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Drei Tage hatte es gedauert, doch nun war Richard endlich von den Nachwirkungen des Gifts genesen. Seine Gabe hatte nicht nur Kahlan, sondern auch ihn im letzten Augenblick gerettet.

Richard blickte das weite Tal jenseits der Stadt hinauf. Zahlreiche Ortsbewohner waren auf den Beinen, um ihre Felder zu bestellen oder ihre Tiere zu versorgen; sie waren auf dem besten Weg, zu ihrem alten Leben zurückzukehren. Er konnte es kaum erwarten, diesen Ort endlich hinter sich zu lassen und es ihnen gleichzutun. Der Aufenthalt hier hatte sie von wichtigen Dingen abgehalten, von Menschen fern gehalten, die dringend ihre Hilfe benötigten.

Doch vermutlich war der Aufenthalt hier nicht weniger wichtig gewesen. Schwer zu sagen, was dies alles ausgelöst hatte und was die Zukunft diesen Leuten bescheren würde. Sicher war nur eins: Nichts würde mehr so sein wie früher.

Er sah Kahlan, begleitet von Cara, zum Tor herauskommen. Betty, sichtlich ungeduldig zu sehen, wohin die beiden gingen, sprang ausgelassen neben ihnen her. Offenbar hatte Jennsen sie laufen lassen, damit sie sich ein wenig austoben konnte.

»Und, was gedenkt sie jetzt zu tun?«, fragte er Kahlan, als sie zu ihm kam und ihren Rucksack neben seinem auf den Boden stellte.

»Ich weiß es nicht.« Sie hielt sich, als Schutz gegen das grelle Sonnenlicht, die Hand vor die Stirn. »Ich denke, das wird sie dir zuerst selber sagen wollen.«

Cara stellte ihren Rucksack neben Kahlans ab. »Ich glaube, sie ist hinund hergerissen und weiß nicht, was sie machen soll.«

»Wie fühlst du dich?«, erkundigte sich Kahlan, während sie ihm mit den Fingerspitzen den Rücken unterhalb der Schulter massierte. Ihre sanfte Berührung hatte etwas überaus Beruhigendes.

Lächelnd sah Richard zu ihr hoch. »Ich kann es nur immer wiederholen, es geht mir ausgezeichnet.«

Er riß ein Stück getrocknetes Wildbret ab und schaute kauend zu, wie Jennsen, Tom, Owen, Marilee, Anson sowie eine kleine Gruppe ihrer ehemaligen Kampfgefährten zum Tor heraustraten und quer durch das wogende Feld aus hüfthohen, grünen Gräsern in ihre Richtung kamen.

»Ich habe Hunger«, sagte Kahlan. »Kriege ich ein Stück ab?«

»Aber ja.« Richard nahm zwei Streifen Fleisch aus seinem Rucksack, stand auf und reichte Kahlan und Cara jeweils einen davon.

»Lord Rahl«. begrüßte ihn Anson augenzwinkernd, als die Gruppe zu den dreien im Schatten der Eichen stieß, »wir kommen, um uns zu verabschieden und Euch Geleit zu geben. Hättet Ihr etwas dagegen, wenn wir Euch bis zum Paß hinauf begleiten?«

Richard schluckte; er war gerührt. »Das würde uns sehr freuen.«

»Lord Rahl.« Owen runzelte mißbilligend die Stirn. »Wieso eßt Ihr schon wieder Fleisch? Ihr habt Eure Gabe doch eben erst wieder ins Gleichgewicht gebracht. Bringt Ihr damit nicht wieder alles durcheinander?«

Richard schmunzelte. »Nein. Mein Problem mit der Gabe war, daß ich von einer völlig falschen Vorstellung von Ausgewogenheit ausgegangen bin.«

Owen schien verwirrt. »Wie meint Ihr das? Ihr habt doch gesagt, der Verzicht auf Fleisch sei der Ausgleich für das Töten, zu dem Ihr gelegentlich gezwungen seid. Nach der Schlacht bei dem befestigten Lager müßte ein solcher Ausgleich doch erst recht geboten sein?«

Richard holte tief Luft und ließ sie langsam wieder heraus, während er seinen Blick über die Berge schweifen ließ.

»Ich fürchte, ich schulde euch allen eine Erklärung. Ihr alle habt auf mich gehört – nur ich selbst habe es nicht getan.

Die Worte, die auf der Statue zu lesen waren, die selben Worte, die ich euch mit auf den Weg in die Schlacht gegeben habe – erweise dich des Sieges würdig –, waren als Hilfe Kaja-Rangs für mich gedacht. Sie bezogen sich in erster Linie auf mich.«

»Das verstehe ich nicht ganz«, meinte Anson.

»Ich habe euch erklärt, ihr müßtet euer Leben selbst in die Hand nehmen und hättet jedes Recht, es zu verteidigen. Ich dagegen habe mir eingeredet, ich müßte all das Töten, mit dem ich mein Leben und das meiner Lieben verteidigt habe, durch meinen Verzicht auf Fleisch ausgleichen – was im Grunde nichts anderes heißt, als daß das Töten der Menschen, die mir und anderen Unschuldigen nach dem Leben trachten, moralisch falsch war und ich es demzufolge an der Magie, die mir dabei geholfen hat, wieder gutmachen müsse, indem ich ihr, gewissermaßen als Zeichen der Versöhnung, einen Ausgleich anbiete.«

»Aber die Magie deines Schwertes hat doch ebenfalls versagt«, wandte Jennsen ein.

»Stimmt, sie hat versagt – und genau das hätte mich stutzig machen müssen. Denn die Gabe und die Magie des Schwertes sind zwei grundverschiedene Dinge, die jedoch konsequenterweise auf das gleiche unvernünftige Verhalten meinerseits reagiert haben. Die Magie des Schwertes hat versagt, weil mein Verzicht auf Fleisch gewissermaßen das Eingeständnis meiner Unsicherheit war, ob die Anwendung von Gewalt gegen Menschen, die sich zuerst dieses Mittels bedient hatten, gerechtfertigt sei.

Die Magie des Schwertes orientiert sich am Gewissen seines Trägers; sie funktioniert nur gegen Personen, die der Sucher selbst als Feinde wahrnimmt – gegen einen Freund wäre sie also wirkungslos. Das war der entscheidende Punkt, der mir eigentlich hätte klar sein müssen.

Mein Bedürfnis, den Gebrauch des Schwertes auch immer auszugleichen, entsprang also der tief verwurzelten Überzeugung, mein Tun sei in irgendeiner Weise nicht gerechtfertigt. Und deswegen – weil ich mir diesen letzten Rest einer verqueren Vorstellung bewahrt hatte, die man mir mein Leben lang eingeschärft und auch den Bewohnern Bandakars gepredigt hatte – daß es nämlich stets falsch ist, zu töten – hat die Magie des Schwertes allmählich versagt.

Sie konnte, wie meine Gabe auch, erst wieder aufleben, nachdem mir voll und ganz bewußt geworden war, daß die Magie gar keiner Ausgewogenheit für mein Töten bedurfte, da es nicht nur moralisch vollkommen korrekt, sondern die moralisch einzig richtige Handlungsweise war.

Nun war aber bereits das Streben nach einem Ausgleich für eine vollkommen berechtigte Handlungsweise ein unauflösbarer Konflikt, der letztendlich die Kopfschmerzen und das Versagen der magischen Kräfte des Schwertes der Wahrheit verursacht hat. Ich hatte mir also alles selbst zuzuschreiben.«

Richard hatte gegen das erste Gesetz der Magie verstoßen, indem er eine Lüge – daß Töten stets verwerflich sei – geglaubt hatte, weil er befürchtete, sie könnte wahr sein. Ferner hatte er, unter anderem, gegen das zweite Gesetz der Magie verstoßen, am schwersten wog jedoch sein Verstoß gegen Gesetz Nummer sechs: Er hatte, zugunsten blinden Glaubens, alle Vernunft außer Acht gelassen. Das Versagen seiner Gabe und der magischen Kräfte seines Schwertes waren eine unmittelbare Folge seiner Abkehr von logischer Vernunft.

Das achte Gesetz hatte ihn dann glücklicherweise gezwungen, sein Handeln zu hinterfragen, und ihn letztendlich seinen Denkfehler erkennen lassen. Erst danach hatte er die Situation wieder bereinigen können. Zu guter letzt hatte er das achte Gesetz der Magie befolgt.

Richard verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß und sah in die ihm entgegenblickenden Gesichter. »Ich mußte mir klar machen, daß mein Tun moralisch einwandfrei war und keines Ausgleichs bedurfte, da es durch mein vernünftiges Handeln bereits in sich ausgewogen war. Mit anderen Worten: Töten kann zuweilen nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar die einzig mögliche moralische Verhaltensweise sein.

Ich mußte begreifen, was zu begreifen ich von euch allen gefordert hatte. Ich mußte begreifen, daß ich mich des Sieges würdig erweisen mußte.«

Owen ließ seinen Blick über seine Begleiter schweifen, dann kratzte er sich verlegen am Kopf. »Nun ja, alles in allem können wir, glaube ich, recht gut nachvollziehen, wie Ihr zu dieser Fehleinschätzung gelangt seid.«

»Also ich«, seufzte Jennsen, »bin jedenfalls froh, daß ich völlig unbeleckt von der Gabe bin. Zauberer zu sein klingt ungeheuer schwierig.«

Allgemeines Kopfnicken bei den Männern, die ihr ausnahmslos beipflichteten.

Lächelnd meinte Richard: »Viele Fragen des Lebens sind nur schwer zu klären, wie zum Beispiel die, über die du nachgedacht hast. Wie hast du dich entschieden?«

Jennsen verschränkte ihre Hände und sah kurz zu Owen, Anson und all den anderen hinüber, die sie begleitet hatten.

»Nun, dies ist kein Reich der Verdammten und auch kein der Willkür von Tyrannen schutzlos ausgeliefertes Reich mehr. Bandakar ist jetzt Teil des d’Haranischen Reiches; die Menschen hier verfolgen die gleichen Ziele wie wir.

Ich denke, ich würde gern eine Weile hierbleiben und ihnen helfen, sich als Teil der großen, weiten Welt zu begreifen. Ich habe schon damit angefangen; es ist sehr aufregend.«

Richard lächelte seine Schwester an und strich ihr mit der Hand über ihr wundervolles rotes Haar.

»Unter einer Bedingung«, fügte sie hinzu.

Er ließ seine Hand sinken. »Bedingung?«

»Ja. Ich bin eine Rahl, also dachte ich ... daß mir vielleicht ein angemessener Schutz gebührt. Ich könnte immerhin zur Zielscheibe werden, weißt du. Es gibt Menschen, die meinen Tod wollen. Jagang würde nur zu gern ...«

Er zog sie lachend zu sich heran, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Tom, hiermit erteile ich Euch in Eurer Funktion als Beschützer des Hauses Rahl den Auftrag, meine Schwester, Jennsen Rahl, niemals aus den Augen zu lassen. Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, die mir sehr am Herzen liegt.«

Tom machte ein erstauntes Gesicht. »Seid Ihr sicher, Lord Rahl?«

Jennsen versetzte ihm einen Klaps mit dem Handrücken. »Natürlich ist er sicher, sonst würde er es doch nicht sagen.«

»Ihr habt die junge Dame gehört«, sagte Richard. »Ich bin mir ganz sicher.«

Der hünenhafte blonde D’Haraner feixte wie ein kleiner Junge. »Also gut, einverstanden. Hiermit gelobe ich, sie stets zu beschützen, Lord Rahl.«

Jennsen deutete mit einer unbestimmten Geste auf die Männer und die Ortschaft hinter ihnen. »Jetzt, da ich eine Weile unter ihnen gelebt habe und diese Menschen eingesehen haben, daß ich keine Hexe bin, sondern sogar eine Menge mit ihnen gemeinsam habe, habe ich ihnen vorgeschlagen, daß ich vielleicht ein wichtiges Amt übernehmen könnte.« Sie zog das Messer aus ihrem Gürtel und zeigte Richard den kunstvoll in den silbernen Griff gravierten Buchstaben ›R‹. »Und zwar als offizielle Abgesandte des Hauses Rahl – vorausgesetzt, du bist einverstanden.«

Richard grinste. »Eine ausgezeichnete Idee.«

»Ich denke, das wäre großartig, Jennsen.« Kahlan deutete mit dem Kinn nach Osten hin. »Aber warte nicht zu lange mit deiner Rückkehr nach Hawton und mit deinem Besuch bei Ann und Nathan. Die beiden werden dir eine unschätzbare Hilfe dabei sein, zu garantieren, daß die Menschen hier nicht länger Opfer der Imperialen Ordnung sind. Sie werden dir gewiß helfen.«

Verlegen schlang Jennsen die Finger ineinander. »Aber werden sie nicht euch beide begleiten wollen?«

»Ann meint, bestimmen zu müssen, wie Richard sein Leben zu leben hat«, sagte Kahlan. »Dabei waren einige ihrer Anweisungen wahrlich nicht der Weisheit letzter Schluß.« Sie hakte sich bei Richard unter. »Er ist jetzt der Lord Rahl und muß die Dinge so tun, wie er es für richtig hält, nicht sie.«

»Ann und Nathan sind in der Lage, zur Sicherheit der Menschen hier beizutragen. Zudem können sie sich als Lehrer nützlich machen und euch den dringend nötigen Nachhilfeunterricht in Geschichte geben.«

Er hatte seinen Rucksack bereits aufgenommen und seine Arme durch die Gurte geschoben, als Owen seine Hand ergriff. »Ich möchte Euch danken, Lord Rahl, daß Ihr mir gezeigt habt wie lebenswert mein Leben ist.«

Marilee trat auf ihn zu und umarmte ihn. »Danke, daß Ihr Owen gelehrt habt, meiner würdig zu sein.«

Richard und Owen lachten. Als Cara Marilee dann auch noch einen anerkennenden Klaps auf den Rücken gab, stimmten schließlich alle in das fröhliche Gelächter ein.

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