26

Irgendwo in einem fernen Raum, wo sein Körper seiner harrte, vernahm Nicholas ein beharrliches Geräusch, er war jedoch so vertieft in seine gegenwärtige Beschäftigung, daß er es geflissentlich überhörte. Es dämmerte bereits, und obwohl ihm Licht gewöhnlich das Sehen erleichterte, vermochte Dunkelheit Augen, wie er sie benutzte, nur unwesentlich zu beeinträchtigen.

Wieder vernahm er das Geräusch. Empört über die anhaltende Störung, die fortwährend seine Aufmerksamkeit forderte, kehrte er in seinen Körper zurück.

Jemand hämmerte mit der Faust gegen seine Tür.

Nicholas erhob sich vom Fußboden, auf dem sein Körper mit untergeschlagenen Beinen kauerte, indem er diesen schwerfällig mit nach oben zog. Wie immer war es zuerst verwirrend, sich wieder in seinem Körper zu befinden und diese beschränkende, einengende Last um sich herum zu spüren. Es war ihm unangenehm, diese Hülle umherbewegen zu müssen, sich der eigenen Muskeln zu bedienen, zu atmen, mit den eigenen Sinnen zu sehen und zu hören.

Es klopfte erneut. Höchst verärgert ging Nicholas nicht etwa an die Tür, sondern trat ans Fenster und schlug die Fensterläden zu. Er ließ eine Hand vorschnellen, entzündete eine Fackel und begab sich schließlich auf noch leicht unsicheren Beinen zur Tür. Die einander überlappenden Stoffstreifen seines Gewandes umflatterten ihn wie ein schwerer Umhang aus schwarzen Federn.

»Was gibt es denn?« Er stieß die schwere Tür auf und spähte hinaus.

Im Flur, unmittelbar vor der Tür stand Najari, das Gewicht auf einem Bein, die Daumen hinter seinen Gürtel gehakt. Seine muskulösen Schultern berührten auf beiden Seiten fast das Mauerwerk. Erst jetzt bemerkte Nicholas das dicht gedrängte Grüppchen hinter ihm. Najaris schiefe Nase, seit einer jener zahllosen Streitereien, in die er immer wieder aufgrund seines aufbrausenden Temperaments geriet, zur linken Seite gekrümmt, warf einen seltsam geformten Schatten über seine Wange. Wer das zweifelhafte Vergnügen hatte, sich mit Najari anzulegen, trug gewöhnlich einen erheblich größeren Schaden davon als nur eine gebrochene Nase.

Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Ihr habt nach Gästen verlangt, Nicholas.«

Nicholas fuhr sich mit seinen schwarz lackierten Fingernägeln durchs Haar und genoß das seidig-glatte Gefühl des Haaröls auf der Innenfläche seiner Hand. Er rollte die Schultern, um seine Gereiztheit abzulegen.

Weil er derart in sein Tun vertieft gewesen war war ihm völlig entfallen, daß er Najari gebeten hatte, ihm einige Körper zu bringen.

»Ausgezeichnet, Najari. Schafft sie nach drinnen, damit ich sie mir ansehen kann.«

Nicholas beobachtete, wie der Kommandant das kleine Grüppchen in den flackernden Schein der Fackel führte. Soldaten im Hintergrund drängten die Nachzügler durch die Tür und in den großen Raum. Kaum eingetreten, wandten sie die Köpfe und betrachteten die eigentümlich karge Umgebung, die holzgetäfelten Wände, die Fackeln in ihren Halterungen, die nackten Bodendielen und den robusten Tisch, das einzige Mobiliar im Raum. Der durchdringende Blutgeruch ließ sie die Nase rümpfen.

Sorgsam vermerkte Nicholas, wie sie die angespitzten Pfähle erspähten, die in einer Reihe parallel zur rechten Seitenwand standen, Pfähle, so dick wie Najaris Handgelenke.

Nicholas, stets auf der Suche nach den verräterischen Zeichen der Angst, unterzog die Leute einer eingehenden Betrachtung, während sie neben der Tür längs der Wand Aufstellung nahmen. Ängstliche Blicke zuckten unstet, gleichzeitig aber begierig, alles in sich aufzunehmen, umher; schließlich wollten sie ihren Freunden berichten können, was sie hier drinnen gesehen hatten. Nicholas war sich bewußt, daß er ein Objekt allgemeiner Neugierde war. Denn er war ein höchst seltenes Geschöpf.

Ein Schleifer.

Niemand wußte, was diese Bezeichnung bedeutete. Einige würden es an diesem Tag erfahren.

Mit gleitenden Bewegungen schritt Nicholas die unordentliche Reihe des Pöbels ab. Ein recht neugieriges Völkchen, diese merkwürdigen, von der Gabe völlig unbefleckten Leute, neugierig wie Spottdrosseln, wenn auch längst nicht so forsch. Da sie nicht über den leisesten Hauch der Gabe verfügten, war Nicholas gezwungen, sie einer Sonderbehandlung zu unterziehen, damit sie überhaupt für ihn von Nutzen waren. Das war lästig, hatte allerdings auch seinen Reiz.

Kaum hatte er sie passiert, verrenkten sich einige fast den Hals, um diese seltene Erscheinung besser sehen zu können. Wieder fuhr er sich mit den Fingernägeln durch das Haar, nur um das seidige Gefühl des Öls auf der Innenfläche seiner Hand zu spüren. Als er sich im Vorübergehen etwas vorbeugte und zum ersten Mal einzelne Individuen in der Gruppe gewahrte, schloß eine unmittelbar vor ihm stehende Frau die Augen und drehte den Kopf zur Seite. Nicholas hob die Hand, schnippte mit den Fingern und sah kurz zu Najari, um sich zu vergewissern, daß dieser mitbekommen hatte, wen er auserwählt hatte.

Najari hob den Blick kurz von der Frau zu Nicholas; er hatte seine Wahl vermerkt.

Ein Mann drückte sich steif mit weit aufgerissenen Augen an die Wand hinter seinem Rücken. Nicholas deutete mit einem Fingerschnippen auf ihn. Ein anderer verzog merkwürdig die Lippen. Nicholas ließ seinen Blick an ihm hinabwandern und sah, daß der Mann sich in seiner panischen Angst naß gemacht hatte. Sein Finger schnellte erneut vor. Damit waren drei erwählt. Langsam ging er weiter.

Einer Frau in der vordersten Reihe, unmittelbar vor ihm, drang ein kaum hörbares Wimmern aus der Kehle. Er sah sie lächelnd an. Sie hob zitternd den Kopf, unfähig, ihre starren, weit aufgerissenen Augen von ihm, von seinen rot geränderten Augen zu lösen, außerstande, das leise, ihrer Kehle entweichende Wimmern zu unterdrücken. Noch nie hatte sie jemanden gesehen, der gleichzeitig so menschlich ... und doch so unmenschlich war. Nicholas tippte ihr mit einem seiner langen Fingernägel auf die Schulter. Er würde sie für ihre unausgesprochene Abscheu mit einem Dienst im Namen eines höheren Zwecks belohnen.

Dem seinen.

Jagang hatte etwas ... ganz Besonderes für sich erschaffen wollen, ein Spielzeug aus Fleisch und Blut. Ein magisches Schmuckstück, von einem Zauberer erschaffen. Ein Schoßhündchen, wenn auch mit Biß.

Seine Exzellenz, der Kaiser, hatte bekommen, was er wollte – mehr sogar viel mehr.

Nur zu gerne hätte Nicholas gesehen, wie es dem Kaiser gefiel, daß er eine Marionette ohne Fäden bekommen hatte, eine eigens für ihn erschaffene Kreatur, die über einen eigenen Willen verfügte und Talente zuhauf, um ihm all seine Wünsche zu erfüllen.

Ein Mann im Hintergrund, unmittelbar vor der Wand, machte einen leicht desinteressierten Eindruck, so als wartete er ungeduldig auf das Ende der Vorführung, um sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten widmen zu können. Obschon sich von keinem der Anwesenden behaupten ließe, er betrachte sich als wichtiges Individuum, das auf gewichtige Aspekte des Lebens in seinem Reich entscheidenden Einfluß hatte, ließ manch einer bisweilen eine gewisse, wenn auch eher launische Neigung zum Eigensinn erkennen. Nicholas’ Finger schnellte zum fünften Mal vor. Der Erwählte würde schon bald allen Grund haben, sich in hohem Maße für das Procedere zu interessieren und dabei rasch feststellen, daß er mitnichten besser war als andere. Er würde nirgendwo mehr hingehen – jedenfalls nicht körperlich.

Alles starrte schweigend, während Nicholas einsam über seinen Scherz in sich hineinlachte.

Seine Amüsiertheit endete abrupt. Mit einem einzigen kurzen Nicken wies Nicholas zur Tür. Die Soldaten traten augenblicklich in Aktion.

»Also los«, knurrte Najari, »hier entlang. Bewegt Euch, macht schon. Raus, los, raus!«

Wie befohlen, entfernte sich das Grüppchen schlurfenden Schritts zur Tür hinaus. Einige warfen sorgenvolle Blicke über die Schulter auf die fünf Auserwählten, die Najari von der Gruppe abgesondert hatte und die soeben, als sie sich weigern wollten, von den übrigen getrennt zu werden, derb zurückgestoßen wurden. Ein steifer Finger vor die Brust genügte, um sie ebenso wirkungsvoll zurückzudrängen wie mit einem Knüppel oder Schwert.

»Und macht ja keinen Ärger«, drohte Najari, »sonst werden es die anderen büßen müssen.«

Eng aneinander gedrängt, schwankten die fünf Zurückgebliebenen nervös von einer Seite auf die andere, wie eine Wachtelschar vor einem Apportierhund.

Nachdem die Soldaten die übrigen aus dem Raum gedrängt hatten, schloß Najari die Tür und postierte sich davor, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

Nicholas kehrte zu den Fenstern zurück und stieß die Läden in der Westmauer auf. Die Sonne war bereits untergegangen und hatte einen roten Streifen am Himmel hinterlassen.

Schon bald würden sie sich in die Lüfte erheben und auf Jagd gehen.

Und er, Nicholas, mitten unter ihnen.

Ohne sich umzudrehen, streckte er einen Arm nach hinten aus und löschte die Fackel. An der Schwelle zwischen Tag und Nacht, im vergänglichen Zwielicht, das so flüchtig war, so kurz, lenkte deren flackernder Schein nur ab. In Kürze würde er sie wieder benötigen, im Augenblick jedoch zog er es vor, nur den Himmel zu sehen, diesen prachtvollen, grenzenlosen Himmel.

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