35

»Owen«, fragte Richard, »wie weit ist es von diesem Paß bis zu deinen Gefährten – den Männern, die sich mit dir in den Bergen versteckt haben?«

Die Frage schien ihn völlig zu verwirren. »Aber ich bin zuvor noch nie auf diesem Teil des Passes gewesen, Lord Rahl. Ich sehe diese Statue zum allerersten Mal. Ich bin auch noch nie nur in die Nähe dieses Ortes gelangt: es ist mir völlig unmöglich, Eure Frage zu beantworten.«

»Völlig unmöglich nicht«, gab Richard zurück. »Wenn du auch nur eine vage Vorstellung von deiner Heimat hast, solltest du die markanten Punkte in der unmittelbaren Umgebung wiedererkennen können. Schau durch den Paß zurück zu den Bergen dort und stell fest, ob dir irgend etwas bekannt vorkommt.«

Mit einem skeptischen Ausdruck im Gesicht kletterte Owen die letzten Schritte hinauf bis hinter die Statue und spähte nach Osten hinüber. Eine ganze Weile stand er dort oben im Wind und hielt Ausschau. Schließlich deutete er durch den Paß auf einen fernen Berggipfel.

»Die Stelle dort meine ich wiederzuerkennen.« Die Augen gegen den böigen Wind geschützt, richtete er den Blick weiter unverwandt nach Osten, bis er schließlich erneut den Arm vorstreckte. »Und diese auch! Die Stelle erkenne ich ebenfalls wieder!«

Hastig kehrte er zu Richard zurück. »Ihr hattet Recht, Lord Rahl! Ich kann tatsächlich ein paar Punkte erkennen.« Den Blick wieder in die Ferne gerichtet, murmelte er verwundert bei sich: »Ich kann von hier sogar erkennen, wo mein Zuhause liegt, obwohl ich noch nie hier gewesen bin.«

Kahlan hatte noch nie jemanden über etwas so Selbstverständliches derart in Erstaunen geraten sehen.

»Also«, drängte ihn Richard schließlich, »wie weit ist es nun deiner Meinung nach bis zu deinen Gefährten?«

Owen sah über seine Schulter. »Durch die Senke dort, dann um den von rechts kommenden Hang herum ...« Er wandte sich wieder Richard zu. »Wir haben uns in dem Gebiet, unweit der Stelle, wo sich einst die Barriere unseres Reiches befand, versteckt; wo sich nie jemand hintraut, weil dort der Tod umgeht, ganz in der Nähe des Passes. Meiner Schätzung nach dürfte es von hier aus ein strammer Tagesmarsch bis dorthin sein.« Plötzlich wurde er unsicher. »Aber es ist falsch, darauf zu vertrauen, was meine Augen mir sagen. Vielleicht sehe ich ja nur, was mein Verstand sehen möchte. Es ist vielleicht gar nicht wirklich.«

Richard lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Granitsockel der Statue und ließ, äußerlich unbeeindruckt von Owens plötzlichen Selbstzweifeln, den Blick zu den Säulen der Schöpfung hinüberschweifen. »Sieh dir das an, Richard.«

Er drehte sich um, sah, was sie sah, und ging sofort daran, die Stelle mit hastigen Bewegungen vom restlichen Schnee zu befreien. Die anderen drängten sich um ihn und versuchten zu erkennen, was in den Stein des Statuensockels gemeißelt stand. Unterdessen legte Cara eine Art Zierleiste auf der anderen Seite mit der Hand bis zum Ende frei.

Kahlan konnte es nicht entziffern. Die Inschrift war wiederum in einer Sprache verfaßt, die sie nicht sprach, wohl aber wiederzuerkennen glaubte.

»Hoch-D’Haran?«, fragte Cara.

Richard nickte bestätigend, während er die Worte nachdenklich betrachtete. »Offenbar handelt es sich um einen sehr alten Dialekt«, sagte er halb zu sich selbst, während er die Inschrift prüfte und ihren Sinn zu entschlüsseln versuchte. »Und zwar nicht nur um einen sehr alten, sondern auch einen mir nicht vertrauten Dialekt. Was möglicherweise mit der völligen Abgeschiedenheit dieses Ortes zusammenhängt.«

»Und was steht dort nun?«, wollte Jennsen wissen. »Kannst du es übersetzen?«

»Es ist nicht leicht zu entziffern«, murmelte Richard. Während er sich mit einer Hand das Haar aus der Stirn strich, glitten die Finger der anderen behutsam über die Worte. Schließlich richtete er sich auf und blickte Owen an, der etwas abseits des Sockels stand und zu ihnen herübersah.

Alles wartete gespannt, als Richard sich erneut über die Inschrift beugte. »Ich bin nicht sicher«, meinte er schließlich. »Die Formulierung klingt irgendwie merkwürdig ...« Er sah zu Kahlan hoch. »Genau kann ich es nicht sagen. Auf diese Weise habe ich Hoch-D’Haran noch nie geschrieben gesehen. Mir ist, als sollte ich die Bedeutung der Worte kennen, und doch komme ich nicht recht dahinter.«

Kahlan vermochte nicht einzuschätzen, ob er tatsächlich so unschlüssig war oder die Übersetzung nicht vor allen anderen aussprechen wollte.

»Vielleicht fällt es dir ja ein, wenn du eine Weile darüber nachdenkst«, schlug sie vor, um ihm die Möglichkeit zu geben, den Sinn der Inschrift erst einmal für sich zu behalten.

Doch statt auf ihr Angebot einzugehen, tippte er mit dem Finger auf die Worte links neben dem Warnzeichen. »Dieser Teil scheint mir etwas verständlicher. Ich glaube, es bedeutet so viel wie: ›Hütet Euch, die Sperre zu dem jenseits liegenden Reich zu durchbrechen ...‹«

Er wischte sich mit der Hand über den Mund, während er darüber nachdachte, wie es weiterging. »Der Rest ist nicht ganz klar«, meinte er schließlich. »Es scheint zu bedeuten: ›denn dahinter liegt das Böse: diejenigen, die blind sind ...‹«

»Dachte ich’s mir doch«, murmelte Jennsen verärgert, die ihre Vermutung bestätigt sah.

Richard fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich bin alles andere als sicher, ob ich es getroffen habe. Irgend etwas ergibt noch immer keinen rechten Sinn.«

»Du hast es ganz genau getroffen«, meinte sie. »Die, die blind sind gegen alle Magie. Die Inschrift ist von den mit der Gabe Gesegneten angebracht worden, die diese Menschen wegen ihres Geburtsfehlers aus der restlichen Welt verbannt haben.« Ihre zornigen Augen füllten sich mit Tränen. »Hütet euch, die Sperre zu dem jenseits liegenden Reich zu durchbrechen, denn dahinter liegt das Böse – diejenigen, die blind sind gegen alle Magie. Das ist es, was es bedeutet, diejenigen, die blind sind gegen jegliche Magie.«

Niemand widersprach ihr. Das einzige Geräusch war das Pfeifen des Windes über dem kahlen Gelände.

Dann wandte Richard seine Aufmerksamkeit wieder Owen zu. »Wie viele Männer warten dort in den Hügeln auf deine Rückkehr?«

»Nicht ganz einhundert.«

Richard entfuhr ein enttäuschter Seufzer. »Nun, wenn das alles ist, was du zu bieten hast, dann ist es eben alles. Um Verstärkung werden wir uns später kümmern müssen.

Fürs Erste möchte ich, daß du deine Gefährten herholst. Wir werden hier auf deine Rückkehr warten. Dies wird unsere Basis sein, hier werden wir einen Plan ausarbeiten, wie wir die Imperiale Ordnung aus Bandakar vertreiben können. Zwischen den Bäumen dort unten ist es einigermaßen geschützt; dort werden wir ein Lager einrichten.«

Owen blickte hangabwärts zu der von Richard angegebenen Stelle, dann in die Richtung, in der seine Heimat lag, ehe er sich ihm, einen verwirrten Ausdruck im Gesicht, wieder zuwandte. »Aber Lord Rahl, Ihr seid es doch, der dazu ausersehen ist, uns die Freiheit zu bringen. Wieso begleitet Ihr mich nicht einfach zu meinen Gefährten, wenn Ihr sie kennenlernen wollt?«

»Weil ich diesen Platz hier für sicherer halte als ihr derzeitiges Versteck, das der Imperialen Ordnung höchstwahrscheinlich bekannt sein dürfte.«

»Aber die Imperiale Ordnung weiß doch gar nichts von diesen Männern, und erst recht nicht, wo sie sich versteckt halten.«

»Du machst dir etwas vor. Diese Ordenssoldaten mögen brutal sein, aber sie sind gewiß nicht dumm.«

»Wenn sie den Aufenthaltsort meiner Gefährten kennen, warum sind sie dann noch nicht gekommen, um sie zurückzuholen?«

»Das werden sie noch tun«, erwiderte Richard. »Und zwar, sobald es ihnen paßt. Deine Freunde stellen keine Gefahr dar, deswegen haben sie es nicht eilig, sich die Mühe zu machen, sie gefangenzunehmen. Aber früher oder später werden sie es tun, und sei es nur, um zu verhindern, daß jemand glaubt, er könne sich ihrer Herrschaft entziehen.

Ich will, daß deine Gefährten ihren jetzigen Aufenthaltsort verlassen und sich an einen ihnen bislang völlig unbekannten Ort begeben: hierher. Die Imperiale Ordnung soll denken, daß sie verschwunden sind, sich aus dem Staub gemacht haben, damit sie sie gar nicht erst verfolgen.«

»Na ja«, meinte Owen nachdenklich, »ich denke, das ließe sich einrichten.«

Tom stand an einer Ecke des Statuensockels Wache. Richard sprach ihn an. »Tom, ich möchte, daß Ihr Owen begleitet.«

»Wieso soll er mich begleiten?«, wollte Owen wissen.

»Weil ich«, erwiderte Richard, »sichergehen möchte, daß du mit deinen Freunden auch tatsächlich hierher kommst. Ich brauche dringend das Gegenmittel, oder ist dir das bereits entfallen? Je mehr Männer ich hier um mich habe, die wissen, wo es sich befindet, desto besser. Außerdem möchte ich, daß sie erst einmal vor der Imperialen Ordnung sicher sind. Tom, mit seinen blonden Haaren und blauen Augen, wird unter deinen Leuten nicht auffallen. Solltet ihr Soldaten begegnen, werden sie ihn für einen von euch halten. Tom ist meine Gewähr, daß ihr alle hier ankommt.«

»Aber es ist möglicherweise nicht ganz ungefährlich«, gab Jennsen zu bedenken.

Richard sah sie herausfordernd an, sagte aber nichts, sondern wartete einfach ab, ob sie sich traute, ihren Einwand näher zu begründen. Schließlich senkte sie den Blick.

»Wahrscheinlich ist es nur vernünftig«, gab sie sich schließlich geschlagen.

Richard wandte seine Aufmerksamkeit wieder Tom zu. »Ich möchte, daß Ihr versucht, einige Materialien mitzubringen. Außerdem möchte ich mir, solange Ihr fort seid, gern Euer Beil ausborgen, sofern Ihr nichts dagegen habt.«

Mit einem Nicken zog Tom das Beil aus seinem Rucksack. Als Richard zu ihm hintrat, um die Axt entgegenzunehmen, ging er in Gedanken bereits eine Liste mit den Dingen durch, nach denen Tom sich umsehen sollte – Spezialwerkzeuge, Eibenholz, Fellkleber, Packschnur Leder sowie eine ganze Liste anderer Dinge.

Tom hakte seine Daumen hinter seinen Gürtel. »Geht in Ordnung. Ich bezweifle allerdings, daß ich alles auf Anhieb auftreiben kann. Wollt Ihr, daß ich mich vor meiner Rückkehr auf die Suche nach den Dingen mache, die nicht sofort aufzutreiben sind?«

»Nein. Ich brauche zwar alles, aber vor allem brauche ich die Männer hier. Besorgt, was ohne große Umstände aufzutreiben ist, und kehrt dann so schnell wie möglich mit Owen und seinen Leuten hierher zurück.«

»Ich bringe mit, was ich beschaffen kann. Wann wollt Ihr, daß wir aufbrechen?«

»Jetzt gleich. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»Jetzt gleich?«, fragte Owen ungläubig. »Aber in ein, zwei Stunden wird es dunkel sein.«

»Es könnten genau jene zwei Stunden sein, die mir am Ende fehlen«, entgegnete Richard. »Vertrödelt sie nicht.«

Kahlan glaubte, daß er von dem Gift sprach, aber möglicherweise hatte er auch die Gabe im Sinn. Sie konnte sehen, wie sehr ihn die durch die Gabe verursachten Kopfschmerzen plagten.

Tom warf seinen Rucksack über die Schulter. »Paßt für mich auf sie auf, Cara, versprochen?«, fragte er augenzwinkernd. Sie gelobte es mit einem Lächeln. »Dann also bis in ein paar Tagen.« Er winkte zum Abschied, ließ seinen Blick noch einen Moment auf Jennsen verweilen, dann scheuchte er Owen um den Sockel der Statue herum und schlug den Weg zu dessen Heimat ein.

Cara. die Arme vor der Brust verschränkt, warf einen vorwurfsvollen Blick Richtung Jennsen. »Was seid Ihr doch dumm, daß Ihr ihm nicht mit einem Kuß eine gute Reise wünscht.«

Jennsen zögerte unschlüssig; ihr Blick ging zu Richard.

»Ich habe mittlerweile gelernt, Cara nicht zu widersprechen«, meinte er.

Und schon lief Jennsen über den Kamm, um Tom noch einzuholen, bevor er vollends verschwunden war.

Richard stopfte die kleine Figur von sich in seinen Rucksack und nahm seinen an der Statue lehnenden Bogen an sich. »Wir sollten jetzt besser wieder zu den Bäumen hinuntersteigen und unser Lager einrichten.«

Richard, Kahlan und Cara machten sich an den Abstieg den Hang hinunter zu ihrem Versteck im Schutz der riesigen Föhren. Für Kahlans Empfinden hatten sie sich ohnehin lange genug unter freiem Himmel aufgehalten; es war nur eine Frage der Zeit, bis die Riesenkrähen – und damit dieser Nicholas – auftauchten, um nach ihnen zu suchen.

Sie wußte, daß sie es trotz der bitteren Kälte hier oben auf dem Pass nicht riskieren konnten, ein Feuer anzuzünden; statt dessen würden sie sich einen warmen, bequemen Unterschlupf bauen müssen. Zu gern hätte sie eine Launenfichte entdeckt, die ihnen über Nacht Unterschlupf und Versteck geboten hätte, doch bislang hatte sie in der Alten Welt noch keinen einzigen dieser Bäume zu Gesicht bekommen, und ihr Wunsch allein würde schwerlich einen wachsen lassen.

Sorgfältig darauf bedacht, ihre Füße auf die trockenen, felsigen Stellen zu setzen und die Schneeflächen zu vermeiden, um keine Spuren zu hinterlassen, warf sie einen prüfenden Blick in den düsteren, wolkenverhangenen Himmel. Gut möglich, daß die Temperaturen ein wenig milder wurden und der Niederschlag in Regen überging. Doch selbst dann stand ihnen eine bitterkalte Nacht bevor.

Jennsen, dicht gefolgt von Betty, kehrte zurück und holte die anderen ein, die sich bereits im Zick-Zack zwischen den schroffen Felsvorsprüngen hangabwärts bewegten. Der Wind wurde immer eisiger, und der Schneefall hatte merklich zugenommen.

Als sie eine ebenere Stelle erreichten, bekam Jennsen Richards Arm zu fassen. »Es tut mir leid, Richard. Ich wollte nicht böse mit dir sein. Ich weiß ja, du hast diese Menschen nicht in die Verbannung geschickt. Dich trifft keine Schuld.«

»Wie man sie behandelt hat, sollte dich auch wütend machen«, sagte Richard im Weitergehen, »aber nicht, daß ihr dieses eine Wesensmerkmal gemein habt.«

Verblüfft, und fast ein wenig gekränkt über seine Bemerkung, blieb Jennsen wie angewurzelt stehen. »Was willst du damit sagen?«

Richard war ebenfalls stehen geblieben und drehte sich zu ihr um. »Das ist genau die Denkweise der Imperialen Ordnung, und genauso denken auch Owens Landsleute. Es ist der Glaube, man könnte Menschen, die ein bestimmtes Merkmal oder einen Wesenszug gemeinsam haben, ohne Ansehen der Person ein Vorrecht einräumen oder eine Schuld zuweisen.

In der Imperialen Ordnung sähe man es nur zu gerne, wenn du glaubtest, die Tugendhaftigkeit oder der Wert eines Menschen, oder selbst seine Bosheit, sei ausschließlich auf den Umstand zurückzuführen, daß er als Mitglied einer gewissen Bevölkerungsgruppe geboren wurde und daß der freie Wille auf diese Dinge nicht nur keinen Einfluß hat, sondern gar nicht existiert. Sie wollen dich glauben machen, alle Menschen seien austauschbare Mitglieder einer Gesellschaft, mit festen, vorherbestimmten Eigenschaften, die gemäß einer vorherbestimmten kollektiven Identität, dem Gruppenwillen, zu leben haben, unfähig, sich durch persönliche Leistung darüber zu erheben, weil es so etwas wie persönliche Leistung nicht geben darf, sondern nur die Leistung der Gruppe.

Nach ihrer Überzeugung können Menschen sich nur dann über den ihnen zugewiesenen Platz im Leben erheben, wenn sie dazu ausersehen werden, eine Anerkennung in Empfang zu nehmen, die ihrer Gruppe zusteht; diese wiederum muß einen Vertreter wählen, dem diese Verdienstmedaille des Selbstwerts gewissermaßen stellvertretend verliehen werden kann. Nur der Abglanz dieser Medaille, so ihr Glaube, kann das Selbstwertgefühl auf die anderen Gruppenmitglieder übertragen.

Selbstachtung kann man jedoch nur aus sich selbst heraus gewinnen. Jede Gemeinschaft, die sie dir verheißt oder von dir einfordert, rasselt bereits mit den Ketten der Sklaverei.«

Jennsen starrte ihn lange unverwandt an. Schließlich ging ein Lächeln über ihre Lippen. »Deswegen wollte ich also stets, daß man mich als das akzeptiert, was ich bin, deshalb hielt ich es für ungerecht, daß man mich wegen meines so genannten Geburtsfehlers verfolgt hat?«

»So ist es«, sagte Richard. »Wenn du stolz auf dich sein möchtest, weil du etwas erreicht hast, darfst du dich nie von einer Gemeinschaft vereinnahmen lassen und auch andere niemals nur als Teil einer Gemeinschaft sehen. Beurteile andere stets nach ihrer eigenen Leistung.

Mit anderen Worten, niemand darf mich dafür hassen, daß mein Vater böse war, noch sollte mich jemand wegen der Güte meines Großvaters bewundern. Ich habe das Recht, mein Leben zu meinem persönlichen Vorteil selbst zu gestalten. Du bist Jennsen Rahl, und dein Leben ist das, was du, du allein, daraus machst.«

Den Rest des Weges den Hang hinunter legten sie schweigend zurück. Jennsen, einen entrückten Blick in den Augen, gingen Richards Worte nicht mehr aus dem Kopf.

Dann hatten sie die Bäume endlich erreicht; Kahlan war froh, endlich unter die schützenden Zweige der alten Föhren und kurz darauf in die stille Geborgenheit der niedrigeren, dichteren Balsamtannen zu treten. Durch dichtes Gestrüpp gelangten sie schließlich in die stille Abgeschiedenheit der bis in den Himmel ragenden Baumriesen, und weiter hangabwärts an eine Stelle, wo ein zutagetretender Felsen ihnen Schutz vor den Unbilden der Witterung bot. Die Stelle eignete sich gut zum Errichten eines Verstecks, da man nur ein paar Zweige gegen den Felsen zu lehnen brauchte, um einen verhältnismäßig warmen Unterschlupf zu erhalten.

Richard fällte mit Toms Axt im Unterholz ein paar kräftige junge Föhrenstämme; die er an die Felswand lehnte. Während er damit beschäftigt war die Pfähle mit dünnen Strängen der Föhrenwurzeln, die er aus dem bemoosten Boden gerissen hatte, zusammenzubinden, gingen Kahlan, Jennsen und Cara daran, Zweige für eine trockene Schlafstätte und das Dach des Unterschlupfs zu sammeln.

»Richard«, fragte Jennsen, ein Bündel Balsamtannenzweige in den Armen, »wie, glaubst du, wirst du die Imperiale Ordnung aus Bandakar vertreiben können?«

Richard wuchtete einen schweren Zweig zum oberen Ende der Pfähle hinauf und befestigte ihn dort mit einem dünnen Wurzelstrang. »Ich weiß ja nicht mal, ob es mir überhaupt gelingt. Meine größte Sorge gilt der Beschaffung des Gegenmittels.«

Jennsen machte ein überraschtes Gesicht. »Aber wirst du diesen Menschen denn nicht helfen?«

Er maß sie mit einem durchdringenden Blick über seine Schulter hinweg. »Sie haben mich vergiftet. Wie man es auch dreht und wendet, diese Leute sind bereit, mich zu töten, wenn ich nicht tue, was sie verlangen – ihnen sozusagen die Drecksarbeit abnehme. Sie halten uns für Barbaren und dünken sich uns überlegen. Ihrer Meinung nach ist unser Leben weniger wert, nur weil wir nicht ihrer Gemeinschaft angehören. Aber ich bin vor allem für mein eigenes Leben verantwortlich, und deshalb muß ich das Gegenmittel beschaffen.«

»Ich verstehe, was du meinst.« Jennsen reichte ihm den nächsten Balsamzweig. »Trotzdem glaube ich noch immer, daß wir uns vor allem selbst helfen würden, wenn wir die Imperiale Ordnung und diesen Nicholas von hier vertreiben.«

Richard lächelte. »Da muß ich dir Recht geben, und wir werden auch alles in unserer Macht stehende tun. Aber wenn wir diesen Menschen wirklich helfen wollen, muß ich Owen und seine Gefährten davon überzeugen, daß sie die Dinge selbst in die Hand nehmen müssen.«

Cara schnaubte verächtlich. »Das wäre schon ein gewaltige Leistung, diesen Lämmern beizubringen, sich in Wölfe zu verwandeln.«

Kahlan war der gleichen Ansicht. Vermutlich wäre es schwieriger, Owen und seine Gefährten von der Notwendigkeit der Selbstverteidigung zu überzeugen, als Bandakar zu fünft von der Imperialen Ordnung zu befreien. Sie fragte sich, woran Richard wohl dachte.

»Nun«, meinte Jennsen, »findet ihr nicht, daß ich ein Recht darauf habe, eingeweiht zu werden und zu erfahren, warum ihr beide euch ständig heimlich Blicke zuwerft und miteinander tuschelt? Schließlich sitzen wir alle im selben Boot, wenn wir es mit der Imperialen Ordnung in Bandakar zu tun bekommen.«

Richard starrte Jennsen einen Moment an, ehe er sich wieder an Kahlan wandte.

Kahlan legte ihr Zweigbündel neben dem Unterschlupf auf dem Boden ab. »Ich finde, sie hat recht.«

Richard schien darob nicht sonderlich begeistert, aber schließlich nickte er und legte den Balsamzweig fort, den er gerade in der Hand hielt. »Vor nahezu zwei Jahren gelang es Jagang, mit Hilfe von Magie eine Seuche auszulösen. Die Seuche selbst war nicht magisch; sie war nichts weiter als eine Seuche. Sie fegte durch Städte und hinterließ Zehntausende Opfer. Da dieser Flächenbrand durch einen magischen Funken ausgelöst worden war, konnte ich die Seuche schließlich auch mit Hilfe von Magie beenden.«

Kahlan glaubte nicht, daß sich ein solcher Alptraum auf die einfache Feststellung der Tatsachen reduzieren ließ, wenn man auch nur ansatzweise jenes Grauen vermitteln wollte, das sie damals durchgemacht hatten, doch Jennsens Gesichtsausdruck ließ vermuten, daß sie ein wenig von dem Schrecken begriff, der damals das Land ergriffen hatte.

»Um den Ort wieder verlassen zu können, den er hatte aufsuchen müssen, um die Seuche zu beenden«, fuhr Kahlan unter Auslassung der schaurigen Einzelheiten fort, »mußte er sich selbst mit der Seuche infizieren. Andernfalls hätte er zwar selbst überlebt, allerdings vollkommen vereinsamt, ohne mich oder sonst einen seiner Lieben jemals wiederzusehen. Er steckte sich freiwillig mit der Seuche an, um zurückkehren und mir seine Liebe gestehen zu können.«

Jennsen starrte sie aus großen Augen an. »Wußtest du denn nicht, daß er dich liebt?«

Ein dünnes, bitteres Lächeln spielte über Kahlans Lippen. »Meinst du nicht, deine Mutter würde nur zu gern aus dem Reich der Toten zurückkehren, um dir zu sagen, daß sie dich liebt, obwohl du das längst weißt?«

»Doch, vermutlich würde sie das. Aber warum mußtest du dich anstecken, um zurückkehren zu können? Und von wo überhaupt?«

»Der Ort nannte sich Tempel der vier Winde und lag teilweise in der Unterwelt.« Richard deutete mit einer Handbewegung hinauf zum Paß. »Vergleichbar in etwa mit der Grenze dort, die einerseits Teil des Totenreiches, gleichzeitig aber Teil dieser Welt war. Man könnte sagen, mit dem Tempel der vier Winde verhielt es sich ähnlich. Er lag verborgen in der Unterwelt; und da ich eine Art Grenze zur Unterwelt überqueren mußte, um in ihn hineinzugelangen, setzten die Seelen einen Preis für meine Rückkehr in die Welt des Lebens fest.«

»Seelen? Du bist dort tatsächlich den Seelen der Toten begegnet?«, wollte Jennsen wissen. Als Richard darauf nickte, hakte sie sofort nach. »Und warum haben sie diesen Preis festgesetzt?«

»Die Seele, die diesen Preis festsetzte, war die Darken Rahls.«

Jennsen klappte vor Verblüffung der Unterkiefer herunter.

»Als wir Lord Rahl damals fanden«, warf Cara ein, »lag er im Sterben. Die Mutter Konfessor begab sich auf eine gefahrvolle Reise durch die Sliph, um in Erfahrung zu bringen, wodurch er wieder geheilt werden könnte. Schließlich gelang es ihr tatsächlich, ein Heilmittel zu beschaffen, doch trennten ihn da nur noch wenige Augenblicke von seinem Tod.«

»Ich wendete die Magie an, die ich mitgebracht hatte«, griff Kahlan den Faden auf. »Etwas, mit der sich die Seuche, die er sich durch Magie zugezogen hatte, ins Gegenteil verkehren ließ. Die Magie, die ich zu diesem Zweck beschwor, waren die drei Chimären.«

»Drei Chimären?«, fragte Jennsen. »Was muß man sich darunter vorstellen?«

»Die Chimären sind magische Wesen aus der Unterwelt. Erbittet man ihre Hilfe, läßt sich verhindern, daß jemand ins Reich des Todes hinüberwechselt.

Unglücklicherweise – vielleicht war es ja auch ein Glück – war mir damals darüber hinaus nichts über diese drei Chimären bekannt. Wie sich herausstellte, waren sie während des Großen Krieges zur Abschaffung aller Magie erschaffen worden. Sie stammen aus der Unterwelt und vermögen die Magie in dieser Welt aufzuheben.«

Jennsen schien verwirrt. »Aber wie können sie so etwas bewerkstelligen?«

»Wie sie funktionieren, weiß ich selbst nicht genau. Da sie jedoch dem Totenreich entstammen, setzt ihre Anwesenheit in dieser Welt den Prozeß der Vernichtung aller Magie in Gang.«

»Konntest du diese Chimären denn nicht verjagen – sie wieder zurückschicken?«

»Das habe ich inzwischen längst getan«, sagte Richard. »Doch solange sie in dieser Welt weilten, verlor die Magie immer mehr an Kraft.«

»Offenbar habe ich an jenem Tag, als ich die Chimären in die Welt des Lebens rief, eine Flut von Ereignissen ausgelöst, die sich unaufhaltsam weiterentwickeln, obwohl die Chimären längst wieder in die Unterwelt zurückgesandt wurden.«

»Das wissen wir nicht«, warf Richard, mehr an Kahlan denn an Jennsen gewandt, ein.

»Richard hat wohl Recht«, bestätigte Kahlan. »Mit Sicherheit können wir das nicht sagen, doch haben wir allen Grund, es zu vermuten. Die Grenze, die Bandakar von der Außenwelt abriegeln sollte, ist gefallen. Der Zeitpunkt deutet darauf hin, daß es kurz nach der Befreiung der Chimären durch mich passierte. Das ist übrigens so ein Fehler, von denen ich dir erzählte. Du erinnerst dich?«

Jennsen starrte Kahlan entgeistert an, schließlich nickte sie. »Aber das hast du doch nicht getan, um jemandem zu schaden. Du wußtest ja nicht einmal, daß es so kommen würde. Du konntest nicht wissen, daß die Grenze fallen und die Imperiale Ordnung in das Land einmarschieren und die Menschen mißbrauchen würde.«

»Wo liegt da der Unterschied? Ich habe es getan, ich habe es verursacht. Ich könnte schuld daran sein, daß die Magie versiegt. Damit hätte ich erreicht, was herbeizuführen die Imperiale Ordnung keine Mühe scheut. Mein Tun hatte zur Folge, daß all diese Menschen in Bandakar gestorben sind, während andere frei herumlaufen und das tun, was sie auch damals, vor so langer Zeit schon getan haben – die Gabe durch gezielte Fortpflanzung auszumerzen.

Wir stehen am Rande der Abschaffung aller Magie, und das ist allein meine Schuld.«

Jennsen stand da wie versteinert. »Und deshalb bereust du jetzt, was du damals getan hast? Daß durch dein Tun möglicherweise alle Magie versiegen könnte?«

Kahlan spürte Richards Arm auf ihrer Taille. »Ich kenne nur eine Welt, in der Magie existiert«, meinte sie schließlich. »Ich wurde – jedenfalls zum Teil – Mutter Konfessor, weil ich helfen wollte, Menschen mit Magie zu beschützen, die sich nicht selbst schützen konnten. Letztendlich bin auch ich ein Geschöpf der Magie – sie ist mit meiner Person unentwirrbar verbunden. Ich kenne magische Dinge von überwältigender Schönheit, die ich sehr liebe; sie sind ein unveräußerlicher Bestandteil der Welt des Lebens.«

»Demnach befürchtest du, das Ende dessen herbeigeführt zu haben, was du am meisten liebst?«

Kahlan lächelte. »Nicht, was ich am meisten liebe. Ich wurde Mutter Konfessor weil ich an Gesetze glaube, welche die Menschen schützen und allen Individuen das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zugestehen. Ich möchte weder, daß einem Künstler die Fähigkeit zum Bildhauern beschnitten, die Stimme eines Sängers zum Schweigen gebracht oder der Geist eines Menschen brachgelegt wird, noch möchte ich, daß die Menschen ihrer Fähigkeit beraubt werden, mit Hilfe von Magie ihr Bestes zu geben.

Im Grunde geht es gar nicht so sehr um die Magie selbst. Ich möchte, daß alle Blumen die Möglichkeit haben, in ihrer bunten Vielfalt zu erblühen. Auch du bist schön, Jennsen, deswegen möchte ich dich ebenso wenig verlieren. Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben. Die Vorstellung, ein Leben müsse einem anderen vorgezogen werden, widerspricht allem, woran wir glauben.«

Als Kahlan ihr mit der Hand über die Wange strich, meinte Jennsen lächelnd: »Ich schätze, in einer Welt ohne Magie könnte ich sogar Königin sein.«

Cara, den Arm voller Balsamtannenzweige, meinte im Vorübergehen: »Auch Königinnen müssen ihr Haupt vor der Mutter Konfessor beugen, vergeßt das nicht.«

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