15

Das einzige Geräusch, das über den ansonsten vollkommen still daliegenden Lagerplatz wehte, war das leise, verängstigte Meckern Bettys. Das gesamte Gelände schien mit Leichen bedeckt; der Überfall hatte offenbar ein Ende gefunden. Das Schwert noch in der Hand, hastete Richard quer durch das Blutbad zu Kahlan. Jennsen stand am Rand des Feuerscheins, während Cara prüfte, ob sich in den zahllosen Körpern noch Anzeichen von Leben regten.

Kahlan ließ den Krieger, den sie soeben mit ihrer Kraft berührt hatte, im Morast kniend zurück und begab sich mit staksigen Schritten hinüber zu Jennsen. Richard kam ihr auf halbem Weg entgegen und legte ihr erleichtert einen Arm um die Hüfte.

»Alles in Ordnung?«

Sie nickte.

»Und du?«

Richard schien ihre Frage gar nicht zu hören. Sein Arm glitt von ihrer Hüfte. »Bei den Gütigen Seelen«, stieß er hervor und lief hinüber zu einem der regungslos auf der Seite liegenden Männer.

Sabar.

Nicht weit entfernt stand Jennsen, vor Bestürzung zitternd, das Messer wie zur Abwehr erhoben, die Augen entsetzt aufgerissen. Kahlan zog sie in ihre Arme und redete mit leisen, beruhigenden Worten auf sie ein, daß es vorüber sei, daß sie nichts mehr zu befürchten habe und ihr nichts zugestoßen sei.

Jennsen hielt sich krampfhaft an ihr fest. »Sabar – er hat versucht, mich zu beschützen ...«

Kahlan tröstete sie. »Ich weiß, ich weiß.«

Dann sah sie, wie Richard ihn mit ruhigen Bewegungen auf den Rücken wälzte. Der Arm des jungen Mannes fiel kraftlos zur Seite. Kahlans Mut sank.

Völlig außer Atem kam Tom ins Lager gelaufen, über und über mit Blut und Schweiß besudelt. Einen unglücklichen Aufschrei auf den Lippen, warf Jennsen sich ihm in die Arme. Er zog sie beschützend an sich, hielt ihren Kopf an seine Schulter und versuchte, wieder zu Atem zu kommen – ohne das Dunkel ringsum auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen.

Cara dagegen war die Ruhe in Person; das Fehlen jeglicher Hast, mit dem sie zu Werke ging, ließ keinen Zweifel aufkommen, daß alle Angreifer, ohne Ausnahme, tot waren.

Kahlan legte Richard eine tröstliche Hand auf den Rücken, als er neben Sabar in die Hocke ging und mit leiser Verbitterung in der Stimme fragte: »Wie viele Menschen müssen eigentlich noch für das Verbrechen sterben, in Freiheit leben zu wollen – für die Sünde, ihr Leben selbst bestimmen zu wollen?«

Sie sah, daß er das Schwert der Wahrheit noch immer krampfhaft mit einer Hand umklammert hielt. Die Magie des Schwertes, die sich anfangs nur zögerlich gezeigt hatte, funkelte auch weiterhin bedrohlich in seinen Augen.

»Wie viele?«, stieß er aufgebracht hervor.

»Ich weiß es nicht, Richard«, antwortete Kahlan leise.

Richard warf einen wütenden Blick zu dem Kerl auf der anderen Seite des Lagers hinüber, der noch immer auf den Knien lag und aus Angst, den Mund aufzumachen, mit flehentlich aneinander gepreßten Händen darum bettelte, man möge über ihn gebieten.

Einmal berührt von einer Konfessorin, wurde der Betreffende vollständig seiner früheren Persönlichkeit beraubt – dieser Teil seiner Erinnerung war für alle Zeiten gelöscht. Wer oder was der Betreffende einst auch gewesen sein mochte, es existierte schlicht nicht mehr.

An dessen Stelle setzte die Magie der Konfessorinnenkraft die unbedingte Unterwerfung unter die Wünsche und Bedürfnisse der Konfessorin, die ihn berührt hatte. Nichts sonst zählte. Sein ganzer Lebenszweck reduzierte sich auf das ausschließliche und bedingungslose Befolgen ihrer Befehle: zu tun, was immer sie anordnete, und jede ihrer Fragen zu beantworten.

Niemand, der auf diese Weise berührt worden war, würde es wagen, ein Verbrechen auf Geheiß einer Konfessorin nicht augenblicklich zu gestehen – nur zu diesem Zweck waren sie einst geschaffen worden. In gewisser Hinsicht verfolgten sie das gleiche Ziel wie der Sucher: die Wahrheit. Um zu überleben, gab es im Krieg, wie auch in allen anderen Bereichen des Lebens, kein wichtigeres Gut.

Der Kerl, der nicht weit entfernt am Boden kniete, wand sich in kriecherischer Unterwürfigkeit, denn bisher hatte Kahlan nichts von ihm verlangt. Eine abscheulichere Seelenpein, eine beängstigendere Leere als die, ihre Wünsche nicht zu kennen, war für ihn unvorstellbar; ohne ihre Wünsche entbehrte sein Dasein jeglichen Sinns. Nicht selten gingen von einer Konfessorin berührte Männer ohne ihre Befehle jämmerlich zu Grunde.

Was immer sie jetzt von ihm verlangte, sei es die Preisgabe seines eigenen Namens oder den seiner wahren Geliebten oder die Ermordung seiner geliebten Mutter, würde ihn in einen Zustand grenzenlosen Glücks versetzen, denn dann hätte er endlich eine Aufgabe, die er auf ihr Geheiß erfüllen konnte.

»Fragen wir ihn, was mit dem Überfall bezweckt werden sollte«, meinte Richard mit leisem Knurren und setzte sich in Bewegung, blieb aber gleich darauf unvermittelt wieder stehen. Dort, vor ihm im Staub, lagen die Überreste jener kleinen Statuette, die Sabar ihnen mitgebracht hatte. Sie war in hundert Einzelteile zerbrochen und – wenn man davon absah, daß die Splitter noch immer lichtdurchlässig und bernsteinfarben waren – bis zur Unkenntlichkeit zerstört.

Nicci hatte in ihrem Brief angedeutet, daß sie die Statuette nicht mehr benötigten, nachdem sie ihre Warnung übermittelt hatte – eine Warnung, der zufolge Kahlan offenbar einen Schutzschild durchbrochen hatte, hinter dem etwas überaus Bedrohliches unter Verschluß gehalten wurde.

Was dieser Schild hatte schützen sollen, wußte Kahlan nicht, sie befürchtete jedoch, nur zu gut zu wissen, womit sie ihn durchbrochen hatte.

Viel mehr allerdings befürchtete sie, schuld am allmählichen Versagen der Magie von Richards Schwert zu sein.

Als sie auf die bernsteinfarbenen, in den Staub getretenen Scherben starrte, überkam sie eine Woge der Verzweiflung.

Richard legte ihr einen Arm um die Hüfte. »Laß deine Phantasie nicht mit dir durchgehen. Bislang wissen wir doch gar nicht, was das zu bedeuten hat. Wir wissen nicht einmal sicher, ob es überhaupt zutrifft – womöglich handelt es sich um eine Art Mißverständnis.«

Kahlan wünschte, sie hätte es glauben können.

Schließlich schob Richard sein Schwert in die Scheide zurück. »Möchtest du dich vielleicht erst ein wenig hinsetzen und ausruhen?«

Seit dem Tag ihrer ersten Begegnung hatte seine Sorge um sie Vorrang vor allem anderen gehabt; im Augenblick jedoch war sie eher um sein Wohlergehen besorgt.

Das Entfesseln ihrer Kraft zehrte stets an der physischen Verfassung einer Konfessorin: diesmal jedoch fühlte Kahlan sich nicht nur stark geschwächt, sondern ihr war geradezu übel. Sie war nicht zuletzt deswegen in das Amt der Mutter Konfessor berufen worden, weil ihre hervorragend ausgeprägte Kraft es ihr erlaubte, sie schon nach wenigen Stunden wiederherzustellen, während andere dafür einen ganzen Tag oder sogar deren zwei benötigten. Der Gedanke an all die anderen Konfessorinnen, von denen sie manchen sehr zugetan gewesen war und die längst nicht mehr lebten, verstärkte ihr Gefühl trostloser Hoffnungslosigkeit noch.

Um ihre Kraft vollständig wiederherzustellen, würde sie mindestens eine Nacht durchschlafen müssen, doch im Augenblick gab es wichtigere Dinge zu bedenken, nicht zuletzt Richards Zustand.

»Nein«, gab sie zurück. »Es geht mir gut. Ausruhen kann ich auch später noch. Fragen wir ihn, was immer du wissen willst.« Der unerträgliche Gestank, unter den sich der Geruch einer im Lagerfeuer vor sich hin schwelenden Leiche mischte, steigerte Kahlans Übelkeit von Sekunde zu Sekunde. »Und anschließend sollten wir zusehen, daß wir diesen schaurigen Ort verlassen«, sagte sie. »Wir müssen von hier fort, schließlich ist nicht auszuschließen, daß noch weitere Krieger auftauchen.« Zumal sie befürchtete, seine Magie könnte ihn, falls er gezwungen wäre, sein Schwert erneut zu ziehen, endgültig im Stich lassen. »Wir müssen uns einen geschützteren Lagerplatz suchen.«

Richard nickte zustimmend, zog sie an seine Brust und blickte gedankenverloren über ihren Kopf hinweg. Es war trotz allem – oder vielleicht deswegen – ein großartiges Gefühl, einfach in den Arm genommen zu werden. Schließlich hörten sie Friedrich völlig außer Atem ins Lager zurückhasten. Der grausige Anblick, der sich ihm bot. ließ ihn so jählings innehalten, daß er fast gestolpert wäre, und entlockte ihm ein entsetztes, angewidertes Stöhnen.

»Tom, Friedrich, habt ihr eine Ahnung, ob sich noch mehr von diesen Kerlen auf dem Weg hierher befinden?«

»Das glaube ich nicht, Lord Rahl«, antwortete Tom. »Meiner Meinung nach sind sie alle zusammengeblieben. Ich hab sie zufällig gesehen, als sie einen ausgetrockneten Wasserlauf heraufstiegen. Ich wollte sofort zurück, um Euch zu warnen, aber dann kamen plötzlich vier von ihnen hinter einer Erhebung hervor und warfen sich auf mich, während die übrigen weiter Richtung Lagerplatz liefen.«

»Ich hab niemanden gesehen, Lord Rahl«, sagte Friedrich, inzwischen wieder halbwegs bei Atem. »Ich bin sofort hergerannt, als ich die Schreie hörte.«

Richard legte ihm zum Zeichen des Dankes eine Hand auf die Schulter und versuchte ihn zu beruhigen. »Helft Tom beim Einspannen der Pferde. Ich möchte die Nacht nicht hier verbringen.«

Die beiden gingen unverzüglich an die Arbeit, während er sich an Jennsen wandte.

»Sei so nett und breite ein paar Schlafdecken auf der Ladeflache des Wagens aus. Ich möchte, daß Kahlan sich hinlegen und ein wenig ausruhen kann, sobald wir aufgebrochen sind.«

»Natürlich, Richard.«

Während alle darangingen, in größtmöglicher Eile ihre Siebensachen zusammenzusuchen, begab Richard sich allein zu einer etwas abseits gelegenen, unbewachsenen Stelle und hob ein flaches Grab aus. Für einen Scheiterhaufen war nicht genügend Zeit – ein namenloses Grab mußte genügen, zumal Sabars Seele seinen Körper bereits verlassen hatte und ihnen das hastige Verscharren seines Leichnams kaum verübeln würde.

Kahlan überdachte ihren Gedanken noch einmal. Nach Niccis Brief, der sie über den Zweck des Warnzeichens aufgeklärt hatte, hatte sie mehr denn je Grund, die Gültigkeit gewisser Vorstellungen, wie die der Seelen, anzuzweifeln. Das Totenreich war über magische Kanäle mit der Welt des Lebens verbunden; der Schleier selbst war magisch und befand sich angeblich in den Köpfen von Richard und seinesgleichen. Sie hatten herausgefunden, daß diese Verbindungskanäle ohne Magie versagen konnten und daß diese anderen Welten, da sie nicht unabhängig von der Welt des Lebens, sondern nur in Beziehung zu ihr existieren konnten im Falle eines völligen Versagens dieser Verbindungen möglicherweise ganz zu existieren aufhörten – etwa so, wie der Begriff der Tageszeiten ohne die Sonne nicht vorstellbar war.

Für Kahlan stand jetzt fest, daß der Magie die Macht über die Welt zu entgleiten drohte und daß dieser Machtverfall bereits seit mehreren Jahren andauerte.

Und sie glaubte auch, den Grund zu kennen.

Die Seelen – die gütigen ebenso wie die bösen –, aber auch alle anderen Dinge, deren Existenz auf Magie beruhte, würden möglicherweise schon bald vernichtet werden. Dadurch bekäme der Tod, im wahrsten Sinn des Wortes, etwas Endgültiges. Es war sogar denkbar, daß die Möglichkeit, sich nach dem Tod mit einem geliebten Menschen oder den Gütigen Seelen zu vereinen, nicht mehr gegeben wäre. Die Gütigen Seelen, ja selbst die Unterwelt, könnten im absoluten Nichts versinken.

Als Richard seine Arbeit beendet hatte, half ihm Tom, Sabars sterbliche Überreste in die Erdmulde zu legen. Er sprach ein paar stille Worte, mit denen er die Gütigen Seelen bat, über einen der ihren zu wachen, dann bedeckte Richard den Leichnam mit Erde.

»Lord Rahl«, wandte Tom sich mit leiser Stimme an ihn, als sie fertig waren. »Während die ersten bereits den Lagerplatz überfielen, haben ein paar Männer hier unseren Pferden die Kehle durchgeschnitten; erst danach sind sie ihren Kumpanen hinterhergeeilt.«

»Allen Pferden?«

»Meine wurden als Einzige verschont. Die Zugtiere sind ziemlich schwer und kräftig; vermutlich hatten die Kerle Angst, niedergetrampelt zu werden. Sie ließen ein paar Männer zurück, die auf mich aufpassen sollten, daher dachten sie wohl, sie hätten von mir nichts mehr zu befürchten. Vermutlich waren sie im Glauben, sie könnten sich später, sobald sie Euch überwältigt hätten, um die Zugtiere kümmern.« Tom zuckte seine breiten Schultern. »Vielleicht hatten sie sogar vor, Euch gefangen zu nehmen, zu fesseln und mit dem Wagen fortzuschaffen.«

Richard nahm Toms Ausführungen mit einem knappen Nicken zur Kenntnis und wischte sich mit den Fingern über die Stirn. Kahlan fand, daß er noch abgespannter aussah, als sie sich fühlte; es war unübersehbar, daß seine Kopfschmerzen zurückgekehrt waren und ihn unter ihrer quälenden Heftigkeit zu erdrücken drohten.

Tom ließ den Blick durch ihr Lager schweifen. »Was machen wir mit den übrigen Toten?«

»Um die können sich die Riesenkrähen balgen«, antwortete Richard ohne das geringste Zögern.

Tom schien keinerlei Einwände dagegen zu haben. »Ich sollte Friedrich jetzt besser beim Einspannen der Pferde helfen. Mit dem Blutgeruch in den Nüstern dürften sie ihm ziemlich schwer zu schaffen machen.«

Nachdem Tom gegangen war, um nach seinen Pferden zu sehen, rief Richard Cara zu sich. »Stellt die genaue Zahl der Gefallenen fest«, trug er ihr auf. »Wir müssen wissen, wie viele es insgesamt waren.«

»Richard«, wandte sich Kahlan in vertraulichem Ton an ihn, als Tom außer Hörweite war und Cara mit der Zählung der Toten begonnen hatte, wobei sie zwischen den Leichen umherlief und über manche einfach hinwegstieg, »was war eigentlich los, als du versucht hast, das Schwert zu ziehen?«

Er fragte weder nach, was genau sie meinte, noch versuchte er es ihr schonend beizubringen.

»Mit seiner Magie stimmt etwas nicht. Als ich es zog, hat es sich geweigert, meiner Aufforderung nachzukommen. Aber da stürmten die Männer bereits ins Lager, und ich durfte nicht länger zögern. Als ich mich dann dem Angriff entgegenwarf reagierte endlich auch die Magie.

Vermutlich liegt es an den durch die Gabe verursachten Kopfschmerzen – offenbar beeinträchtigen sie meine Fähigkeit, mit der Magie des Schwertes eins zu werden.«

»Aber letztes Mal, als du diese Kopfschmerzen hattest, war das nicht der Fall.«

»Wie ich bereits sagte, laß deine Phantasie nicht mit dir durchgehen. Es ist erst aufgetreten, seit ich diese Kopfschmerzen wieder bekomme. Demnach müssen sie auch der Grund sein.«

Kahlan wußte nicht, ob sie ihm guten Gewissens glauben konnte, noch ob er selbst daran glaubte. Aber er hatte natürlich Recht. Die Probleme mit der Magie des Schwertes hatten sich erst in jüngster Zeit gezeigt – nach dem neuerlichen Auftreten der Kopfschmerzen.

»Sie werden immer schlimmer, hab ich Recht?«

Er nickte. »Komm jetzt, hören wir uns an, was dieser Kerl uns zu erzählen hat.«

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