Worauf wartete der Kerl nur? Sein Herr hatte ihm doch eine klare Anordnung erteilt; wieso tat er nicht was man ihm befohlen hatte?
Die junge Frau, Jennsen, wachte auf und rieb sich die Augen, dann blickte sie zum Himmel und würdigte die Sterne einer ausgiebigen Betrachtung. Der Zeitpunkt war gekommen – sie wußte das. Entschlossen schlug sie die Decke zurück.
Nicholas folgte ihr dicht auf den Fersen, als sie an der heruntergebrannten Glut des noch glimmenden Feuers vorüberlief und durch den kleinen Hain aus jungen Bäumen zu dem Hünen eilte, der an einem Baumstumpf lehnte.
»Tom, ist es nicht Zeit, Richard zu wecken?«
Irgendwo in einem fernen Raum im Innern des befestigten Lagers, wo sein Körper wartete, vernahm Nicholas ein beharrliches Geräusch, doch da ihn seine derzeitige Beschäftigung vollauf gefangen nahm, achtete er nicht weiter darauf.
Vermutlich war es Najari; der Bursche konnte es gar nicht erwarten, sich an die Mutter Konfessor heranzumachen, endlich Gelegenheit zu erhalten, sich an ihren weiblichen Reizen zu ergötzen. Nicholas hatte ihm versichert, er werde seine Gelegenheit bekommen, müsse sich aber bis zu seiner Rückkehr gedulden. Er wollte nicht, daß Najari sich an ihrem Körper zu schaffen machte, während er mit ihr unterwegs war. Bisweilen unterschätzte dieser Najari seine Körperkräfte. Die Mutter Konfessor war ein wertvolles Gut, das er auf keinen Fall beschädigt wissen wollte.
Najari hatte sich als treuer Untergebener erwiesen und zweifellos eine kleine Belohnung verdient – allerdings erst nachher. Gewiß würde er es nicht wagen, seine Befehle zu mißachten – und falls doch, würde er es bitterlich bereuen.
Vielleicht war es auch nur...
Moment mal, was war das? Er sah genauer hin. Der Hüne hatte sich erhoben und legte der jungen Frau in einer beschwichtigenden Geste die Hand auf die Schulter. Wie überaus ergreifend.
»Ja, ich denke, jetzt dürfte es ungefähr so weit sein. Gehen wir Lord Rahl wecken.«
Wieder das Geräusch. Verstohlen, eindringlich und doch leise.
Sehr seltsam. Es würde trotzdem warten müssen.
Es ging quer durch den Wald. Los, so beeilt euch doch. Er sah genau hin. Konnten die nicht ein bißchen schneller machen? War ihnen die Bedeutung des Augenblicks nicht bewußt? So macht schon, verdammt.
»Betty«, brummte diese Jennsen soeben mißmutig, »hör auf, mir ständig zwischen die Beine zu laufen.«
Wieder vernahm er das verhaltene Geräusch irgendwo fernab bei seinem Körper. Und dann ein weiteres, noch viel eindringlicheres Geräusch. Ein Geräusch, bei dem es ihn bis auf den Grund seiner Seele eiskalt überlief.
Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er ein tödlicheres Geräusch vernommen. Als das Schwert der Wahrheit aus seiner Scheide gerissen wurde, füllte sein unverwechselbares Klirren den matt beleuchteten Raum. Und mit dem Schwert erwachte eine uralte Magie zum Leben – ungehindert, ungezügelt, entfesselt.
Die Kraft des Schwertes erfüllte Richard augenblicklich mit grenzenlosem Zorn, einem Zorn, der ihm allein gehorchte. Die Energie dieser Kraft strömte in jede Faser seines Seins. So lange war es her, daß er sie gefühlt, sie in ihrem ganzen Ausmaß gespürt hatte, daß ihn das erhabene, an Verzückung grenzende Gefühl, eine so einzigartige Waffe in Händen zu halten, einen winzigen Augenblick innehalten ließ.
Sein gerechter Zorn hatte längst alle Fesseln gesprengt. Gebündelt mit dem unverfälschten Grimm des Schwertes der Wahrheit durchtosten ihn die beiden Empfindungen gleich einem ungehemmt wütenden Zwillingssturm.
Es erfüllte ihn mit Stolz, daß es so war und daß er, ausschließlich und alleine er, über sie gebot.
Als das Schwert zu seinem fürchterlichen Schwung ansetzte, in dessen Verlauf die beiden Gewitterstürme sich in einem gnadenlosen Blitz entladen würden, unterwarf der Sucher der Wahrheit die beiden Stürme völlig seinem Willen.
Volle zwei Stunden vor dem Morgengrauen zerteilte die Schwertspitze sirrend die nächtliche Luft. Zögernd und leicht verunsichert, beobachtete Nicholas, wie dieser Hüne namens Tom und die junge Frau namens Jennsen durch den Wald eilten, um ihren im Sterben liegenden Lord Rahl zu wecken.
In dem Raum irgendwo fernab innerhalb des befestigten Lagers, dort, wo sein Körper wartete, vernahm Nicholas einen Schrei.
Es war nicht etwa ein angsterfüllter Schrei, sondern das enthemmte Gebrüll ungezügelter Wut. Er jagte ihm ein Schaudern durch die Seele.
Von plötzlicher Bestürzung gepackt, als ihm mit einem Schlag bewußt wurde, daß er ihn nicht länger ignorieren konnte, stürzte Nicholas zurück in seinen am Boden hockenden, wartenden Körper.
Noch leicht schwankend von der abrupten Rückkehr, schlug Nicholas blinzelnd die Augen auf.
Vor ihm stand Lord Rahl persönlich, die Füße leicht gespreizt, das Heft des Schwertes mit beiden Händen fest umklammert. Er bot ein Bild schierer, zu beängstigender Entschlossenheit gebündelter Körperkraft.
Nicholas riß die Augen auf, als er die blinkende Klinge in weitem Schwung durch die stille Luft heranfliegen sah.
Lord Rahl, gefangen inmitten eines Schreis von verblüffender Kraft und Wut hatte sich mit jeder Faser seines Körpers ganz und gar dem Schwingen seines Schwertes verschrieben.
In diesem Moment durchzuckte Nicholas eine überraschende und völlig unerwartete Erkenntnis: Er wollte nicht sterben, er wollte weiterleben, um jeden Preis. So verhaßt ihm das Leben sein mochte, plötzlich wurde ihm bewußt, wie sehr er daran hing.
Er mußte handeln.
Er nahm all seine Kraft zusammen, bot seinen ganzen Willen auf.
Er mußte dieser rächenden Seele Einhalt gebieten.
Er langte mit seiner Kraft zu und versuchte, den Geist seines Gegenübers zu packen – und verspürte den schauderhaften Schock eines wuchtigen Schlags seitlich gegen seinen Hals. Richard schrie noch immer, als sein Schwert, getrieben von aller Kraft und Schnelligkeit, die aufzubieten er imstande war, herumschwang und Nicholas’ linke Schulter knapp verfehlte.
Bis in die kleinste Kleinigkeit verfolgte Richard, wie die Klinge Fleisch und Knochen durchtrennte, in einem Chaos aus Muskeln, Sehnen, Arterien und Luftröhre das Innerste nach Außen kehrte und dabei präzise jener Bahn folgte, die der Sucher ihr vorherbestimmt hatte. Richard hatte all seine Kraft in den rasanten Schwung seines Schwertes gelegt; jetzt beobachtete er, wie die kraftvolle Bewegung ihr Ziel erreichte, wie die Klinge am Hals von Nicholas dem Schleifer wieder heraustrat und sein Kopf den Mund im ersten Augenblick des nicht vollends begriffenen Schreckens noch geöffnet, die schwarz glänzenden Augen immer noch bemüht, das soeben Gesehene in seiner Gesamtheit zu erfassen, in die Höhe stieg, sich unendlich langsam zu drehen begann, während das Schwert seinen tödlichen Bogen vollendete und geschwungene Fäden seines Blutes eine lange, nasse Spur auf die Wand in seinem Rücken zeichneten.
Richards Schrei verstummte, als der Schwung des Schwertes seinen Endpunkt erreichte. Schlagartig kehrte die Welt rings um ihn her zurück.
Der Kopf landete mit einem laut vernehmlichen, splitternden Krachen auf dem Boden.
Es war vorbei.
Richard ließ seinen Zorn verebben; er mußte ihn augenblicklich wieder unter seine Kontrolle bringen, denn er hatte noch etwas weitaus Wichtigeres zu erledigen.
Noch während er in einer einzigen fließenden Bewegung die blutbesudelte Klinge in ihre Scheide zurückschob, wandte er sich bereits dem zweiten Körper zu, der zu seiner Rechten an der Wand lehnte.
Fast hätte ihn ihr Anblick überwältigt. Sie dort sitzen zu sehen, lebend, atmend und äußerlich unversehrt, erfüllte ihn mit einem hemmungslosen Glücksgefühl. Seine schlimmsten Befürchtungen, Befürchtungen, die er sich nicht einmal bewußt eingestehen mochte, waren im nu verflogen.
Doch dann bemerkte er daß mit ihr keineswegs alles in Ordnung war. Wie hätte sie einen solchen Übergriff auch unbeschadet überstehen können?
Richard fiel auf die Knie und nahm sie in die Arme. Sie fühlte sich so leicht an, so völlig kraftlos. Ihr Gesicht war aschfahl und mit Schweißperlen bedeckt, ihre Lider halb geschlossen, die Augen ganz nach oben verdreht.
Richard versenkte sich in sein Innerstes und suchte dort die Kraft, um jenen Menschen, den er mehr liebte als das Leben selbst, ins Leben zurückzuholen. Er öffnete ihr seine Seele. Alles, was er wollte, alles, wonach er sich sehnte, als er sie jetzt in den Armen hielt, war, daß sie weiterleben, daß sie unversehrt sein möge.
Instinktiv, ohne recht zu begreifen, was er tat, ließ er seine Kraft von einem Ort auf dem Grund seiner Seele aufsteigen und überließ sich völlig diesem vorwärtsschießenden Strom. Er zog sie fest an seine Brust und ließ seine Liebe für sie, sein Verlangen nach ihr, durch die Verbindung strömen.
»Komm zurück, wohin du gehörst«, sprach er mit leiser Stimme auf sie ein.
In der Absicht, ihr den Weg zu weisen, ließ er das Zentrum seiner Kraft durch ihren Körper wandern. Es war, als tastete er sich mittels des Lichts seines tief im Innern verborgenen Talents durch völliges Dunkel. Die genaue Wirkungsweise hätte er nicht beschreiben können, trotzdem gelang es ihm, sein Wollen, sein Streben, bewußt zu bündeln.
»Komm zu mir zurück, Kahlan. Ich bin hier.«
Kahlan keuchte. Trotz ihres noch immer schlaffen Körpers spürte er in seinen Armen ihre frisch erwachte Lebenskraft. Wieder schnappte sie nach Atem, so als wäre sie um ein Haar ertrunken und gierte jetzt nach Luft.
Endlich spürte er eine Bewegung in seinen Armen; ihre Glieder bewegten sich tastend, tappend. Blinzelnd schlug sie die Augen auf, schaute hoch und ließ sich erstaunt wieder in seine Arme zurücksinken.
»Richard ... ich konnte dich hören. Ich war so allein. Bei den Gütigen Seelen! Ich wußte nicht mehr ein noch aus ... dann hörte ich plötzlich Nicholas’ Schrei. Ich fühlte mich so verloren und allein. Ich wußte nicht, wie ich zurückkehren sollte. Dann, plötzlich, habe ich dich gespürt.«
Sie klammerte sich so fest an ihn, als wollte sie ihn nie wieder hergeben.
»Du hast mir den Weg gewiesen und mich aus der Dunkelheit zurückgeholt.«
Richard betrachtete sie lächelnd. »Ich bin ein Waldführer, schon vergessen?«
Sie sah ihn verwundert an. »Wie hast du das nur gemacht?« Ihre wunderschönen grünen Augen weiteten sich hoffnungsvoll. »Richard, deine Gabe ...«
»Das Problem mit meiner Gabe habe ich gelöst. Kaja-Rang höchstselbst hat mir die Lösung verraten. Eigentlich kannte ich sie schon die ganze Zeit, nur war ich mir dessen nicht bewußt. Mit meiner Gabe steht alles wieder zum Besten, und auch die Magie des Schwertes gehorcht mir wieder. Ich war so mit Blindheit geschlagen, daß ich gar nicht weiß, ob ich dir das alles überhaupt erzählen will.«
Richards Atem stockte; unfähig, den Reiz länger zu unterdrücken, bekam er einen Hustenanfall. Nicht einmal sein schmerzverzerrtes Gesicht konnte er verbergen.
Erschrocken faßte Kahlan ihn bei den Armen. »Das Gegenmittel – was ist mit dem Gegenmittel passiert! Ich hatte Owen doch gebeten, es dir zu bringen. Hast du es etwa nicht bekommen?«
Richard, gepackt von einem neuerlichen Hustenanfall, schüttelte den Kopf; der Schmerz schien ihn innerlich zu zerreißen. Endlich kam er wieder zu Atem. »Nun, das ist zugegebenermaßen ein Problem. In dem Fläschchen befand sich nicht das Gegenmittel, sondern nur Wasser, mit ein wenig Zimt versetzt.«
Kahlans Gesicht wurde leichenblaß. »Aber ...« Ihr Blick ging zu Nicholas’ Körper, zu seinem Kopf der am Ende einer blutigen, quer über den Fußboden reichenden Spur auf der Seite lag.
»Wie sollen wir jetzt, da Nicholas tot ist, an das Gegenmittel kommen. Richard?«
»Es existiert überhaupt kein Gegenmittel. Nicholas wollte meinen Tod, mit allen Mitteln. Vermutlich hat er es schon vor langer Zeit vernichtet. Und um dich in seine Gewalt zu bekommen, hat er dir dann eine Fälschung ausgehändigt.«
Die Freude auf ihrem Gesicht wich blankem Entsetzen.
»Aber ohne das Gegenmittel ...«