Kapitel 51

Der Asteroid hatte keinen Namen. In den Katalogen war er nur als 38-4002 verzeichnet. Der dunkle kohlenstoffhaltige Himmelskörper war knapp einen Kilometer lang und an der dicksten Stelle einen halben Kilometer breit. Er stellte eine lose Zusammenballung von Chondrulen — millimetergroßen Silikatkügelchen — dar, die eher wie ein so genannter Beanbag als massives Gestein anmutete. Fuchs hatte dort vor Wochen einen Transceiver deponiert. Nun kehrte er zu diesem Asteroiden zurück, um das Gerät zu bergen und zu schauen, welche Informationen Amanda ihm übermittelt hatte.

Sie ist nach Selene gegangen, rief er sich immer wieder in Erinnerung. Auf eine Konferenz. Zu Humphries. Ohne es mir zu sagen. Ohne es auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Er sah wieder das grinsende Gesicht von St. Ciaire vor sich, als der Mann es ihm unter die Nase rieb. Deine Frau hat es dir nicht gesagt?, hörte er St. Ciaire immer wieder fragen. Sie hat es dir gegenüber mit keinem Wort erwähnt?

Es ist wahrscheinlich in den Nachrichten enthalten, die auf mich warten, sagte Fuchs sich. Amanda muss es mir in der letzten Sendung mitgeteilt haben, ehe sie nach Selene aufbrach. In Humphries’ Heimat. Der Magen krampfte sich ihm jedes Mal zusammen, wenn er nur daran dachte.

Wieso hat sie mir nichts davon gesagt?, fragte er sich zornig. Wieso hat sie nicht mit mir darüber gesprochen, ehe sie diesen Entschluss gefasst hat? Die Antwort schien schrecklich klar: Weil ich nicht wissen sollte, dass sie ging, weil ich nicht wissen sollte, dass sie sich mit Humphries treffen würde.

Er wollte den Zorn und die Frustration hinausschreien, wollte seiner Besatzung den Befehl geben, zu einem Hochgeschwindigkeitsflug nach Selene zu starten, wollte Amanda aus dem Schiff holen, das sie zum Mond brachte und unter seine Fittiche nehmen. Er wusste jedoch, dass es zu spät war. Viel zu spät. Sie ist fort. Sie ist schon angekommen. Sie hat mich verlassen.

Die Treibstofftanks der Nautilus waren voll. Fuchs verspürte leichte Gewissensbisse, weil er den Wasserstoff und das Helium von seinem ehemaligen Freund St. Ciaire gestohlen hatte, aber er hatte keine Wahl gehabt. Er war im Zorn mit St. Ciaire auseinander gegangen, aber dennoch hatte der Quebecer ganze sechs Stunden gewartet, bevor er einen Notruf an einen Tanker abgesetzt hatte — genau, wie Fuchs es ihm gesagt hatte.

Fuchs schüttelte den Kopf, während er auf der Brücke der Nautilus auf dem Kommandantensitz saß und sich über die Funktionsweise des menschlichen Bewusstseins wunderte. St. Ciaire wusste, dass ich ihm nichts tun würde. Und doch hat er die vollen sechs Stunden gewartet, ehe er um Hilfe rief und hat mir so genügend Zeit gegeben, mich in Sicherheit zu bringen. Ob er trotz allem immer noch mein Freund ist? Oder hatte er nur Angst, dass ich zurückkehre und auf ihn schieße? Fuchs ließ sich die Frage durch den Kopf gehen und gelangte zu dem Schluss, dass St. Ciaire wohl nur auf Nummer sicher ging. Unsere Freundschaft ist tot, ein Kollateralschaden dieses Kriegs. Ich habe keine Freunde mehr.

Und ich habe keine Frau mehr. Ich habe sie vertrieben. Auf Humphries’ Territorium getrieben, vielleicht sogar in seine Arme.

»Der Felsen ist in Sichtweite«, sagte der Navigator, der an der Peripherie der Brücke saß, zur Frau, die das Schiff flog. Er sprach in ihrem mongolischen Dialekt, aber Fuchs verstand ihn trotzdem. Das ist kein Felsen, korrigierte er ihn stumm. Es ist ein Aggregat.

Froh, dass er sich mit irgendetwas abzulenken vermochte, wies Fuchs den Computer an, die Teleskopabbildung des Asteroiden auf den Monitor der Konsole zu übertragen. Er taumelte träge um die Längsachse. Bei der Annäherung an den Asteroiden rief Fuchs die Computergrafik auf, die ihm zeigte, wo er den Transceiver platziert hatte.

Er beugte sich auf dem Sitz vor, schaute auf den Monitor und versuchte die Gedanken an Amanda zu verdrängen. Auf dem Monitor erschien die Echtzeit-Teleskopabbildung des Asteroiden mit einem Gitternetz, das der Computer darüber gelegt hatte. Komisch, sagte er sich. Die Konturendarstellung entspricht nicht mehr der visuellen Darstellung. Da ist eine neue Erhebung auf dem Asteroiden, keine fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo der Transceiver hätte stehen sollen.

Fuchs schaltete auf Standbild und schaute aufmerksam hin. Er wusste, dass die Asteroiden dynamisch sind. Sie werden ständig von kleinen Gesteinsbrocken bombardiert. Ein Aggregat wie dieser Asteroid würde jedoch nicht unbedingt einen Krater ausbilden. Als ob man die Faust in einen Beanbag gestoßen hätte: Er hätte einfach nachgegeben und dann wieder die ursprüngliche Form angenommen.

Aber eine Kuppe? Wodurch sollte eine Kuppe entstehen?

Er spürte eine alte, fast verschüttete Regung. Früher war er Planeten-Geochemiker gewesen; er war ursprünglich in den Gürtel gekommen, um die Asteroiden zu studieren und nicht um sie auszubeuten. Eine Neugier, die er seit vielen Jahren nicht mehr gekannt hatte, ergriff von ihm Besitz. Was konnte auf einem kohlenstoffhaltigen chondritischen Asteroiden Blasen werfen?


* * *

Dorik Harbin war noch eine halbe Tagesreise von diesem kohlenstoffhaltigen Asteroiden entfernt — selbst mit der Beschleunigung von 0,5 Ge, die er aus der Shanidar herausholte. Er hatte sein Schiff in einen engen Orbit um den zerklüfteten, gestreiften Körper eines Nickeleisen-Asteroiden gebracht, wo Fuchs einen Transceiver deponiert hatte. Sein Navigator schwitzte und hatte angstgeweitete Augen. Sein blonder skandinavischer Erster Offizier hatte ihn schon ein paarmal darauf hingewiesen, dass aufgrund der unmittelbaren Nähe zum Asteroiden die Gefahr einer Kollision bestand.

Harbin suchte aber gerade diese Nähe, damit ein sich näherndes Schiff ihn nicht ausmachen konnte. Er wünschte sich, dass dieser Metallbrocken so porös wäre wie der kohlenstoffhaltige Asteroid, wo man noch einen von Fuchs’ Transceivern gefunden hatte. Die Besatzung hatte dort einfach das Habitatmodul vom Schiff abgekoppelt und es unter einer losen Geröllschicht vergraben. Dann war das nur mit einem Piloten und Navigator bemannte Rumpfschiff verschwunden und hatte in einiger Entfernung Position bezogen. Falls Fuchs dort erschien, würde er nur einen harmlosen Schutthaufen sehen. Ein trojanisches Pferd, sagte Harbin sich grimmig, das ein halbes Dutzend Soldaten ausspeien würde, während zugleich Harbins gesamte Armada verständigt wurde, um die Falle zu schließen.

Die Skandinavierin fühlte sich im Abstand von nur ein paar Metern zur verschrammten und vernarbten Oberfläche des Asteroiden sichtlich unwohl. »Wir laufen Gefahr, dass die Hülle vom Staub abgeschmirgelt wird, der über dem Gestein hängt«, warnte sie Harbin.

Er schaute in ihre eisblauen Augen. Sie hat die gleichen Augen wie ich, sagte er sich. Ihre Wikinger-Vorfahren müssen einst als Invasoren in mein Dorf gekommen sein.

»Es ist gefährlich!«, sagte sie in einem scharfen Ton.

Harbin lächelte sie gezwungen an. »Passen Sie unseren Orbit der Rotationsgeschwindigkeit des Asteroiden an. Falls Fuchs herkommt und sich hier umschaut, soll er uns erst sehen, wenn er uns nicht mehr entwischen kann.«

Sie wollte schon widersprechen, doch Harbin schnitt ihr mit erhobener Hand das Wort ab: »Tun Sie es!«, befahl er.

Sichtlich unzufrieden drehte sie sich um und gab seinen Befehl an den Navigator weiter.


* * *

»Machen wir Mittagspause«, sagte Doug Stavenger.

Die Personen am Konferenztisch nickten und schoben die Stühle zurück. Die Spannung im Raum baute sich ab. Einer nach dem anderen standen sie auf, reckten und streckten sich und atmeten tief durch. Stavenger hörte Gelenke knacken.

Das Mittagessen war in einem anderen Konferenzraum des Bürokomplexes angerichtet worden. Als die Delegierten in den Gang hinaustraten, fasste Stavenger Dieterling am Arm und hielt ihn zurück.

»Ob wir irgendetwas erreicht haben?«, fragte er den Diplomaten.

Dieterling warf einen Blick auf die Tür, wo seine beiden Neffen standen und auf ihn warten. Dann drehte er sich wieder zu Stavenger um. »Ich glaube schon.«

»Wenigstens reden Humphries und Pancho wieder wie zivilisierte Menschen miteinander«, sagte Stavenger mit einem zerknirschten Lächeln.

»Unterschätzen Sie nur nicht den Effekt der Zivilisierung«, sagte Dieterling. »Ohne die geht nämlich nichts.«

»So?«

»Es ist klar, dass der Kern des Problems in diesem Fuchs besteht«, antwortete Dieterling mit einem Achselzucken.

»Humphries will ihn bestimmt aus dem Verkehr ziehen.«

»Solange er da draußen im Gürtel randaliert, wird es keinen Frieden geben.«

Stavenger schüttelte den Kopf. »Fuchs hat mit dieser … Randale, wie Sie es nennen, aber doch nur auf die Gewalt reagiert, die von Humphries’ Leuten ausging.«

»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte Dieterling, wobei er die Stimme fast zu einem Flüstern senkte. »Wir können Humphries und Ms. Lane dazu bewegen, das Kriegsbeil zu begraben und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Keine weiteren Beschuldigungen und Racheakte mehr. Sie sind zu einer friedlichen Einigung bereit.«

»Ob sie aber auch bereit sind, sie einzuhalten?«

»Ja. Dessen bin ich mir sicher. Dieser Krieg kommt sie nämlich teuer zu stehen. Sie wollen ihn beenden.«

»Dann können sie ihn schon heute Nachmittag beenden, wenn ihnen daran gelegen ist.«

Stavenger nickte düster. »Also muss er gestoppt werden. Verdammt.«


* * *

Humphries betrat den Waschraum und entledigte sich seines morgendlichen Kaffeequantums. Dann wusch er sich die Hände und warf noch eine Beruhigungspille ein. Er betrachtete sie zumindest als Beruhigungspille, obwohl er wusste, dass ihr ›Wirkungsbereich‹ weit größer war.

Als er wieder auf den Gang trat, kam Amanda gerade aus der Damentoilette. Ihm stockte trotz der Pille der Atem. Sie war mit einem gelben Hosenanzug bekleidet, der vom langen Tragen ausgebleicht schien, doch in Humphries’ Augen leuchtete sie wie die Sonne. Es war niemand sonst zu sehen; die anderen mussten alle in dem Raum sein, wo das Mittagessen angerichtet war.

»Hallo Amanda«, hörte er sich sagen.

Erst in diesem Moment sah er den kalten Zorn in ihren Augen.

»Sie sind wild entschlossen, Lars zu töten, nicht wahr?«, sagte sie mit monotoner Stimme.

Humphries leckte sich die Lippen, bevor er antwortete. »Ihn töten? Nein. Ihn stoppen. Das ist alles, was ich will, Amanda. Ich will, dass er mit dem Töten aufhört.«

»Mit dem Sie angefangen haben.«

»Darauf kommt es nun nicht mehr an. Er ist jetzt das Problem.«

»Sie werden keine Ruhe geben, bis Sie ihn getötet haben.«

»Nicht …« Er musste erst schlucken, bevor er weitersprechen konnte. »Nicht wenn Sie mich heiraten.«

Er hätte erwartet, dass sie überrascht reagierte. Doch ihre Augen flackerten nicht einmal, und der Ausdruck in ihrem wunderschönen Gesicht änderte sich kein bisschen. Sie machte einfach kehrt, ließ ihn stehen und ging weg.

Humphries schaute ihr nach, doch dann hörte er Stavenger und Dieterling hinter sich. Mach dich nicht vor ihnen zum Trottel, sagte er sich. Lass sie gehen. Fürs Erste. Wenigstens hat sie nicht ›nein‹ gesagt.

Загрузка...