Amanda wäre zu gern noch für ein paar Tage in Selene geblieben, doch Fuchs bestand darauf, dass sie sobald wie möglich wieder nach Ceres aufbrachen. Er hatte von Pancho erfahren, dass am nächsten Tag ein Astro-Schiff nach Ceres starten würde; es war mit Ausrüstung beladen, die Helvetia noch vor dem Brand im Lagerhaus bestellt hatte.
»Wir werden mit diesem Schiff zurückfliegen«, sagte Fuchs zu seiner Frau.
»Aber das ist doch ein Frachter. Er hat keine Unterbringungsmöglichkeiten für Passagiere«, wandte Amanda ein.
»Wir werden mit dem Schiff zurückfliegen«, wiederholte er und starrte grimmig geradeaus.
Amanda fragte sich, wieso ihr Mann darauf bestand, so schnell wie möglich zurückzukehren. Sie packte widerwillig ihre Reisetasche, während Fuchs Pancho anrief, um den Flug zu arrangieren.
Am nächsten Morgen fuhren sie auf der automatisierten kleinen Zugmaschine durch den Tunnel, der zum Raumhafen Armstrong führte, und gingen an Bord des spinnenbeinigen Shuttles, das sie zur Harper hinaufbringen würde. Das Schiff befand sich auf einer Mondumlaufbahn, rotierte aber mit einem Sechstel Ge. Fuchs war dankbar, dass er die Schwerelosigkeit nur für die paar Minuten würde aushalten müssen, die der Zubringer für den Flug brauchte.
»Das neueste Schiff im Sonnensystem«, sagte der Kapitän, als er sie an Bord begrüßte. Er war jung, schlank, gut aussehend und bewunderte unverhohlen Amandas frauliche Formen. Fuchs, der neben ihr stand, fasste seine Frau besitzergreifend am Arm.
»Leider ist es nicht für die Beförderung von Passagieren ausgelegt«, sagte der Kapitän, während er sie durch den Mittelgang des Habitatmoduls führte. »Ich kann Ihnen höchstes diese Kabine anbieten.«
Er schob eine ziehharmonikaartige Tür zurück. Die Kabine war gerade einmal so groß, dass zwei Personen darin zu stehen vermochten.
»Sie ist ziemlich klein«, sagte der Kapitän um Entschuldigung heischend und lächelte Amanda an.
»Das wird schon reichen«, sagte Fuchs. »Der Flug dauert ja nur sechs Tage.«
Er ging vor Amanda ins Abteil.
»Wir scheren in dreißig Minuten aus dem Orbit aus«, sagte der Kapitän, der draußen auf dem Gang stehen geblieben war.
»Gut«, sagte Fuchs. Dann schob er die Tür zu.
»Lars, du warst definitiv unhöflich zu ihm!«, sagte Amanda kichernd.
»Ich glaubte schon, ihm würden die Augen aus dem Kopf fallen, so hat er dich angestarrt«, sagte er grinsend.
»Ach Lars, das hat er doch gar nicht. Oder etwa doch?«
»Ganz bestimmt hat er das.«
»Was glaubst du, was dabei in seinem Kopf vorging?«, fragte Amanda mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck.
»Ich werde es dir zeigen«, sagte er mit einem wölfischen Grinsen.
Die vierteljährlichen Vorstandssitzungen der Astro Manufacturing Corporation, die vor der tropischen Kulisse von LaGuaira an der Karibikküste Venezuelas stattfanden, hatten den Charakter kriegerischer Auseinandersetzungen angenommen. Martin Humphries hatte sich eine Hausmacht geschaffen und versuchte die Kontrolle über den Vorstand zu erringen. Seine Gegenspielerin war Pancho Lane, die in den fünf Jahren im Vorstand ebenfalls gelernt hatte, einen Stimmenblock auf sich zu vereinigen.
Die Vorstandsvorsitzende, Harriet O’Banian versuchte, nach Möglichkeit nicht zwischen die Fronten zu geraten. Sie war nämlich der Auffassung, dass ihr Auftrag allein darin bestand, Astro so profitabel wie möglich zu machen. Und ein großer Teil dessen, was Humphries unternehmen wollte, war wirklich gewinnträchtig, auch wenn Pancho praktisch jeden Vorschlag ablehnte, den Humphries oder einer seiner Leute vorlegte.
Doch nun machte Pancho einen Vorschlag, der auf eine ganz neue Produktlinie für Astro hinauslaufen würde, und Humphries betrieb Totalopposition.
»Gas von der Jupiteratmosphäre abzapfen?«, sagte Humphries spöttisch. »Vermag man sich etwas vorzustellen, das noch riskanter wäre?«
»Ja«, sagte Pancho schroff. »Zuzulassen, dass jemand anders einen Fuß in die Tür des Fusionsbrennstoff-Markts bekommt.«
Temperamentsausbrüche waren der rothaarigen Hattie O’Banian selbst nicht fremd. Aber nicht, wenn sie dem Vorstand vorsaß. Sie klopfte mit den Fingerknöcheln auf den langen Konferenztisch. »Wir werden die Ordnung hier einhalten«, sagte sie bestimmt. »Mr. Humphries hat das Wort.«
Pancho ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und nickte pikiert. Sie saß Humphries am Tisch fast genau gegenüber. O’Banian musste an sich halten, um sie nicht anzulächeln. Pancho hatte große Fortschritte gemacht, seit sie quasi als ungeschliffener Diamant in den Vorstand gekommen war. Hinter dem Westtexas-Slang und dem Flintenweibgebaren verbargen sich hohe Intelligenz, schnelle Auffassungsgabe und die Fähigkeit, mit der Intensität eines Laserstrahls sich auf ein Thema zu konzentrieren. Mit Hatties Hilfe hatte Pancho sich die Etikette eines Vorstandsmitglieds angeeignet: Heute trug sie einen rosefarbenen Hosenanzug, der mit dezentem Schmuck akzentuiert war. Trotzdem fand Hattie, dass sie ihr burschikoses Wesen auf Dauer nicht zu unterdrücken vermochte. Sie sah so aus, als ob sie sich am liebsten über den Tisch gebeugt und Humphries eine vor den Latz geknallt hätte.
Was Humphries betraf, so schien er sich in einem legeren dunkelblauen Strickanzug und einem hellgelben Stehkragenhemd pudelwohl zu fühlen. Er versteht es, sich zu kleiden, sagte Hattie sich, und er versteht es noch besser, seine Gedanken zu verbergen.
»Martin«, sagte O’Banian. »Haben Sie dem noch etwas hinzuzufügen?«
»Gewiss«, sagte Humphries mit einem listigen Lächeln. Er richtete für ein Moment den Blick auf Pancho und schaute dann wieder auf O’Banian. »Ich bin gegen unausgegorene Pläne, die einen Goldschatz am Ende des Regenbogens verheißen, in Wirklichkeit aber mit untragbaren technischen Risiken behaftet sind. Und mit Risiken für Menschen. Ein Schiff auf eine Himmelfahrtsmission zum Jupiter zu entsenden, um Wasserstoff- und Heliumisotope aus der Atmosphäre dieses Planeten zu schöpfen, ist schlicht und ergreifend totaler Wahnsinn.«
Ein halbes Dutzend der Vorstandsmitglieder nickten zustimmend. O’Banian sah, dass auch ein paar darunter waren, die bei diesen Auseinandersetzungen normalerweise nicht auf Humphries’ Seite standen.
»Ms. Lane? Haben Sie noch mehr zur Unterstützung Ihres Vorschlags vorzubringen?«
Pancho setzte sich stocksteif auf und schaute Humphries direkt ins Gesicht. »Auf jeden Fall. Ich habe die Fakten präsentiert, die technische Analyse, die Kostenschätzungen und die Gewinnprognosen. Aus den Zahlen geht hervor, dass die Abschöpfung von Fusionsbrennstoffen innerhalb der Möglichkeiten der bestehenden Technologie liegt. Es muss nichts Neues erfunden werden.«
»Ein Schiff soll im Sturzflug in die Jupiteratmosphäre eintauchen und seine Gase abschöpfen?«, platzte einer der älteren Männer am Tisch heraus. Er hatte ein pausbäckiges rotes Gesicht und eine Glatze.
Pancho bedachte ihn mit einem angestrengten Lächeln. »Ein Schiff, das vom Jupiterorbit aus in Telepräsenz gesteuert wird. Es ist durchaus im Bereich des Machbaren.«
»Es gibt im Jupitersystem aber noch keine Basis für eine Telepräsenzmannschaft; wir würden sie erst einrichten müssen.«
»Das ist wahr«, sagte Pancho gleichmütig. »Ich habe auch nicht behauptet, dass die Infrastruktur schon existiert. Aber es ist innerhalb unserer Möglichkeiten. Wir müssen die Basis nur bauen und testen.«
»Aber zu welchen Kosten?«, fragte die grauhaarige Frau, die zwei Stühle von Pancho entfernt saß.
»Sie ersehen die entsprechenden Zahlen aus meiner Präsentation«, sagte Pancho und wandte sich an O’Banian: »Wenn ich meinen Vortrag nun ohne weitere Unterbrechung beenden dürfte, bitte?«
O’Banian nickte. »Lassen wir Pancho also die gleiche Höflichkeit zuteil werden, wie wir sie Martin gewährt haben«, sagte sie mit leicht erhobener Stimme. »Das gilt für alle.«
»Dank in die Runde«, sagte Pancho. »Die Erde braucht Energiequellen, die keine Treibhausgase in die Atmosphäre entlassen. Fusion ist die Antwort, und Fusion auf der Basis von Helium-drei ist das effizienteste Fusionssystem, das bisher angewandt worden ist. Es warten Billiarden Dollar pro Jahr auf das Unternehmen, das Fusionsbrennstoffe an die Erde liefert. Und vergessen Sie nicht, dass Helene, die Mars-Basen, Ceres und viele andere Einrichtungen im Weltraum auch Fusionsbrennstoff brauchen. Gar nicht zu reden vom Markt für Raumschiff antriebe.«
»Wir beziehen schon von Selene Deuterium-drei«, sagte der rotgesichtige, kahlköpfige Mann. »Sie gewinnen es im Tagebau.«
»Es gibt aber nicht genug Deuterium auf dem Mond, um die potenzielle Marktnachfrage zu befriedigen«, entgegnete Pancho.
»Aber der weite Flug bis zum Jupiter … das wird den Preis verdammt hochtreiben, nicht wahr?«
»Nicht, wenn wir den Betrieb erst einmal aufgenommen haben. Es wird eine lange Frachtstrecke sein, gewiss eine Pipeline-Operation. Wir werden Selenes Preis gar nicht mal unterbieten müssen; wir müssen nur eine Million Mal mehr Fusionsbrennstoff anbieten, als Selene zu fördern vermag.«
Der Mann war dennoch nicht überzeugt und nuschelte etwas in den Bart.
Pancho schaute wieder auf O’Banian, doch bevor die Vorsitzende noch etwas zu sagen vermochte, fuhr sie fort: »Noch etwas. Wenn wir es nicht tun, wird Humphries Space Systems es tun.«
Humphries schoss förmlich vom Stuhl in die Höhe und wies mit dem Finger anklagend auf Pancho. »Das ist eine dreiste Unverschämtheit!«
»Das ist die Wahrheit, und Sie wissen es!«, erwiderte Pancho ebenso hitzig.
Im Vorstandszimmer wurde ein ärgerliches Geraune laut.
O’Banian schlug heftig auf den Tisch. »Ruhe! Das gilt für alle.«
»Habe ich noch das Wort?«, fragte Pancho, nachdem der Aufruhr sich gelegt hatte. Humphries schaute sie von der anderen Seite des Tischs finster an.
O’Banian warf Pancho einen ärgerlichen Blick zu. »Solange Sie sich persönlicher Angriffe auf die anderen Mitglieder des Vorstands enthalten«, antwortete sie steif.
»Okay«, sagte Pancho. »Aber es scheint mir trotzdem der Fall zu sein, dass wir ein Problem haben. Mr. Humphries hier ist in einer Position, neue Ideen zu blockieren und sie in seinem eigenen Unternehmen umzusetzen.«
»Sie werfen mir unethisches Verhalten vor!«, blaffte Humphries.
»Verdammt richtig«, sagte Pancho.
»Einen Moment! Ruhe!«, sagte O’Banian. »Ich werde nicht zulassen, dass diese Besprechung in einen persönlichen Streit ausartet.«
Das älteste Vorstandsmitglied, ein zerbrechlich wirkender Herr, der kaum jemals ein Wort sagte, meldete sich. »Ich habe den Eindruck«, sagte er mit flüsternder Stimme, »dass hier tatsächlich ein Interessenkonflikt vorliegt.«
»Das ist doch Unsinn«, sagte Humphries schroff.
»Ich befürchte, dass wir uns mit diesem Punkt befassen müssen«, entgegnete O’Banian. Sie versuchte sich so gemäßigt und neutral wie möglich auszudrücken, aber sie würde diesen Punkt trotzdem nicht ohne eine ausführliche Debatte abhaken. Sie mied bewusst den Blickkontakt mit Pancho, weil sie befürchtete, dass die ihr ihre Dankbarkeit zeigen würde.
Die Diskussion zog sich für fast zwei Stunden hin. Jedes Vorstandsmitglied wollte einen Kommentar abgeben, egal ob jemand anderes sich schon in diesem Sinne geäußert hatte oder nicht. O’Banian ließ das alles geduldig über sich ergehen und beobachtete, wie jeder sein Ego ausbreitete. Sie fragte sich, wie sie diesen Punkt zur Abstimmung bringen sollte. Humphries aus dem Vorstand werfen? Liebend gern. Nur würde sie dafür nicht genügend Stimmen bekommen. Im besten Fall konnte sie darauf hoffen, ihm die Zähne zu ziehen.
Humphries war kein Narr. Er hörte sich die immergleichen Einlassungen der Vorstandsmitglieder auch an; er war offensichtlich ungeduldig und rechnete sich offensichtlich seine Chancen aus. Als er an der Reihe war, sich zu seiner Verteidigung zu äußern, hatte er bereits eine Entscheidung getroffen.
Er stand auf und sagte langsam und ruhig: »Ich werde die von Ms. Lane vorgebrachten Anschuldigungen nicht dadurch aufwerten, indem ich mich dagegen verteidige. Ich glaube, die Tatsachen sprechen für sich …«
»Das tun sie sicher«, murmelte Pancho so laut, dass jeder es hörte.
Humphries beherrschte sich mühsam. »Deshalb«, fuhr er fort, »gebe ich meinen Widerstand gegen dieses Jupiter-Konzept auf.«
O’Banian merkte, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie stieß sie aus und wunderte sich darüber, wie unbehaglich sie sich fühlte. Sie hatte gehofft, dass Humphries sich wie ein Gentleman verhalten und vom Vorstand zurücktreten würde.
»Aber ich sage Ihnen eins«, fügte Humphries mit erhobenem Finger hinzu. »Wenn die Kosten aus dem Ruder laufen und die ganze Sache sich als Rohrkrepierer erweist, dann sagen Sie nicht, dass ich Sie nicht gewarnt hätte.«
O’Banian holte erneut Luft und sagte: »Martin, ich danke Ihnen im Namen des Vorstands.«
Humphries’ Fraktion im Vorstand sprach sich jedoch noch immer gegen das Jupiter-Projekt aus. Immerhin erklärte sie sich dazu bereit, Pancho die Suche nach einem Partner zu gestatten, der mindestens ein Viertel der Projektkosten übernahm. Falls ihr das nicht gelang, würde der Vorstand kein grünes Licht für den Start des Programms geben.
»Einen Partner?«, fragte Pancho missmutig. O’Banian warf ihr einen warnenden Blick zu. Wenn Pancho offen beklagte, dass niemand auf eine solche Partnerschaft mit Astro sich einlassen würde, würde das nur Humphries’ These stützen, dass die Idee ein Hirngespinst sei.
»Sie sollten vielleicht das Gespräch mit den großen Energieversorgungsunternehmen suchen«, schlug O’Banian vor. »Sie hätten von einer gesicherten Versorgung mit Fusionsbrennstoffen schließlich am meisten zu gewinnen.«
»Ja«, nuschelte Pancho. »Stimmt.«
Als die Versammlung sich auflöste und die Vorstände murmelnd und tuschelnd den Konferenzraum verließen, ging Humphries zu O’Banian hin.
»Sind Sie nun zufrieden?«, fragte er leise und in einem vertraulichen Ton.
»Es tut mir Leid, dass es so weit kommen musste, Martin«, erwiderte sie.
»Ja, ich sehe schon, wie Leid es Ihnen tut.« Er ließ den Blick durch den Raum schweifen und sah, wie Pancho mit dem alten rotgesichtigen Mann den Raum verließ. Sie sprachen miteinander. »Clever eingefädelt, Pancho als trojanisches Pferd gegen mich zu benutzen.«
O’Banian war richtiggehend schockiert. »Ich? Ich soll …?«
»Schon gut«, sagte Humphries mit einem verkniffenen Grinsen. »Ich rechne eh mit gelegentlichen Angriffen aus dem Hinterhalt. Das gehört zum Spiel.«
»Aber, Martin, ich hatte doch keine Ahnung …«
»Nein, natürlich hatten Sie keine Ahnung. Dann machen Sie mit diesem Jupiter-Unsinn weiter, falls Sie überhaupt jemanden finden, der dumm genug ist, sich mit Ihnen einzulassen. Wenn es dann schief geht, werde ich es gegen Sie verwenden, um Sie aus dem Vorstand zu entfernen. Und diese verdammte Mechanikerin dazu.«