Kapitel 55

Und dann war die Konferenz zu Ende. Die Delegierten standen vom Tisch auf und gingen zur Tür, doch Humphries blieb sitzen. Er hatte die Hände auf dem Tisch verschränkt und war tief in Gedanken versunken.

»Wollen Sie denn nicht nach Hause gehen?«, fragte Pancho, als sie um den Tisch herumging.

»Später«, sagte Humphries. »Jetzt noch nicht.«

Stavenger verließ gerade mit Dieterling und seinen beiden Neffen den Raum. Big George und Cardenas waren schon gegangen; George war als Erster zur Tür hinaus wie ein Schuljunge, der beim ersten Pausenzeichen fluchtartig das Klassenzimmer verlässt.

»Ich glaube nicht, dass Mandy noch einmal zurückkommen wird«, sagte Pancho.

Humphries schaute mit einem gezwungenen Lächeln zu ihr auf. »Wir werden sehen.«

»Na gut«, sagte Pancho.

Humphries schaute ihr nach, wie sie zur Tür schlenderte und ihn im Konferenzzimmer allein ließ. Dann werden wir also Frieden im Gürtel haben, sagte er sich. Und die Felsenratten werden ihn sichern. Natürlich werden sie das.

Er stand auf und ging zu dem kleinen Podium, das in eine Ecke des Raums gerollt worden war. Die audiovisuellen Bedienelemente waren ziemlich einfach. Per Tastendruck schaltete Humphries den Wandbildschirm am anderen Ende des Konferenzraums ein. Er zeigte Selenes Logo: die Konturen eines androgynen Menschen vor dem Hintergrund des vollen Mondes. Er sah sich die im Computer gespeicherten Bilder an und stoppte bei einer Karte des Asteroidengürtels: Das Gewirr von Orbits sah aus wie die überbelichtete Aufnahme einer überfüllten Autobahn bei Nacht.

Dann werden wir die Unabhängigen also in Ruhe lassen, sagte Humphries sich. Wir werden uns nicht mehr den Zorn der Felsenratten und ihrer provisorischen Regierung zuziehen. Das muss auch nicht sein. Weil alle Unabhängigen nämlich an mich oder Astro verkaufen werden; eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Sie werden alle auf Linie gebracht.

Er holte tief Luft und sagte sich, nun ist es ein Kampf zwischen Astro und HSS. Nun beginnt erst der richtige Krieg. Und wenn der vorbei ist, werde ich Astro in die Tasche gesteckt und die totale Kontrolle über den Gürtel errungen haben. Und damit die totale Kontrolle über das ganze verdammte Sonnensystem und jeden, der darin kreucht und fleucht!

Wie aufs Stichwort betrat Amanda den Konferenzraum.

Humphries starrte sie an. Irgendwie schien sie sich verändert zu haben: Sie war noch immer die schönste und begehrenswerteste Frau, die er jemals gesehen hatte. Doch strahlte sie nun etwas aus, das ihn fast nervös machte. Sie erwiderte seinen Blick. Ihr Blick war fest, die Augen trocken. Sie vergießt keine Träne wegen ihres Manns, sagte Humphries sich.

»Man lässt mich nicht mit ihm sprechen«, sagte Amanda mit so leiser Stimme, dass er die Worte kaum verstand. Sie ging am Konferenztisch entlang auf Humphries zu.

»Er ist noch zu weit entfernt für eine Zweiwege-Kommunikation«, sagte er.

»Ich habe einen Funkspruch an ihn abgesetzt, aber man hat ihn nicht einmal ans Gerät geholt. Man sagte mir, es sei ihm nicht gestattet, von irgendjemandem eine Nachricht zu empfangen.«

»Er wird in Einzelhaft gehalten.«

»Auf Ihre Anweisung.«

»Ja.«

»Sie haben vor, ihn umzubringen, nicht wahr?«

Humphries wich dem steten Blick ihrer blauen Augen aus. »Ich könnte mir vorstellen, dass man ihn auf Ceres vor Gericht stellen wird. Er hat schließlich viele Menschen getötet.«

»Aber wird er die Gerichtsverhandlung überhaupt noch erleben?«, fragte Amanda mit ruhiger Stimme. Sie klang eher resigniert als vorwurfsvoll.

Nervös trat Humphries von einem Fuß auf den andern. »Er ist ein gewalttätiger Mann, wissen Sie. Er wird vielleicht einen Ausbruch versuchen.«

»Das würde Ihnen ganz gut in den Kram passen, nicht wahr? Dann würden Sie ihn auf der Flucht erschießen lassen.«

Humphries ging ums Podium herum und näherte sich ihr mit ausgestreckten Armen.

»Amanda«, sagte er, »es ist alles vorbei. Fuchs hat sich sein eigenes Grab geschaufelt und …«

»Und Sie werden dafür sorgen, dass er auch hineingelegt wird.«

»Ich bin nicht dafür verantwortlich!« In diesem Moment glaubte er fast selbst daran.

Amanda stand regungslos da. Die Arme baumelten seitlich herunter, und sie hatte suchend den Blick auf ihn gerichtet. Er wünschte, er hätte gewusst, wonach sie suchte.

»Was wollen Sie überhaupt von mir?«, fragte er sie.

Zunächst sagte sie nichts. »Sie sollen mir versprechen, dass Sie nicht zulassen, dass ihm irgendetwas zustößt.«

»Die Felsenratten werden ihn wegen Mordes vor Gericht stellen.«

»Das ist mir klar«, sagt Amanda. »Ich will auch nur Ihr Versprechen, dass Sie ihm nichts tun werden.«

Er zögerte und fragte dann kalt: »Und womit werden Sie sich für mein Versprechen revanchieren?«

»Ich werde mit Ihnen ins Bett gehen«, sagte Amanda. »Das ist es doch, was Sie wollen, nicht wahr?«

»Nein!«, stieß er hervor. »Ich will dich heiraten, Amanda. Ich liebe dich! Ich möchte dir … alles geben, was du dir immer gewünscht hast.«

»Alles, was ich will, ist Lars’ Sicherheit«, erwiderte sie.

»Und nicht mich?«

»Das bin ich Lars schuldig. All das ist schließlich nur wegen mir passiert, nicht wahr?«

Er wollte lügen, wollte ihr sagen, dass er alles, was er getan hatte, nur für sie allein getan hatte. Aber dazu war er nicht imstande. Er brachte es nicht über sich, ihr ins Gesicht zu lügen.

»Sie waren ein Teil davon, Amanda. Aber eben nur ein Teil. So oder so ähnlich wäre es auf jeden Fall gekommen.«

»Aber Lars wäre dann nicht in diesen ganzen Schlamassel hineingeraten, oder?«

»Wahrscheinlich nicht«, pflichtete Humphries ihr bei.

»Dann werde ich Sie heiraten, wenn es das ist, was Sie wollen. Im Gegenzug für Ihr Versprechen, Lars in Ruhe zu lassen.«

Humphries Kehle war plötzlich trocken und wie ausgedörrt. Er nickte stumm.

»Nun haben Sie alles, was Sie wollen, nicht wahr?«, sagte Amanda. Es lag keine Schärfe in ihrer Stimme, keine Spur von Zorn oder Bitterkeit. Und nun erkannte Humphries auch, welche Veränderung mit ihr vorgegangen war. Sie ist nicht mehr das unschuldige, naive Mädchen, das sie einmal war. Diese blauen Augen lächeln nicht mehr, sondern sie kalkulieren.

Er fand keine Worte. Er wollte sie aufmuntern und ihr ein Lächeln entlocken. Aber er fand keine Worte.

»Nun haben Sie endlich, was Sie wollten, oder?«, fragte Amanda.

»Aber nicht so«, sagte er, nachdem er die Sprache wieder gefunden hatte. Und das war die Wahrheit. »Nicht im Rahmen einer … einer Vereinbarung.«

Amanda zuckte die Achseln. »So läuft das eben, Martin. Und wir beide können rein gar nichts daran ändern. Ich werde Sie heiraten, wenn Sie schwören, dass Sie Lars nichts tun werden.«

Er leckte sich die Lippen. »Er wird trotzdem in Ceres vor Gericht gestellt werden. Das kann ich nicht verhindern.«

»Das weiß ich«, sagte sie. »Und ich akzeptiere es.«

»Also gut.«

»Ich will hören, wie Sie es sagen, Martin. Ich will Ihr Versprechen — hier und jetzt.«

Humphries richtete sich zu seiner vollen Größe auf und sagte: »In Ordnung. Ich verspreche dir, Amanda, dass ich nichts tun werde, womit ich Lars Fuchs in irgendeiner Weise schade.«

»Sie werden auch sonst niemandem den Befehl geben, ihm etwas anzutun.«

»Ich schwöre es dir, Amanda.«

Die Luft schien aus ihr zu entweichen. »Na schön. Ich werde Sie heiraten, sobald die Scheidung durch ist.«

Oder sobald du Witwe geworden bist, sagte Humphries sich. »Und nun ist es an dir, ein Versprechen zu geben, Amanda«, sagte er.

Besorgnis blitzte in ihren Augen auf. Dann verstand sie. »Ach so. Ja, ich verspreche Ihnen, dass ich Ihre liebende Frau sein werde, Martin. Wir werden keine bloße Scheinehe führen.«

Bevor er sie an den Händen fassen konnte, machte sie kehrt und ging aus dem Konferenzraum. Er blieb allein zurück. Im ersten Moment fühlte er sich zurückgewiesen, getäuscht, beinahe zornig. Doch dann dämmerte es ihm, dass Amanda ihm die Heirat versprochen und einen Liebesschwur geleistet hatte. Das war zwar nicht die ›Siebter Himmel‹-Romantik, von der er all die Jahre phantasiert hatte, aber sie hatte versprochen, ihn zu heiraten! Gut, im Moment ist sie eingeschnappt. Ich habe sie gezwungen, und das gefällt ihr nicht. Sie fühlt sich Fuchs gegenüber verpflichtet. Aber das wird sich schon noch ändern. Mit der Zeit wird sie es akzeptieren. Sie wird mich akzeptieren. Sie wird mich lieben lernen. Ich weiß es.

Plötzlich stieß Humphries ein lautes Lachen aus und tanzte wie ein liebestoller Teenager um den Konferenztisch herum. »Ich hab sie!«, rief er zur Decke. »Ich habe alles, was ich immer wollte! Das ganze erbärmliche Sonnensystem ist in meiner Hand!«


* * *

Big George fand, dass sie Glück gehabt hatten, einen Flug an Bord eines HSS-Schiffs zu ergattern, das auf einer hochenergetischen Flugbahn nach Ceres unterwegs war.

»Wir werden in vier Tagen da sein«, sagte Kris Cardenas, als sie Fertiggerichte aus der Tiefkühltruhe der Bordküche holten.

Cardenas sah die Sache eher nüchtern. »Wieso schickt Humphries dieses Schiff auf einen Hochgeschwindigkeitsflug nach Ceres? Es ist praktisch leer. Wir sind die einzigen Passagiere, und es ist auch keine Fracht an Bord, soweit ich weiß.«

George schob sein Essen in die Mikrowellen und sagte: »Nach dem, was die Besatzung sich so erzählt, wollen sie den Kerl aufnehmen, der Lars gefangen hat.«

Besorgnis flackerte in Cardenas’ blauen Augen auf. »Darum geht es also! Eine triumphale Rückkehr für den siegreichen Helden.«

»Das ist nicht lustig, Kris. Wir müssen Lars vor Gericht stellen, weißte. Er hat Menschen getötet.«

»Ich weiß«, sagte sie niedergeschlagen.

Die Mikrowelle bimmelte.

»George«, fragte sie, »gibt es irgendeine Möglichkeit, wie wir Lars’ Hals retten können?«

»Sicher«, sagte er und holte das Gericht heraus. »Man könnte ihn zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilen. Oder vielleicht für hundert Jahre in einen Kryonik-Tank stecken.«

»Mal im Ernst«, sagte Cardenas.

George setzte sich an den kleinen Tisch in der Bordküche und packte die dampfende Mahlzeit aus. »Weiß nicht, was wir für ihn tun können, außer ihm eine faire Verhandlung zu garantieren. Er hat sich eine Menge Feinde gemacht, weißte.«

Sie warf ihr Fertiggericht wieder in die Tiefkühltruhe und setzte sich missmutig neben ihn. »Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, ihn zu retten.«

George war schon mit dem Essen beschäftigt und versuchte das Thema zu wechseln. »Wir werden für Lars tun, was wir können. Aber, weißte, ich frage mich schon die ganze Zeit … wieso entwickelst du denn keine Nanomaschinen, um das Erz aus den Asteroiden herauszuholen und an Ort und Stelle zu verarbeiten? Das Schürfen würde zum Kinderspiel.«

»Dann würden fast alle Bergleute auf einen Schlag arbeitslos werden.«

»Vielleicht«, sagte George. »Aber wir könnten ihnen doch Anteile an der Nanotech-Unternehmung verkaufen. Auf diese Weise würden sie abgefuckte Kapitalisten und müssten keine Drecksarbeit mehr machen.«


* * *

Harbin eskortierte Fuchs persönlich von der Shanidar zur Untergrundsiedlung auf Ceres. Fuchs trug zwar keine Handschellen oder Fesseln, aber er wusste auch so, dass er ein Gefangener war. Harbin hatte zwei seiner größten Männer dabei; er wollte kein Risiko eingehen.

Während sie im Zubringer zur Asteroidenoberfläche abstiegen, machte Fuchs das unvollendete Habitat aus, das gemächlich am Sternenhimmel rotierte. Ob es jemals fertig wird, fragte er sich. Werden sie jemals so leben können, wie ich es für Amanda und mich geplant hatte?

Amanda. Der Gedanke an sie sog die ganze Kraft aus ihm heraus. Wenigstens ist sie in Sicherheit, sagte Fuchs sich. Ja, sagte eine spöttische Stimme im Hinterkopf. Sie wird sicher wie in Abrahams Schoß sein, wenn sie Humphries erst geheiratet hat. Der alte Zorn schien wieder in ihm aufzulodern, doch es blieb bei diesem Strohfeuer, und er wurde wieder von der schieren Aussichtslosigkeit seiner Lage überwältigt. Er hat sie für sich gewonnen, und ich habe sie verloren.

Als sie durch die Luftschleuse in den Empfangsbereich traten, sah Fuchs, dass er von einer Gruppe aus vier Frauen und drei Männern erwartet wurde. Er kannte sie alle: ehemalige Nachbarn, ehemalige Freunde.

»Wir übernehmen ihn jetzt«, sagte Joyce Takamine. Ihr hageres schlitzäugiges Gesicht war völlig ausdruckslos. Sie vermied es, Fuchs in die Augen zu schauen.

»Wohin bringen Sie ihn?«, wollte Harbin wissen.

»Er steht unter Hausarrest«, erwiderte Takamine steif, »bis unser Chef-Administrator zurückkehrt. Dann wird er wegen Piraterie und Mordes vor Gericht gestellt.«

Harbin bekundete mit einem Kopfnicken seine Zustimmung und übergab ihnen Fuchs. Geschafft, sagte er sich. Ich habe meine Arbeit getan. Nun will ich mir die Belohnung abholen.

Er führte seine beiden Leute zum Humphries-Büro, das sich nur ein paar Schritte entfernt im staubigen Tunnel befand. Dort erhob eine lächelnde junge Frau sich hinter ihrem Metallschreibtisch und begleitete das Trio persönlich zu ihren Unterkünften tiefer im Labyrinth aus Tunnels und Räumlichkeiten. Die beiden Männer mussten sich einen Raum teilen, aber Harbin bekam ein Apartment für sich allein. Es war zwar nur ein Raum, aber er war wenigstens ungestört. Jemand hatte sogar seine Reisetasche hergebracht und aufs Bett gestellt.

Eine Nachricht von Diane wartete auf ihn.

Sie hätte eigentlich einen fröhlichen und glücklichen Eindruck machen müssen, sagte Harbin sich, hätte ihren Sieg und seinen Triumph auskosten müssen. Stattdessen wirkte ihr Gesicht auf dem Wandbildschirm ernst, um nicht zu sagen todernst.

»Dorik, ich habe einen Hochgeschwindigkeitsflug für dich arrangiert. Ich möchte, dass du so schnell wie möglich nach Selene kommst. Wo du Fuchs nun zur Strecke gebracht hast, haben wir eine Menge zu erledigen — uns beiden stehen große Veränderungen bevor. Ich werde dir alles erzählen, wenn du hier bist.«

Der Bildschirm wurde dunkel. Harbin starrte ihn für eine Weile an; mit keinem einzigen Wort hatte sie ihm gratuliert, mit keiner einzigen Silbe hatte sie ein warmes Gefühl für ihn ausgedrückt. Allerdings hat sie auch nie gesagt, dass sie mich liebt.

Er ging zum Bett und setzte sich. Er war plötzlich müde. Liebe habe ich auch nie erwartet, sagte er sich. Bisher nicht, wurde er sich bewusst. Er öffnete die Reisetasche und suchte nach den Pillen, die ihm Seelenfrieden bringen würden — jedenfalls für eine Weile.

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