ihn zu ermüden. »Seht Ihr, Zauberer Zorander? Originalität ist gar nicht unbedingt erforderlich.«
Zedd sah, was sie meinte, hütete sich aber, es zuzugeben.
In Gedanken bereitete er sich bereits darauf vor, den verfluchten Ring um seinen Hals wieder loszuwerden. Er war schon einmal – von der Prälatin – ›gefangen genommen‹ worden und hatte, einem kleinen Jungen gleich, der noch im Gebrauch der Gabe unterwiesen werden mußte, einen Rada’Han umgelegt bekommen. Die Schwestern des Lichts bedienten sich dieses Verfahrens bei jungen Knaben, um zu verhindern, daß die Gabe ihnen gefährlich werden konnte, ehe sie gelernt hatten, sie zu beherrschen. Auch Richard war, nachdem die Gabe in ihm erwacht war, gefangen genommen und der gleichen Prozedur unterzogen worden.
Der Halsring wurde dazu benutzt, die jungen Zauberer, die ihn trugen, zu kontrollieren und ihnen, wann immer die Schwestern dies für nötig hielten, Schmerzen zuzufügen. Zedd hatte ein gewisses Verständnis dafür, daß die Prälatin damals Richards Hilfe gesucht hatte, schließlich wußten die Schwestern, daß er mit beiden Seiten der Gabe geboren war, außerdem waren sie besorgt wegen der dunklen Mächte, die ihn zu jener Zeit verfolgten. Aber daß sie ihm einen Halsring umgelegt hatte, war unverzeihlich. Zauberer mußten von Zauberern ausgebildet werden, nicht von einer Schar irregeleiteter dummer Gänse wie den Schwestern des Lichts.
Die Prälatin selbst dagegen hatte sich nicht dem Wahn hingegeben, Richard tatsachlich zum Zauberer ausbilden zu können. Sie hatte ihm den Ring umgelegt, um die schwarzen Schafe in ihrer Herde zu entlarven: die Schwestern der Finsternis.
Im Gegensatz zu Richard wußte Zedd jedoch, wie sich diese widerliche Vorrichtung wieder entfernen ließ. Er hatte es sogar bereits einmal getan, damals, als die Prälatin ihn auf diese Weise zur Zusammenarbeit hatte zwingen wollen.
Mit Hilfe eines feinen Energiestrangs unterzog Zedd das Schloß einer gründlichen Untersuchung, nicht so offenkundig, daß die Hexenmeisterin es hatte bemerken können, sondern gerade so behutsam, daß er den Dreh des Banns erkannte, auf den er sich konzentrieren mußte, um das verzauberte Schloß zu knacken.
Wenn der Augenblick gekommen war, sobald er die Füße fest auf den Boden stemmen konnte und sein Schwindelgefühl lange genug nachließ, würde er sich aus der Gewalt des Halsrings befreien. Noch im selben Moment, ehe sie überhaupt begriff, was geschah, würde er sein Zaubererfeuer entfesseln und dieses Weibsstück zu einem Häuflein Asche verbrennen.
Wieder schob sie einen Finger unter den Halsring und zerrte kurz daran.
»Die Sache ist die, mein Bester, ich gehe natürlich davon aus, daß ein berühmter Mann von Euren Fähigkeiten womöglich weiß, wie man eine solche Vorrichtung entfernt.«
»Was Ihr nicht sagt, ich gelte tatsächlich als berühmt?« Zedd ließ sie ein kurzes Grinsen sehen. »Wie überaus erfreulich.«
Ihre völlige Geringschätzung für ihn veranlaßte sie zu einem Lächeln, aus dem blanker Hochmut sprach. Den Finger unter den Halsring geschoben, zog sie ihn ganz dicht vor ihr verzerrtes Gesicht und fuhr fort, ohne auf seine Worte auch nur einzugehen.
»Seine Exzellenz wäre überaus ungehalten, falls es Euch gelingen sollte, Euch von dem Halsring zu befreien, deshalb habe ich Vorkehrungen getroffen, die genau das verhindern werden; ich habe ihn mit Hilfe subtraktiver Magie verschweißt.«
Das war allerdings ein Problem.
Sie nickte zu ihren beiden Schergen hin. Zedd sah kurz nach links und rechts und bemerkte zum ersten Mal, daß sie Tränen in den Augen hatten. Er war aufrichtig schockiert, als er sah, daß sie tatsachlich weinten.
Tränen oder nicht, sie taten, wie ihnen befohlen, und wuchteten ihn, einem Stück Feuerholz gleich, ohne großes Federlesens auf die Ladefläche eines Wagens.
Dort lag bereits jemand.
»Ich bin erfreut, dich wiederzusehen, alter Mann«, schnarrte eine sanfte Stimme.
Adie. Eine Seite ihres Gesichts war geschwollen und blutete; es sah aus, als wäre sie beinahe zu Tode geprügelt worden. Auch ihr hatte man die Handgelenke auf den Rücken gebunden, und über ihre Wangen liefen, wie er jetzt sah, Tränen.
Es brach ihm fast das Herz, sie so zerschunden zu sehen. »Adie, was haben sie dir bloß angetan?«
Sie schmunzelte. »Sie sind längst noch nicht fertig, fürchte ich.«
Im trüben Schein der Laterne sah Zedd, daß man ihr ebenfalls einen dieser abscheulichen Halsringe umgelegt hatte.
»Dein Eintopf war übrigens ausgezeichnet.«
Adie stöhnte. »Ich flehe dich an, alter Mann, erwähne in meiner Gegenwart nichts Essbares.«
Zedd drehte vorsichtig den Kopf bis er im Dunkel seitlich neben dem Wagen weitere Männer erblickte. Sie hatten hinter ihm gestanden, weswegen er sie zuvor nicht bemerkt hatte. Seine Gabe hatte ihm ihre Anwesenheit nicht angezeigt.
»Ich denke, wir stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten«, meinte er leise an niemand Bestimmten gerichtet.
»Ach ja?«, schnarrte Adie. »Und was bringt dich auf die Idee?«
Zedd wußte, sie wollte ihn nur zum Schmunzeln bringen, doch er konnte sich nicht einmal ansatzweise dazu überwinden.
»Tut mir leid, Zedd.«
Er nickte, so gut es mit auf dem Rücken gefesselten Handgelenken auf der Seite liegend eben ging. »Ich hielt mich für so gerissen, als ich alle Arten von Fallen aufstellte, die mir gerade in den Sinn kamen. Leider haben sie bei diesen Leuten, die immun sind gegen Magie, nicht funktioniert.«
»Das konntest du nicht wissen«, versuchte Adie ihn zu trösten.
Seine Stimmung schlug in bitterliche Reue um. »Aber nach unserer Begegnung mit diesem Menschen im Palast der Konfessoren im Frühjahr hätte ich es bedenken müssen. Ich hatte die Gefahr erkennen müssen.« Erstarrte in die Dunkelheit hinaus. »Ich habe unserer Sache einen Bärendienst erwiesen.«
»Aber woher mögen diese Leute auf einmal alle kommen?« Sie schien kurz davor, in Panik auszubrechen. »Mein Leben lang bin ich keinem einzigen dieser Menschen begegnet, und jetzt steht da eine ganze Bande von ihnen.«
Zedd ertrug es nicht. Adie so bestürzt zu sehen. Nur anhand der verräterischen Geräusche, die sie machten, vermochte sie zu erkennen, daß es mehrere waren, während er die Männer, wenn schon nicht mit seiner Gabe, so doch wenigstens mit den Augen wahrnehmen konnte.
Die Männer standen herum und ließen die Köpfe hängen; offenbar warteten sie auf Befehle. Sie machten nicht den Eindruck, als seien sie über das Geschehen erfreut. Alle schienen jung zu sein, etwa Mitte zwanzig, und ein paar von ihnen hatten Tränen in den Augen. Es war ein befremdlicher Anblick, diese ausgewachsenen Männer weinen zu sehen. Fast bedauerte es Zedd, einen von ihnen getötet zu haben. Aber nur fast.
»Ihr drei da«, fuhr die Frau unwirsch eine Gruppe der in den Schatten wartenden Männer an, während sie einem von ihnen eine weitere Laterne abnahm und die Flamme von ihrer Hand auf diese überspringen ließ, »rein mit Euch, und fangt mit der Suche an.«
Adie, das Gesicht ernst, wandte sich mit ihren vollkommen weißen Augen an Zedd. »Eine Schwester der Finsternis«, raunte sie ihm zu.
Und jetzt war die Burg der Zauberer in ihrem Besitz.