Kapitel 43

Vierzehn Monate später

Sie hatte wieder ihren Mädchennamen angenommen: Amanda Cunningham. Nicht dass sie ihre Ehe mit Lars Fuchs hätte verleugnen wollen; jeder auf Ceres und jede Felsenratte im Gürtel wusste schließlich, dass sie seine Frau war. Doch seit Fuchs in den Tiefen des Alls verschwunden war, hatte sie daran gearbeitet, sich selbstständig zu machen und ihre Ziele zu erreichen.

Sie verkaufte die Helvetia GmbH für einen Apfel und ein Ei an die Astro-Corporation. Wenigstens einmal siegte Pancho über Humphries und überzeugte den Astro-Vorstand, dass dies ein Geschäft war, das sie nicht ablehnen konnten.

»Zumal«, wie Pancho dem Vorstand erläuterte und dabei Humphries direkt anschaute, der ihr am Tisch gegenübersaß, »wir dort draußen im Gürtel präsent sein sollten. Dort sind die natürlichen Ressourcen, und mit ihnen ist richtig Geld zu verdienen.«

Amanda war froh, Helvetia endlich los zu sein. Sie sah, wie Pancho das Lagerhaus in eine profitable Einrichtung für die Versorgung, Reparatur und Wartung der Schiffe verwandelte, die den Gürtel durchpflügten. Sie lebte von den Dividenden der Astro-Aktien, die sie für den Verkauf bekommen hatte, und konzentrierte ihre Anstrengungen auf ein anderes Ziel — eins, das ursprünglich Lars’ Ziel gewesen war: seine Vision, dass die Felsenratten eine Art Regierung bildeten, damit endlich Recht und Gesetz Einzug auf Ceres hielten. Die individualistischen Prospektoren und Bergleute waren zunächst strikt gegen jede Art von Regierung gewesen. Sie betrachteten Gesetze nämlich als Eingriff in ihre persönliche Freiheit und Regeln als Beeinträchtigung ihrer wilden ›Freizeitaktivitäten‹ auf Ceres.

Doch als immer mehr Schiffe angegriffen wurden, dämmerte ihnen schließlich, wie verletzlich sie waren. Ein Krieg tobte im Gürtel, wobei HSS die Unabhängigen angriff und sie aus dem Gürtel zu vertreiben versuchte, während Fuchs als Einzelkämpfer HSS-Schiffe aufs Korn nahm und wie aus dem Nichts auftauchte, um sie manövrierunfähig zu schießen oder gleich ganz zu zerstören.

In Selene sprang Martin Humphries vor Sorge und Frustration förmlich im Dreieck, weil seine Kosten für die Operationen im Gürtel schier explodierten. Es wurde immer kostspieliger, Besatzungen für den Dienst auf HSS-Schiffen zu verpflichten, und weder die IAA noch Harbin oder einer der anderen Söldner, die Humphries anheuerte, vermochten Fuchs aufzuspüren und ihn zu töten.

»Sie helfen ihnen!«, echauffierte Humphries sich immer wieder. »Diese gottverdammten Felsenratten gewähren ihm Unterschlupf, versorgen ihn mit Nachschub und helfen ihm dabei, meine Schiffe außer Gefecht zu setzen.«

»Es ist sogar noch schlimmer«, sagte Diane Verwoerd. »Die Felsenratten bewaffnen ihre Schiffe und schließen zurück — auch wenn sie in den meisten Fällen das Ziel noch verfehlen. Aber es wird für uns immer gefährlicher da draußen.«

Humphries heuerte dennoch weitere Söldner an, um seine Schiffe zu schützen und Lars Fuchs aufzuspüren. Doch ohne Erfolg.

Die Leute, die wie Amanda ständig auf Ceres lebten — die Wartungstechniker, Lagerhausbetreiber und Geschäftsleute, die Barbesitzer und sogar die Prostituierten — erkannten allmählich, dass sie dringend eine Art von Recht und Gesetz brauchten. Ceres wurde zu einem gefährlichen Ort. Söldner und Verbrecher trieben sich in den staubigen Tunnels herum und bedrohten das Leben eines jeden, der ihnen über den Weg lief. Sowohl HSS und Astro heuerten ›Sicherheits‹-Leute an, um ihre Anlagen und Schiffe zu schützen. Oft genug bekämpften die Sicherheitsleute sich jedoch gegenseitig in den Tunnels, im Pub, in den Lagerhallen und Werkstätten.

Big George Armstrong kehrte nach Ceres zurück. Sein Arm war nachgewachsen, und er hatte einen Arbeitsvertrag mit Astro als technischer Leiter.

»Das Erzschürfen hat sich für mich erledigt«, sagte er zu seinen Freunden im Pub. »Ich bin nun ein abgefuckter Manager.«

Für eine handfeste Kneipenschlägerei war er aber immer noch zu haben. Männer und Frauen gleichermaßen bewaffneten sich zur Verteidigung mit Handlasern.

Schließlich gelang es Amanda, die Zustimmung des größten Teil von Ceres’ Bevölkerung zu einer ›Gemeinde-versammlung‹ einzuholen, an der alle Erwachsenen teilnehmen durften, die auf dem Asteroiden lebten. Es waren so viele, dass der Pub als Versammlungsort zu klein gewesen wäre; deshalb wurde die Zusammenkunft auf elektronischem Weg abgehalten, wobei alle Teilnehmer in ihren Quartieren blieben und durch das interaktive Telefonsystem miteinander verbunden waren.

Amanda trug das türkisfarbene Kleid, das sie in Selene gekauft hatte, während sie in ihrer Unterkunft am Schreibtisch saß und den Wandbildschirm im Auge hatte. Unten im Kommunikationszentrum fungierte Big George als Moderator der Versammlung; er bestimmte, wer zur Gruppe sprach und in welcher Reihenfolge. Er hatte auf Amandas Drängen hin versprochen, dass jeder, der sich zu Wort melden wollte, auch die Gelegenheit dazu bekam. »Es wird aber eine verdammt lange Nacht werden«, erklärte er.

Und das wurde sie auch. Es hatte nämlich jeder etwas zu sagen, obwohl in vielen Fällen Ideen und Positionen nur wiedergekäut wurden, die schon mehrmals thematisiert worden waren. Während der ganzen langen Versammlung — die zuweilen lebhaft, überwiegend aber langweilig war —, blieb Amanda an ihrem Platz und hörte jedem Teilnehmer aufmerksam zu.

Ihre Agenda war einfach: »Wir brauchen hier auf Ceres eine Art von Regierung, eine Sammlung von Gesetzen, nach denen wir alle leben können. Andernfalls wird die Gewalt weiter eskalieren, bis die IAA oder die Friedenstruppen oder eine andere externe Gruppe einschreitet und den Laden hier übernimmt.«

»Mit größter Wahrscheinlichkeit wäre es HSS«, sagte ein griesgrämiger Prospektor, der auf Ceres festsaß, während sein beschädigtes Schiff repariert wurde. »Sie versuchen nun schon seit Jahren, uns zu übernehmen.«

»Oder Astro«, erwiderte ein HSS-Techniker hitzig.

George entzog beiden das Wort, bevor die Versammlung durch einen Streit gestört wurde. »Privatgespräche können auf einem anderen Kanal geführt werden«, sagte er jovial und schaltete zur schmalgesichtigen, falkenäugigen Joyce Takamine, die wissen wollte, wann das Habitat endlich fertig gestellt wurde. Sie wollte dort hinaufziehen, um endlich aus diesem staubigen Rattenloch rauszukommen.

Amanda nickte verständnisvoll. »Das Habitat befindet sich in der Lage, die früher als eine so genannte Catch-22-Situation bezeichnet wurde«, erwiderte sie. »Diejenigen von uns, die es fertig stellen wollen, damit wir endlich einziehen können, haben nicht die Mittel, um die Arbeit zu vollenden. Und diejenigen, die die Mittel hätten — zum Beispiel Astro und HSS?? sind nicht daran interessiert, sie in die Fertigstellung des Habitats zu investieren.«

»Wie dem auch sei, es sollte etwas unternommen werden«, sagte Takamine mit fester Stimme.

»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagt Amanda. »Damit können wir uns beschäftigen, wenn wir eine Regierung haben, die das organisiert.«

Fast eine Stunde später stellte der Inhaber des Pubs die entscheidende Frage: »Und woher sollen wir das Geld für eine Regierung und eine Polizei nehmen? Ganz zu schweigen von der Fertigstellung des Habitats. Das wird im Endeffekt bedeuten, dass wir Steuern zahlen müssten, nicht wahr?«

Amanda hatte mit dieser Frage schon gerechnet. Sie war sogar froh, dass der Mann sie gestellt hatte.

Als sie die Nachricht sah, die auf ganzer Breite unten auf dem Wandbildschirm eingeblendet wurde, sagte sie liebenswürdig: »Wir müssen keine Steuern zahlen. Das tun stattdessen die Konzerne.«

George selbst stellte die Frage, die in diesem Moment jeden umtrieb: »Hä?«

»Wenn wir eine Regierung hätten«, erklärte Amanda, »könnten wir sie mit einer geringen Steuer auf die Umsätze finanzieren, die HSS und Astro und die anderen Konzerne hier auf Ceres tätigen.«

George brauchte ein paar Sekunden, um die Flut der eingehenden Anrufe zu sortieren, und dann erschien das Bild eines grimmigen Prospektors auf ihrem Wandbildschirm.

»Wenn ihr den Konzernen eine Mehrwertsteuer auferlegt, werden sie die einfach durch eine Preiserhöhung auf uns abwälzen.«

Amanda nickte und sagte: »Ja, das stimmt. Aber es wird nur eine geringfügige Erhöhung sein. Eine Steuer von einem Prozent würde zehntausend Internationale Dollar bei einem Umsatz von einer Million Dollar bringen.«

Ohne auf den nächsten Anrufer zu warten, fuhr Amanda fort: »HSS allein hat in der letzten Woche Umsätze in Höhe von siebenundvierzig Millionen Dollar getätigt. Das sind fast zweieinhalb Milliarden Dollar pro Jahr, was wiederum bedeutet, dass eine Steuer von einem Prozent uns allein durch die HSS-Umsätze einen steuerlichen Ertrag von über vierundzwanzig Millionen Dollar bescheren würde.«

»Könnten wir das Habitat mit diesen Einkünften überhaupt fertig stellen?«, fragte der nächste Anrufer.

»Ja«, erwiderte Amanda. »Mit diesen gesicherten Einkünften könnten wir von den Banken auf der Erde sogar Kredite bekommen, um das Habitat fertig zu stellen — wie auch andere Regierungen Kredite zur Finanzierung ihrer Programme aufnehmen.«

Die Versammlung zog sich bis ein Uhr morgens hin, doch als sie beendet war, sagte Amanda sich müde, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Die Menschen auf Ceres waren bereit, für eine Regierungsbildung zu stimmen.

Solange Martin Humphries uns nicht dazwischenfunkt, sagte sie sich.

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