Dorik Harbin schaute sich im leeren Einraum-Apartment um. Das wird reichen, sagte er sich. Er wusste, dass in Selene die Wohnungen umso teurer waren, je tiefer sie gelegen waren. Obwohl das eigentlich Unsinn war: Fünf Meter unter der Mondoberfläche war man nämlich genauso sicher wie in einer Tiefe von fünfzig oder sogar siebzig Metern. Doch die Leute ließen sich von ihren Emotionen leiten — genauso wie sie auf der Erde mehr für eine obere Etage in einem Hochhaus bezahlten, auch wenn die Aussicht vielleicht durch das Hochhaus daneben verstellt wurde.
Auf dem Flug vom Asteroidengürtel war er ziemlich angespannt gewesen. Er hatte die angeschlagene Shanidar bei einem HSS-Tanker zurückgelassen und dann von Grigor die Order erhalten, sich in Selene zu melden. Man hatte ihm eine winzige Kabine auf einem HSS-Frachter zugewiesen, der Erze zum Mond transportierte. Harbin wusste, dass, wenn man ihn ermorden wollte, dies der richtige Zeitpunkt und Ort gewesen wäre.
Anscheinend glaubten Grigor und seine Vorgesetzten seine Behauptung, dass er vollständige Aufzeichnungen von der Kaperfahrt der Shanidar an ein paar Freunde auf der Erde gesendet hatte. Sonst hätten sie ihn schon beseitigt oder es zumindest versucht. Nur dass Harbin keine Freunde hatte — weder auf der Erde noch sonst wo. Höchstens Bekannte; ein paar verstreute Leute, denen er bedingt vertrauen konnte. Aber keine Familie; die war ausgelöscht worden, als er noch ein Kind war.
Harbin hatte eine Kopie des Logbuchs der Shanidar an drei Personen gesendet, die er seit vielen Jahren kannte:
Eine an den Feldwebel, der ihn bei den Friedenstruppen ausgebildet hatte und der nun im Ruhestand in einem Ort namens Pennsylvania lebte; die zweite an den alten Imam aus seinem Heimatdorf und die dritte an die Witwe eines Mannes, dessen Ermordung er beim letzten Besuch in seinem Heimatland gerächt hatte.
Die Anweisungen respektive die Bitte, die er zusammen mit den Logbüchern abgeschickt hatte, besagten, dass die Empfänger die Daten an die Medien weiterleiten sollten, falls sie von Harbins Tod erfuhren. Er wusste, wenn Grigor den Auftrag erhalten hatte, ihn zu töten, würde vermutlich niemand auf der Erde jemals von seinem Tod erfahren. Doch schon die vage Möglichkeit, dass das Logbuch der Shanidar der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, genügte, um Grigor zurückzuhalten. Zumindest glaubte Harbin, dass es sich so verhielt.
Man hätte seine Ermordung aber leichter vertuschen können, wenn sie ihn an Bord des Schiffs umgebracht hätten, sagte Harbin sich. Der Umstand, dass er nun in diesem Einraum-Apartment in Selene einquartiert war, sagte ihm, dass sie nicht vorhatten, ihn zu töten. Zumindest jetzt noch nicht.
Er entspannte sich ein wenig. Zumal der Raum gar nicht mal so schlecht war: fast schon geräumig, jedenfalls im Vergleich zu den beengten Verhältnissen eines Raumschiffs. Der Kühlschrank und die Küchenschränke waren gut bestückt; Harbin beschloss jedoch, alles im Recycler zu entsorgen und in Selenes Lebensmittelmarkt einkaufen zu gehen.
Er schaute gerade unter dem Spülbecken nach, um zu kontrollieren, ob die Wasserversorgung mit irgendwelchen Gimmicks manipuliert wurde, als er ein leichtes Klopfen an der Tür hörte.
Grigor, sagte er sich. Oder einer seiner Leute.
Er stand auf, schloss den Küchenschrank und legte die sechs Schritte zur Tür zurück; er spürte die beruhigende Solidität des Elektrodolchs, den er unter dem weiten Ärmel des Gewands an der Innenseite des rechten Handgelenks befestigt hatte. Er hatte den Akku im Griff des Dolchs aufgeladen, gleich nachdem er das Apartment betreten hatte — sogar noch vor dem Auspacken.
Er schaute auf den kleinen Monitor neben der Tür. Es war aber nicht Grigor. Sondern eine Frau. Harbin zog die ziehharmonikaartige Tür langsam zurück, wobei er auf den Zehenballen balancierte und bereit war, schnell zur Seite zu springen, falls die Frau eine Waffe auf ihn richtete.
Sie wirkte überrascht. Harbin sah, dass sie beinahe so groß war wie er: Sie war schlank, hatte dunkle Haut und noch dunkleres Haar, dessen Locken ihr über die Schulter fielen. Sie trug einen ärmellosen, schlichten Sweater, der wenig enthüllte, aber viel andeutete. Dazu eine enge Hose und weiche, geschmeidige Stiefel.
»Sie sind Dorik Harbin?«, fragte sie in einem samtigen Contraalt.
»Und wer sind Sie?«, lautete seine Gegenfrage.
»Diane Verwoerd«, sagte sie und betrat den Raum, wobei Harbin sich vom Eingang zurückdrehen musste, um sie durchzulassen. »Ich bin Martin Humphries’ persönliche Assistentin.«
Diane musterte ihn von Kopf bis Fuß und sah einen großen, schlanken, hart blickenden Mann mit einem dunklen Rauschebart und dem Argwohn der ganzen Welt in den kalten blauen Augen. Seltsame, erschreckende Augen, sagte sie sich. Die Augen eines toten Mannes. Killeraugen. Er trug einen gewöhnlichen Overall, der durch das lange Tragen zwar ausgebleicht, doch so sauber und akkurat wie eine Militäruniform war. Ein starker, muskulöser Körper steckte unter der Kleidung, sagte sie sich. Ein beeindruckender Mann für einen angeheuerten Killer.
»Ich hätte eigentlich Grigor erwartet«, sagte Harbin.
»Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht enttäuscht«, sagte sie und ging durch den Raum zum Sofa.
»Überhaupt nicht. Sie sagten, Sie seien Humphries’ persönliche Assistentin?«
Sie setzte sich und schlug die langen Beine übereinander. »Ja.«
»Werde ich ihn sehen?«
»Nein. Sie werden mit mir vorlieb nehmen müssen.«
Harbin sagte nichts. Stattdessen ging er zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Wein heraus. Sie schaute zu, wie er sie öffnete und dann im Küchenschrank über der Spüle nach Weingläsern suchte. Ob er versucht, Zeit für eine Antwort zu schinden, fragte Verwoerd sich. Schließlich holte er zwei einfache Wassergläser heraus und schüttete etwas Wein hinein.
»Ich bin erst vor ein paar Stunden angekommen«, sagte er und gab ihr ein Glas. Dann zog er den Schreibtischstuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. »Ich muss mich erst noch zurechtfinden.«
»Ich hoffe, Sie fühlen sich in diesem Raum wohl«, sagte sie.
»Es geht.«
Sie wartete darauf, dass er noch etwas sagte, aber er musterte sie nur mit diesen stechenden blauen Augen. Nicht dass er sie mit den Augen ausgezogen hätte. Es lag absolut nichts Sexuelles in diesem Blick. Er war … sie suchte nach dem richtigen Wort: beherrscht. Das ist es: Er hat sich völlig unter Kontrolle. Jede Geste, jedes Wort, das er sagt. Ich frage mich, wie er hinter diesem Bart aussieht, sagte Verwoerd sich. Ist er der markante, gut aussehende Typ oder kaschiert der Bart nur ein sanftes Weichei-Kinn? Markant und gut aussehend, vermutete sie.
Das Schweigen zog sich in die Länge. Sie nahm einen Schluck Wein. Etwas herb. Vielleicht wird er besser, wenn er eine Weile geatmet hat. Harbin rührte seinen Wein indes nicht an; er hielt das Glas in der linken Hand und schaute sie unverwandt an.
»Wir haben viel zu besprechen«, sagte sie schließlich.
»Wohl wahr.«
»Sie scheinen zu befürchten, dass wir Sie loswerden wollen.«
»Ich würde das jedenfalls versuchen, wenn ich in Ihrer Lage wäre. Ich bin nun eine Hypothek für Sie, nicht wahr?«
Er ist von einer geradezu brutalen Offenheit, sagte sie sich. »Mr. Harbin, ich möchte Ihnen versichern, dass wir durchaus nicht die Absicht haben, Ihnen etwas anzutun.«
Bei diesen Worten lächelte er, und sie sah kräftige weiße Zähne hinter dem dichten schwarzen Bart.
»Vielmehr hat Mr. Humphries mir gesagt, dass ich Ihnen einen Bonus für die Arbeit geben soll, die Sie geleistet haben.«
Er schaute sie für eine Weile finster an und sagte dann: »Was soll diese Scharade? Sie wollten, dass ich Fuchs töte, und ich habe versagt. Nun ist er hier in Selene und bereit auszusagen, dass Sie hinter den Angriffen auf die Prospektorenschiffe stehen. Wieso sollten Sie mir dafür einen Bonus zahlen wollen?«
»Wir wollen für Ihr Schweigen zahlen, Mr. Harbin.«
»Weil Sie genau wissen, dass das Logbuch des Schiffs an die Medien geht, wenn Sie mich töten.«
»Wir haben nicht die Absicht, Sie zu töten.« Verwoerd nickte in Richtung seines unberührten Glases. »Sie können den Wein unbesorgt trinken.«
Er stellte das Glas auf den dünnen Teppichboden. »Mrs. Verwoerd …«
»Diane«, bot sie ihm spontan an.
Er neigte leicht den Kopf. »Also Diane. Lassen Sie mich erklären, wie das in meinen Augen aussieht.«
»Bitteschön.« Sie wurde sich bewusst, dass er ihr nicht anbot, ihn mit dem Vornamen anzureden.
»Ihre Firma hat mich angestellt, um die unabhängigen Prospektoren aus dem Gürtel zu vertreiben. Ich habe ein paar ihrer Schiffe außer Gefecht gesetzt, doch dann ist dieser Fuchs mir in die Quere gekommen. Und dann haben Sie mich beauftragt, Fuchs zu beseitigen, und das ist nicht gelungen.«
»Wir sind zwar enttäuscht, Mr. Harbin, aber das bedeutet doch nicht, dass Sie einen Grund haben, um Ihre Sicherheit zu fürchten.«
»Wirklich nicht?«
»Diese Anhörung ist kein Problem für uns. Sie bietet uns sogar die Gelegenheit, Fuchs auf eine andere Art und Weise beizukommen. Sie haben Ihren Part in dieser Operation gespielt. Nun möchten wir Sie nur noch auszahlen und Ihnen für Ihre Arbeit danken. Ich weiß, dass es nicht leicht für Sie war.«
»Leute wie Sie wenden sich auch nicht mit leichten Aufträgen an Leute wie mich«, sagte Harbin.
Er hat gar keine Angst, erkannte Verwoerd. Er ist weder ängstlich noch enttäuscht oder zornig. Er ist wie ein Eisblock. Keine sichtbaren Emotionen. Nein, korrigierte sie sich. Er ist eher wie ein Panther, ein geschmeidiger, tödlicher Räuber. Er hat jeden Muskel im Körper unter Kontrolle und ist jederzeit zum Sprung bereit. Er könnte mich im Handumdrehen töten, wenn er wollte.
Sie verspürte ein seltsames Verlangen. Ich frage mich, wie er wohl wäre, wenn es mir gelänge, diese Kontrolle zu überwinden. Was wäre es für ein Gefühl, diese ganze aufgestaute Energie in mir zu haben? Sie spürte ein Kribbeln im Unterleib. Nicht jetzt. Später, rief sie sich zur Ordnung. Wenn die Anhörung vorbei ist. Wenn wir unbeschadet aus der Anhörung herauskommen, dann werde ich mich von ihm ficken lassen. Und wenn nicht … ich würde es hassen, damit beauftragt zu werden, ihn zu töten. Wenn es wirklich dazu kommt, werden wir ein ganzes Team für den Job brauchen. Ein Team aus Spitzenleuten.
Aber wieso sollte man überhaupt in Erwägung ziehen, ihn umzubringen, fragte sie sich. Stattdessen sollte man ihn lieber benutzen!
Ob es mir gelingt, mich seiner Loyalität zu versichern, fragte sie sich. Ob ich ihn für meine persönlichen Ziele einspannen kann? Das wäre toll, sagte sie sich mit einer innerlichen Befriedigung. Das wäre vielleicht sehr angenehm.
»Da wäre aber noch etwas, das Sie für uns erledigen könnten, bevor Sie … äh, in den Ruhestand gehen«, sagte sie laut.
»Und das wäre?«, fragte er ruhig und schaute ihr in die Augen.
»Sie müssen nach Ceres fliegen. Ich kann einen Expressflug für Sie arrangieren. Aber das muss ohne jedes Aufsehen stattfinden; niemand darf davon erfahren. Nicht einmal Grigor.«
Er schaute sie für eine Weile durchdringend an. »Nicht einmal Grigor?«, murmelte er.
»Nein. Sie werden direkt mir berichten.«
Harbin lächelte wieder, und sie fragte sich erneut, wie er wohl ohne diesen Bart aussehen würde.
»Rasieren Sie sich eigentlich nie?«, fragte sie.
»Das hatte ich gerade vor, als Sie anklopften.«
Ein paar Stunden später lag Diane schweißgebadet neben ihm im Bett. Wow! Sie grinste triumphierend. Delilah zu sein war ein Hochgenuss.
Harbin drehte sich zu ihr um und streichelte ihr die Taille. »Diese Angelegenheit auf Ceres«, sagte er zu ihrer Überraschung.
»Ja?«
»Wen soll ich umbringen?«