Kapitel 44

Lars Fuchs stand breitbeinig hinterm Pilotensitz auf der Brücke der Nautilus und studierte aufmerksam die Bildschirmdarstellung von etwas, das wie ein HSS-Frachter aussah.

Anhand der Nachrichten, die das Schiff empfing und sendete, handelte es sich um die W. Wilson Humphries, das Flaggschiff von Humphries Space Systems’ wachsender Flotte von Erzfrachtern, das nach Martin Humphries’ verstorbenen Vater benannt worden war. Das Schiff war wahrscheinlich mit Erz von verschiedenen Asteroiden beladen und nahm aus dem Gürtel Kurs auf das Erde-/Mondsystem.

Dennoch verspürte Fuchs Unbehagen bei der Annäherung an dieses Schiff. Seit vierzehn Monaten verbarg er sich nun schon im Gürtel und deckte seinen Bedarf an Nachschub und Treibstoff bei den gekaperten Schiffen und sporadischen Stippvisiten bei Schiffen ihm freundlich gesonnener Unabhängiger. In dieser Zeit hatte er gelernt, auf der Hut zu sein. Er hatte Gewicht verloren, aber noch immer die Statur eines kleinen Stiers — ohne ein Gramm Fett zu viel. Selbst sein Gesicht war härter geworden: Das kantige Kinn wirkte noch kantiger, und die Mundwinkel waren in einer scheinbar permanenten finsteren Miene heruntergezogen.

Er drehte sich zu Nodon um, der an der Kommunikationskonsole auf der Brücke stand.

»Wie sieht der ein- und ausgehende Funkverkehr aus?«, fragte er und zeigte mit dem Daumen auf den Bildschirm.

»Normale Telemetrie«, erwiderte Nodon. »Nichts Außergewöhnliches.«

»Zeig mir den Kurs der letzten sechs Wochen«, sagte Fuchs zu der kräftigen jungen Frau auf dem Pilotensitz. Er sprach nun im mongolischen Dialekt mit seinen Leuten; zwar noch nicht ganz flüssig, aber er beherrschte die Sprache der Besatzung immer besser. Er wollte nämlich nicht, dass sie Geheimnisse vor ihm hatten.

Auf einem der Zusatzbildschirme erschienen schmale, verschlungene gelbe Kurven vor einem mit grünen Punkten gesprenkelten Hintergrund.

Fuchs studierte die Abbildung. Wenn man ihr Glauben schenken wollte, stellte die gelbe Linie den Kurs dar, den das Humphries-Schiff in den letzten sechs Wochen genommen hatte, während es Erzladungen von fünf verschiedenen Asteroiden aufgenommen hatte. Doch Fuchs wollte ihr nicht glauben.

»Das ist ein Schwindel«, sagte er laut. »Wenn das Schiff wirklich diesen Kurs gesteuert hätte, wäre ihm schon der Treibstoff ausgegangen, und es hätte einen Treffpunkt mit einem Tanker angesteuert.«

»Laut ihrem Flugplan wollen sie in zwei Stunden die Beschleunigung erhöhen und Kurs auf das Erde-/Mondsystem nehmen«, sagte Nodon.

»Dazu hätten sie aber in den letzten Tagen auftanken müssen«, sagte Fuchs.

»Das geht aus den Daten aber nicht hervor. Es sind keine Tanker in der Nähe. Überhaupt keine anderen Schiffe.«

Fuchs ließ sich bei den gelegentlichen Besuchen auf befreundeten Schiffen mit den aktuellsten Nachrichten versorgen. Über diese unabhängigen Prospektoren hatte er eine konspirative Kommunikationslinie zurück nach Ceres installieren lassen; er bat sie, Amanda zu sagen, welche Frequenz er beim nächsten Anruf benutzen würde. Seine Anrufe erfolgten in monatlichen Intervallen in Form kurzer Stöße ultrakomprimierter Daten, in denen er kaum mehr mitteilte, als dass er am Leben sei und sie vermisste. Sie schickte ähnliche Botschaften per Bündellaserstrahl an vorher festgelegte Asteroiden. Fuchs erschien jedoch nie persönlich, um sie zu empfangen; stattdessen platzierte er vorher einen Empfänger auf dem jeweiligen Asteroiden, der ihm die Botschaft später übermitteln würde. Er hatte nicht vor, Humphries’ Leute auf seine Spur zu locken.

Und nun verursachte dieser dicke, scheinbar harmlose Frachter ihm Unbehagen. Das ist eine Falle, warnte eine innere Stimme ihn. Und er erinnerte sich daran, dass Amandas letzte Kurznachricht noch eine Information von Big George enthalten hatte, wonach Humphries’ Leute Lockvogelschiffe stationierten — ›Trojanische Pferde‹, wie George sie bezeichnet hatte. Sie waren mit Laserkanonen bestückt und mit Söldnern besetzt, die den Auftrag hatten, Fuchs in eine tödliche Falle zu locken.

»George sagt, es sei nur ein Gerücht«, hatte Amanda hastig gesagt, »aber es ist ein Gerücht, das du ernst nehmen solltest.«

Das beherzigte Fuchs, während er die Abbildung des Schiffes auf dem Bildschirm betrachtete. Gerüchte können Leben retten, sagte er sich.

»Kursänderung«, wies er die Frau an, die das Schiff steuerte. »Wieder in den Gürtel hinein.«

Sie befolgte wortlos seine Anweisung.

»Wir lassen das Schiff links liegen?«, fragte Nodon.

Fuchs gestattete es sich, die Mundwinkel einen Zoll zu heben, sodass seine Mimik zu einem säuerlichen, beinahe spöttischen Lächeln geriet. »Fürs Erste. Schau’n wir mal, ob das Schiff uns links liegen lässt, wenn wir uns davonmachen.«


* * *

Dorik Harbin saß auf dem Kommandantensitz auf der Brücke der W. Wilson Humphries und beobachtete die Monitore. Er biss verärgert die Zähne zusammen, als er sah, dass das Schiff, das ihnen seit ein paar Stunden gefolgt war, auf einmal abdrehte und wieder Kurs in die Tiefen des Gürtels nahm.

»Er hat einen Verdacht«, sagte sein Erster Offizier, eine gertenschlanke Skandinavierin mit so hellem Haar, dass sie fast keine Augenbrauen zu haben schien. Sie hatte eine Vorliebe dafür, das Offensichtliche zu konstatieren.

»Anscheinend«, murmelte Harbin. Er wünschte sich, dass er allein gewesen wäre und nicht diesen nutzlosen Söldnerhaufen um sich gehabt hätte.

Das heißt, nutzlos war die Besatzung eigentlich nicht. Eher überflüssig. Harbin zog es vor, allein zu arbeiten. Sein altes Schiff, die Shanidar, hatte er mit den automatisierten Systemen hervorragend allein fliegen können. Er war für Monate einsam und allein unterwegs gewesen, hatte getötet, wenn die Zeit dazu kam und dann Trost in seinen Drogenträumen gefunden.

Und nun hatte er ein Dutzend Männer und Frauen unter seinem Kommando, für die er Tag und Nacht Verantwortung trug. Diane hatte gesagt, dass Humphries darauf bestand, Soldaten in den Lockvogelschiffen zu stationieren; er wollte ausgebildete Söldner, die fähig waren, Fuchs’ Schiff zu entern und ihm seine Leiche zu bringen.

»Ich habe ihm das auszureden versucht«, flüsterte Diane in ihrer letzten gemeinsamen Nacht, »doch er hat sich nicht davon abbringen lassen. Er will Fuchs’ Leiche sehen. Ich glaube fast, er will sie ausstopfen lassen und als Trophäe ausstellen.«

Harbin schüttelte nur den Kopf und wunderte sich, dass ein Mann mit einer solchen Besessenheit überhaupt in der Lage war, einen tödlichen, lautlosen Krieg hier draußen zwischen den Asteroiden zu führen. Aber vielleicht vermag auch nur ein Besessener einen Krieg zu führen. Ja, gab er sich selbst die Antwort, aber was ist mit den Männern — und Frauen —, die das Kämpfen übernehmen? Sind wir auch besessen?

Doch welchen Unterschied macht das? Macht überhaupt irgendetwas einen Unterschied? Wie heißt es noch gleich bei Omar Khayyam?


* * *

Die weltliche Hoffnung, an die die Menschen ihr Herz hängen, Wird zur Asche — oder gedeiht; und auf einmal, Wie Schnee auf der Wüste staubigem Antlitz, Schimmert’s ein Stündlein oder zwei und ist vergangen.


* * *

Was für einen Unterschied macht unsere Besessenheit? Sie wird zu Asche oder gedeiht. Dann schmilzt sie wie Schnee in der Wüste. Was für einen Unterschied? Was für einen Unterschied?

»Was sollen wir nun tun?«, hörte er den Ersten Offizier fragen. »Er verschwindet.«

»Offensichtlich glaubt er nicht, dass wir Erz zur Erde transportieren«, sagte er ruhig. »Wenn wir nun wenden und ihm folgen, wird er sich bestätigt sehen.«

»Was sollen wir dann tun?«, fragte die Skandinavierin. Es stand ihr ins hagere, blasse Gesicht geschrieben, dass sie die Verfolgung aufnehmen wollte.

»Wir werden weiterhin den Eindruck erwecken, als seien wir ein Erzfrachter. Keine Kursänderung.«

»Aber dann werden wir ihn verlieren!«

»Oder er wird uns verfolgen, wenn wir ihn doch noch davon überzeugen können, dass wir das sind, wofür wir uns ausgeben.«

Sie vermochte seiner Logik offensichtlich nicht so recht zu folgen. »Dann sollen wir also Katz und Maus spielen?«, murmelte sie.

»Ja«, sagte Harbin. Er war froh, dass er sie endlich auf Linie gebracht hatte. Wobei es ihr allerdings egal zu sein schien, welches der zwei Schiffe die Katze und welches die Maus war.


* * *

In Selene stand Douglas Stavenger am Fenster seines Büros und schaute den Kindern draußen in der Grand Plaza zu, wie sie mit ihren Plastikflügeln in der Luft umherstoben. Das war eins der Vergnügen, das es nur auf dem Mond gab, und auch nur in einem geschlossenen Raum so groß wie die Grand Plaza, der bei irdischem Luftdruck mit atembarer Luft gefüllt war. Dank der schwachen Gravitation konnte man sich Flügel an die Arme schnallen und wie ein Vogel sich mit Muskelkraft in die Lüfte schwingen.

Wie lang ist es her, seit ich das zum letzte Mal gemacht habe, fragte Stavenger sich und gab sich auch sofort die Antwort: zu verdammt lang. Für einen Pensionär scheinst du aber nicht allzu viel Spaß zu haben, sagte er sich.

Irgendjemand hatte beim Rat um die Erlaubnis gebeten, einen Golfplatz auf dem Boden von Alphonsus anzulegen. Stavenger fand die Vorstellung lachhaft, im Raumanzug Golf zu spielen, doch ein paar Ratsmitglieder schienen das ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

Das Telefon läutete, und die synthetische Stimme meldete: »Ms. Pahang ist hier.«

Stavenger drehte sich zum Schreibtisch um und drückte auf den Türöffner. Jatar Pahang trat mit einem strahlenden Lächeln ein.

Sie war der populärste Videostar der Welt, »die Blume von Malaysia«, eine kleine, zartgliedrige exotische Frau mit sinnlichen dunklen Augen und langem, pechschwarzem Haar, das ihr kaskadenartig über die bloßen Schultern fiel. Ihr Kleid schimmerte im Schein der blendfreien Deckenbeleuchtung von Stavengers Büro, während sie mit kleinen Schritten auf ihn zuging.

Stavenger ging um den Schreibtisch herum und reichte ihr die Hand. »Willkommen in Selene, Ms. Pahang.«

»Vielen Dank«, sagte sie mit einer Stimme, die wie kleine Silberglöckchen klang.

»Sie sind in natura noch schöner als in den Videos«, sagte Stavenger und geleitete sie zu einem der Armstühle, die um einen kleinen runden Tisch in der Ecke des Büros gruppiert waren.

»Sie sind zu liebenswürdig, Mr. Stavenger«, sagte sie und setzte sich auf den Stuhl. Angesichts ihrer zarten Statur schien der Stuhl viel zu groß für sie.

»Meine Freunde nennen mich Doug.«

»Schön. Und Sie müssen mich Jatar nennen.«

»Gern«, sagte er und setzte sich neben sie. »In Selene liegt Ihnen jeder zu Füßen. Unsere Leute freuen sich sehr über Ihren Besuch.«

»Das ist das erste Mal, dass ich die Erde verlassen habe«, sagte sie. »Außer bei den zwei Videos, die wir in der Raumstation Neues China produziert haben.«

»Ich habe diese Videos gesehen«, sagte Stavenger.

»Aha. Ich hoffe, sie haben Ihnen gefallen.«

»Sogar sehr«, sagte er. Dann zog er seinen Stuhl etwas näher zu ihr heran und fragte: »Was kann ich persönlich tun, um Ihren Besuch … produktiver zu gestalten?«

Sie schaute zur Decke hinauf. »Sind wir allein?«

»Ja«, versicherte Stavenger ihr. »Hier gibt es keine Abhörgeräte oder Wanzen.«

»Gut«, sagte sie. Ihr Lächeln war plötzlich verflogen. »Die Nachricht, die ich überbringe, ist nämlich nur für Sie bestimmt.«

»Ich verstehe«, sagte Stavenger genauso ernst.

Jatar Pahang war nicht nur der populärste Videostar der Welt; sie war auch die Mätresse von Xu Xianqing, dem Vorsitzenden des inneren Kreises der Weltregierung und seine Geheimbotschafterin für Stavenger und die Regierung von Selene.

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