Kapitel 33

»Dann hat er also eine Anhörung bei der IAA«, sagte Humphries, während er sich einen Wodka-Tonic mixte.

Die Bar in seinem palastartigen Heim war ein großzügiger Raum, der zugleich als Bibliothek diente. Bis zur Decke reichende Bücherregale zogen sich an zwei Wänden entlang. An einer dritten Wand verliefen Regale mit Video-DVDs und Cyberbook-Chips; sie waren um zwei Holofenster angeordnet, die außerirdische Szenerien aus langsam sich verändernden Perspektiven zeigten.

Humphries hatte jedoch kein Auge für den wunderschönen Sonnenuntergang auf dem Mars oder die stürmisch quirlende Wolkendecke des Jupiter. Seine Gedanken galten einzig und allein Lars Fuchs.

»Die Anhörung wird in der IAA-Niederlassung hier in Selene stattfinden«, sagte Diane Verwoerd. Sie saß auf einem gepolsterten Hocker an der edlen Mahagoni-Bar und hielt ein schlankes, hohes Glas mit giftgrünem Pernod und Wasser in der Hand.

Verwoerd war mit Humphries allein im Raum. Sie trug noch immer die Bürokleidung: Eine weiße ärmellose Rundhalsbluse unter einem kastanienfarbenen Blazer und eine schwarze Hose, die ihre langen Beine betonte. Humphries hatte sich bereits für den Feierabend umgezogen und war mit einem lässigen T-Shirt und sandfarbenen Chinos bekleidet.

»Bringt er auch seine Frau mit?«, fragte Humphries und trat hinter der Bar hervor.

»Wahrscheinlich.« Verwoerd drehte sich auf dem Hocker und schaute ihm nach, wie er zwischen den Reihen der in Leder gebundenen Bücher entlangschlenderte.

»Sie wissen es nicht mit Bestimmtheit?«

»Ich könnte es aber leicht herausfinden«, sagte sie.

»Er würde sie niemals auf diesem Felsen zurücklassen«, murmelte Humphries.

»Es hat Ihnen nicht gut getan, als er sie das letzte Mal mitbrachte.«

Er warf ihr einen giftigen Blick zu.

»Wir haben auch ganz andere Sorgen«, sagte Verwoerd. »Dieser Harbin.«

Humphries’ Gesichtsausdruck änderte sich. Freundlicher wurde er allerdings nicht, sondern nahm nur eine andere Ausprägung von Zorn an.

»Deshalb wollten Sie unter vier Augen mit mir sprechen«, sagte er.

Sie wölbte leicht eine Braue. »Ja, aus diesem Grund habe ich Ihre Einladung auf einen Drink angenommen.«

»Aber nicht zum Abendessen.«

»Ich habe schon andere Pläne für heute Abend«, sagte sie. »Außerdem sollten Sie sich mit Harbin beschäftigen. Und zwar intensiv.«

»Wie ist die Lage?«

Sie nippte am Drink und stellte das Glas dann sachte auf die Bar. »Offensichtlich ist es ihm nicht gelungen, Fuchs zu eliminieren.«

»Nach dem, was ich gehört habe, hätte Fuchs beinahe ihn eliminiert.«

»Sein Schiff wurde beschädigt, und er musste den Angriff auf die Starpower abbrechen. Anscheinend hatte Fuchs ihn schon erwartet; zumindest glaubt Harbin das.«

»Es interessiert mich einen feuchten Kehricht, was er glaubt. Ich bezahle ihn für Resultate, und er hat versagt. Und nun muss ich mit ansehen, wie die idiotische IAA ihn in die Mangel nimmt.«

Humphries trat gegen eine Ottomane, die ihm im Weg stand, und ließ sich auf das Sofa gegenüber der Bar sinken. Sein Gesicht war ein Bild puren Abscheus.

»Sie müssen sich auch um Harbin kümmern.«

»Was?« Er schaute finster zu ihr auf. »Wie meinen Sie das?«

»Er weiß genug, um Ihnen zu schaden. Schwer zu schaden.«

»Er hat mich doch nie zu Gesicht bekommen. Er hatte nur mit Grigor zu tun.«

»Wenn Harbin der IAA erzählt, was er getan hat«, sagte Verwoerd wie zu einem begriffsstutzigen Kind, »was glauben Sie wohl, wen man verantwortlich machen wird — Grigor oder Sie?«

»Sie können aber nicht …«

»Meinen Sie nicht, dass sie intelligent genug sind, um zu wissen, dass Grigor niemals Angriffe auf Prospektorenschiffe autorisieren würde, wenn Sie ihm nicht den Befehl dazu gegeben hätten?«

Humphries machte den Eindruck, als ob er ihr sein Glas an den Kopf werfen wollte. Der Bote, der eine schlechte Nachricht überbringt, lebt gefährlich, sagte Verwoerd sich.

»Dann werden Sie auch Harbin eliminieren müssen«, sagte er. »Vielleicht sogar Grigor.«

Und dann mich?, fragte Verwoerd sich. »Harbin hat diese Möglichkeit auch schon in Betracht gezogen«, entgegnete sie laut. »Er behauptet, er habe Kopien vom Logbuch seines Schiffs an Freunde auf der Erde geschickt.«

»Unsinn! Wie hätte er denn …«

»Bündellaser-Verbindungen. Codierte Daten. Das geschieht jeden Tag. Auf diese Art hatte er auch mit unseren Tankern draußen im Gürtel kommuniziert.«

»Ist das denn die Möglichkeit — Nachrichten über diese große Entfernungen zur Erde zu schicken?«

Verwoerd griff wieder zu ihrem Drink. »Das geschieht jeden Tag«, wiederholte sie.

»Er blufft doch nur«, nuschelte Humphries.

Sie rutschte vom Hocker und ging zum Sofa, wo er saß. Sie richtete die Ottomane mit dem Fuß aus und setzte sich darauf. Dann beugte sie sich zu ihm hinüber, die Arme auf die Knie gestützt und den Drink in beiden Händen.

»Selbst wenn er bluffen sollte, können wir dieses Risiko trotzdem nicht eingehen. Ihn zu eliminieren wird nicht leicht sein. Er ist ein gut ausgebildeter Soldat und ein zäher Hund.«

»Er kommt mit einem HSS-Schiff nach Selene, nicht wahr?«, konstatierte Humphries. »Die Besatzung kann ihn doch unterwegs abservieren.«

Verwoerd seufzte wie eine Lehrerin, die es mit einem Schüler zu tun hatte, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. »Dann wären es gleich ein halbes Dutzend Leute, die etwas gegen Sie in der Hand hätten. Zumal ich glaube, dass nicht einmal die ganze Besatzung etwas gegen ihn ausrichten könnte. Wie gesagt, er ist gut trainiert und zäh. Die Lage könnte kritisch werden, wenn wir versuchen, ihn zu beseitigen.«

»Wie lautet Ihre Empfehlung?«, fragte er verdrießlich.

»Lassen Sie mich mit ihm sprechen — persönlich.«

»Sie?«

Sie nickte. »Halten Sie Grigor da raus. Harbin rechnet sicher damit, dass wir ihn aus dem Weg räumen wollen — vor allem, da er bei Fuchs versagt hat und genug weiß, um uns alle vor Gericht zu bringen. Lassen Sie mich ihn vom Gegenteil überzeugen. Ich werde ihm einen Bonus anbieten und ihn mit einem dicken Bankkonto zur Erde zurückschicken.«

»Damit er mich für den Rest seines Lebens erpressen kann.«

»Ja, natürlich. Genau das wird er glauben. Und wir werden ihn auch in diesem Glauben lassen, bis er auf der Erde einen Erpressungsversuch startet. Nur dass er dann schutzlos ist.«

Humphries’ Lippen kräuselten sich in einem listigen Lächeln.

»Delilah«, murmelte er.

Verwoerd sah, dass er mit ihrem Plan zufrieden war. Sie nahm einen kräftigen Schluck vom Pernod mit Lakritzaroma und pflichtete ihm dann bei: »Delilah.«

»Werden Sie auch mit ihm ficken?«, fragte Humphries mit einem sardonischen Lächeln.

Sie zwang sich, das Lächeln zu erwidern. »Wenn es sein muss.«

Und dann sagte sie sich: Du weißt noch nicht, wer hier Federn lassen wird, Martin. Jeder ist irgendwo angreifbar; selbst jemand wie du.


* * *

Fuchs hatte sich vor diesem Moment gefürchtet. Aber er hatte gewusst, dass er kommen würde. Es führte kein Weg daran vorbei. Der IAA-Vertreter würde schon in wenigen Stunden auf Ceres eintreffen.

Er schickte sich an, die Reisetasche für den Flug nach Selene zu packen. Als Amanda ihre Tasche aus dem Schrank holte und sie neben seiner aufs Bett legte, sagte er ihr, dass er ohne sie fliegen würde.

»Wie meinst du das?«, fragte Amanda. Sein Entschluss schockierte sie offensichtlich.

»Genauso, wie ich es sage. George, Nodon und ich werden gehen. Ich möchte, dass du hier bleibst.«

Sie schaute verwirrt und verletzt. »Aber, Lars, ich …«

»Du wirst nicht mit mir gehen!«, sagte Fuchs scharf.

Amanda war schockiert angesichts seiner Schroffheit. Sie starrte ihn mit offenem Mund an, als ob er ihr ins Gesicht geschlagen hätte.

»Das ist endgültig«, sagte er barsch.

»Aber,Lars …«

»Kein ›aber‹ und keine Diskussion mehr«, sagte er. »Du bleibst hier und leitest das, was vom Geschäft noch übrig ist, während ich in Selene bin.«

»Lars, du kannst nicht ohne mich gehen. Ich werde dich nicht gehen lassen!«

Er versuchte sie mit seinem Blick zur Räson zu bringen. Das ist der härteste Teil, wurde er sich bewusst. Ich muss sie so verletzen, weil es einfach keine andere Möglichkeit gibt.

»Amanda«, sagte er und versuchte streng zu klingen, versuchte seine Zweifel und Schmerzen aus der Stimme, aus dem Gesicht zu verdrängen. »Ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich brauche dich hier. Ich bin kein kleiner Junge mehr, der ständig am Schürzenzipfel seiner Mutter hängt.«

»Deine Mutter!«

»Was auch immer«, sagte er. »Ich werde jedenfalls ohne dich fliegen.«

»Aber wieso?«

»Weil ich es so will«, sagte er mit erhobener Stimme. »Ich weiß, du glaubst, dass ich in deiner Gegenwart sicher wäre und dass Humphries mich nicht angreifen würde, weil er glaubt, dann auch dich zu treffen. Papperlapapp! Ich brauche deinen Schutz nicht. Ich will ihn nicht.«

Sie brach in Tränen aus und floh auf die Toilette; er blieb voller Seelenqualen neben dem Bett stehen.

Wenn er mich wirklich töten will, wird es ihm egal sein, ob Amanda bei mir ist oder nicht. Je mehr ich ihm zusetze, desto verzweifelter wird er. Sie wird hier sicherer sein — unter Freunden und Menschen, die ihr vertraut sind. Er hat es schließlich auf mich abgesehen, nicht auf sie. Ich werde ihm ohne sie gegenübertreten. Das ist besser so.

Er war sich sicher, dass er Recht hatte. Wenn er sie nur nicht hinter der Tür hätte weinen hören.


* * *

Hector Wilcox fühlte sich äußerst unbehaglich auf dem Flug zum Mond. Schon der Transfer vom Münchner Raumhafen war ihm trotz allen guten Zuredens der Mitarbeiter der Astro Corporation ein Graus gewesen. Der kompakte, kleine Raumclipper mutete ihn noch robust genug an, als er ihn bestieg. Der Flugbegleiter, der ihn zu seinem Platz führte, schwadronierte über die diamantene Hülle des Schiffs und die mittlerweile sprichwörtliche Zuverlässigkeit der Raumclipper. Alles schön und gut, sagte Wilcox sich. Er schnallte sich auf seinem Platz an — für den Flug gerüstet mit ein paar Whiskys vor sich und einem Medikamentenpflaster in der Armbeuge, um ihn von der Raumkrankheit zu schützen. Dann umklammerte er die Armlehnen des Sitzes und lauschte mit zunehmender Besorgnis dem Countdown.

Der Start war die reinste Qual für ihn. Es war wie eine Explosion, die ihn bis in die Grundfesten erschütterte. Er wurde auf dem Sitz zusammengestaucht, und ehe ihm noch eine Unmutsbekundung über die Lippen kam, war er schon schwerelos und zerrte am Sicherheitsgurt. Der Magen drohte ihm trotz des Pflasters in die Kehle hinaufzusteigen. Er schluckte Galle und griff nach den Papiertüten, die in der Tasche an der Rückenlehne des Vordersitzes steckten.

Als der Raumclipper an der Raumstation angelegt hatte, wünschte Wilcox sich, dass er darauf bestanden hätte, die verdammte Anhörung auf der Erde abzuhalten. Es waren viele lächelnde uniformierte Astro-Stewards zugange, um ihm aus dem Raumclipper in den Zubringer zu helfen, mit dem er den Rest der Strecke zum Mond zurücklegen würde. Wilcox stöhnte in der Schwerelosigkeit; er ließ sich von ihnen wie ein hilfloser Invalide abführen und im Zubringer — der wesentlich unkomfortabler war als der Raumclipper — auf einem Sitz platzieren.

Wenigstens stellte sich ein leichtes Gefühl der Schwere ein, als der Zubringer den Hochgeschwindigkeitsflug zum Mond startete. Jedoch ließ dieses Gefühl allzu schnell wieder nach, und für die nächsten paar Stunden fragte Wilcox sich, ob er diese Reise überhaupt überleben würde.

Allmählich fühlte er sich jedoch besser. Das flaue Gefühl im Magen legte sich, und der Druck hinter den Augen wurde gelindert. Wenn er nicht den Kopf drehte und abrupte Bewegungen machte, war die Schwerelosigkeit sogar fast angenehm.

Nachdem sie auf dem Raumhafen Armstrong in Selene gelandet waren, vermittelte die leichte Mondschwerkraft Wilcox ein erneutes Gefühl für ›oben‹ und ›unten‹. Er vermochte ohne fremde Hilfe den Sicherheitsgurt zu lösen und sich vom Sitz zu erheben. Anfangs stolperte er zwar, doch nachdem er durch den Zoll gegangen war und ein paar Stiefel mit Bleibeschwerung ausgeliehen hatte, fühlte er sich fast normal.

Die beruhigende Eleganz der Lobby des Hotels Luna vermittelte Wilcox sogar noch stärker das Gefühl, zu Hause zu sein. Er hatte ein Faible für stillen Luxus, und obwohl die Lobby stellenweise etwas heruntergekommen wirkte, vermittelte die Atmosphäre dieses Orts ihm trotzdem ein Gefühl der Sicherheit. Die örtlichen IAA-Fritzen hatten die beste Suite im Hotel von Selene für ihn reserviert. Ein Hotelangestellter brachte ihn zur Suite, packte das Gepäck für ihn aus und verweigerte sogar höflich die Annahme des Trinkgelds, das Wilcox ihm geben wollte. Das Hotelpersonal hatte alles für ihn vorbereitet, einschließlich einer gut bestückten Bar. Ein ordentlicher Schluck Whisky, und Wilcox fühlte sich fast wieder wie ein Mensch. Es werden keine Kosten gescheut, sagte er sich und ließ den Blick durch das gediegene Wohnzimmer schweifen, solange der Steuerzahler die Brieftasche öffnen muss und nicht ich.

Plötzlich klopfte es, und bevor Wilcox noch etwas zu sagen vermochte, glitt die Tür auf, und ein livrierter Kellner schob einen mit abgedeckten Speisen und einem halben Dutzend Flaschen Wein beladenen Servierwagen herein.

»Das habe ich doch gar nicht bestellt …«, sagte Wilcox verwirrt.

Und dann kam Martin Humphries mit einem strahlenden Lächeln hereinspaziert.

»Ich sagte mir, dass Sie ein gutes Mahl wohl zu schätzen wüssten«, sagte Humphries. »Das Essen kommt aus meiner eigenen Küche und nicht aus der Hotelküche.« Er wies auf die Flaschen und fügte hinzu: »Und die sind aus meinem Weinkeller.«

»Na so was, Martin«, sagte Wilcox mit einem erfreuten Lächeln. »Das ist wirklich nett von Ihnen.«

»Man sollte uns besser nicht in einem öffentlichen Restaurant zusammen sehen«, erklärte Humphries, während der Kellner stumm den Tisch deckte. »Und ich hätte Sie auch nicht in mein Haus einladen können, ohne einen falschen Eindruck zu erwecken …«

»Das stimmt wohl«, pflichtete Wilcox ihm bei. »Es gibt zu viele verdammte Schnüffler, die einem immer gleich das Schlimmste unterstellen.«

»Also habe ich beschlossen, mit dem Essen zu Ihnen zu kommen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

»Überhaupt nicht! Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Wie lang ist es eigentlich schon her?«

»Ich lebe nun schon seit über sechs Jahren in Selene.«

»Ist es wirklich schon so lange her?« Wilcox fuhr sich mit dem Finger über den Bart. »Aber, äh … gehen wir nicht trotzdem das Risiko ein, einen falschen Eindruck zu erwecken? Schließlich steht die Anhörung kurz bevor …«

»Es besteht nicht das geringste Risiko«, sagte Humphries ungerührt. »Dieser Mann ist ein loyaler Mitarbeiter von mir, und auf die Diskretion der Hotelangestellten können wir uns auch verlassen.«

»Ich verstehe.«

»Man kann dieser Tage gar nicht vorsichtig genug sein; vor allem jemand, der eine so hohe Vertrauensposition innehat wie Sie.«

»Richtig«, sagte Wilcox und schaute lächelnd zu, wie der Kellner die erste Weinflasche öffnete.

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