Kapitel 30

Amanda hatte die Helvetia GmbH erst seit ein paar Tagen allein geleitet, als sie zum Schluss gelangte, dass sie keinen Ersatzmann für Niles Ripley einstellen musste. Ich bin selbst imstande, das Systemmanagement zu erledigen, wurde sie sich bewusst.

Das Habitat war mehr als zur Hälfte fertig gestellt, sodass quasi ein Generalist als Bauleiter gebraucht wurde: ein Koordinator, der sich in den verschiedenen technischen Bereichen auskannte, auf denen das Bauprogramm beruhte. Amanda hatte während der Ausbildung zur Astronautin und der anschließenden Praxis selbst beachtliche technische Fertigkeiten erworben. Nun musste sie nur noch die Frage beantworten, ob sie die Stärke und das Rückgrat hatte, eine Kompanie von Bautechnikern zu führen.

Die meisten von ihnen waren nämlich Männer, und die meisten Männer waren wiederum jung und standen voll im Saft. Überhaupt herrschte in Ceres ein Männerüberschuss im Verhältnis von sechs zu eins. Die Quote beim Bauprojekt war jedoch günstiger: Im Team kamen ›nur‹ drei Männer auf eine Frau, wie Amanda bei der Durchsicht der Personaldatei sah.

Sie saß am Schreibtisch und sagte sich, wenn Lars hier wäre, dann wäre alles in Butter. Andererseits würde Lars, wenn er denn hier wäre, die Aufgabe selbst übernehmen oder jemanden dafür einstellen. Also bleibt es an dir hängen, altes Mädchen, sagte Amanda sich kopfschüttelnd. Du musst es für Lars tun und für alle Leute, die hier in Ceres leben.

Nein. Nicht nur für sie, sagte Amanda sich, als sie in den Spiegel über der Frisier- und Ankleidekommode ihres Einraum-Quartiers schaute. Du musst es für dich tun.

Sie stand auf und musterte sich im Spiegel. Es ist das immergleiche, alte Problem: Die Männer werden mich als Sexualobjekt betrachten, und die Frauen werden mich als Konkurrenz ansehen. Das hat natürlich auch seine Vorteile, doch in diesem Fall überwiegen die Nachteile die Vorteile. Also waren ein Schlabber-Sweatshirt und eine weite Hose angesagt. Sparsames Make-up und hochgesteckte Haare.

Ich kann es schaffen, sagte sie sich. Lars wird stolz auf das sein, was ich zustande gebracht habe.

Sie steckte sich ein Ziel: Ich werde dieses Projekt so gut managen, dass Lars, wenn er zurückkommt, mich bis zur Fertigstellung dabeihaben will.

Obwohl sie sich dagegen wehrte, vermochte sie nicht die ängstliche Stimme in ihrem Bewusstsein zu verdrängen, die sagte, falls Lars zurückkehrt.


* * *

»Er kommt näher!«, rief Nodon.

George zuckte im Kugelhelm zusammen und sagte unwirsch: »Das sehe ich selbst! Und ich kann dich, verdammt noch mal, auch hören. Kein Grund so zu schreien.«

Die beiden Männer in den Raumanzügen zogen am großen Zielspiegel des Schneidlasers; die Anzüge beeinträchtigten sie in ihrer Bewegungsfreiheit, während sie versuchten, die zwei miteinander verbundenen Kupferplatten in der Drehpfanne zu montieren. Dabei war die Montage der Spiegel an sich gar nicht einmal das Problem, sondern die präzise Ausrichtung. Der Laser war dafür gedacht, Erzproben aus Asteroiden zu fräsen und nicht etwa kleine, bewegliche Ziele zu treffen.

»Lars, du musst uns drehen, damit wir ihn im Blick behalten«, rief George zur Brücke.

»Ich tue mein Bestes«, sagte Fuchs unwirsch. »Ich muss aber alles von Hand erledigen. Das Steuerprogramm ist dafür nicht konzipiert.«

George versuchte die Spiegel als Visierlinie zu nehmen und schlug mit der gewölbten Vorderseite des Helms gegen das Gerät. Wüst fluchend richtete er den Laser aus, so gut es eben ging.

»So bleiben«, sagte er zu Fuchs. »Der Bastard kommt direkt auf uns zu.«

»Sag mir, wenn ich feuern soll«, sagte Nodon und beugte sich übers Steuerpult.

»Jetzt«, sagte George. »Drück drauf!«

Er schaute angestrengt, ob der Strahl irgendeine Wirkung auf das sich nähernde Schiff zeigte. Wir können ihn gar nicht verfehlen — nicht auf diese Entfernung, sagte George sich. Trotzdem schien sich zunächst nichts zu tun. Das angreifende Schiff kam immer näher. Plötzlich brach es seitlich aus und fiel nach unten weg.

»Er manövriert!«, stellte Nodon überflüssigerweise fest.

»Schalte den Laser aus«, befahl George ihm und rief zu Fuchs auf der Brücke hinauf: »Dreh uns, verdammt! Wie soll ich ihn denn treffen, wenn wir den abgefuckten Laser nicht auf ihn richten?«


* * *

Eine weitere rote Lichterkette leuchtete auf Harbins Steuerkonsole auf. Die Treibstofftanks. Er durchlöchert sie.

Er war nun im Raumanzug. Als er sich bewusst geworden war, dass die Starpower das Feuer erwiderte, hatte er den Anzug angelegt und dann die Shanidar wieder in die Schlacht geführt.

Das Steuerprogramm lief aus dem Ruder. Das Schwein hatte einen fast vollen Tank getroffen, und der aus dem Leck austretende Treibstoff wirkte wie eine Schubdüse, die ihn seitlich und nach unten von der Richtung abbrachte, die er eigentlich einschlagen wollte. Er musste den störenden Schub manuell ausgleichen, denn er hatte keine Zeit, die Steuerung neu zu programmieren, damit sie den Ausgleich automatisch vornahm. Zumal der Tank leer wäre, bis er den blöden Computer neu programmiert hätte, und dann müsste er ohnehin keinen Schub mehr ausgleichen.

Dennoch half ihm der entweichende Treibstoff in gewisser Weise. Er veranlasste die Shanidar nämlich zu einer ebenso abrupten wie unerwarteten Kursänderung, die es dem Feind erschwerte, ihn im Visier des Lasers zu halten.

Aber ich kann es mir nicht leisten, Treibstoff zu verlieren, tobte Harbin stumm. Sie werden mich umbringen.

Die Amphetamine, die er manchmal einwarf, bevor er in den Kampf zog, nützten ihm nun auch nichts. Er war schon hellwach, und die Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Er hätte nun eher etwas gebraucht, das ihn beruhigte, ohne jedoch die Reaktionsfähigkeit zu beeinträchtigen. Er hatte wohl einen Vorrat mit solchen Präparaten an Bord. Doch im Raumanzug war dieser Drogenvorrat unerreichbar und nutzlos für ihn.

Ich brauche keine Drogen, sagte er sich. Ich kann sie auch so schlagen.

Er schaltete die optischen Sensoren auf die höchste Vergrößerung und konzentrierte sich auf den Bereich, wo er das rote Licht ihres Führungslasers hatte aufblitzen sehen. Von dort droht Gefahr. Wenn ich den Strahl ihres Ziellasers sehe, dann können sie mich auch mit dem Infrarotschneider treffen.

Er legte sich schnell einen Schlachtplan zurecht. Ich muss die Schubdüsen so zünden, dass ich aufwärts durch ihr Blickfeld fliege. Wenn ich das Licht ihres Führungslasers sehe, feuere ich auf sie. Ich gebe einen Schuss ab und bin nach oben aus ihrem Blickfeld verschwunden, bevor sie das Feuer erwidern können. Wenn ich ihren Laser erst einmal außer Gefecht gesetzt habe, kann ich sie nach Belieben in Stücke schießen.


* * *

Auf den Monitoren, die sich im Halbkreis um ihn zogen, sah Fuchs, wie das angreifende Raumschiff nach unten wegfiel und als geisterhafter Gasschwaden, der im Licht der fernen Sonne schwach glitzerte, sich von ihnen entfernte. Er sah einen langen dünnen Riss, der über einen der bauchigen Treibstofftanks des Schiffs verlief.

»Du hast ihn getroffen, George!«, sagte Fuchs ins Helmmikrofon. »Ich sehe die Trefferstelle!«

»Dann dreh uns, damit ich ihm noch einen Treffer verpassen kann!«, erwiderte George. Er klang gereizt.

Fuchs betätigte die Steuertastatur und wünschte sich, er hätte mehr Geschick beim Fliegen eines Raumschiffs. Die Starpower war schließlich nicht für Kunstflüge gebaut. Pancho hat Recht, sagte er sich. Wir sind zu langsam und träge.


* * *

In der Ladebucht starrte George in die Leere.

»Wo, zum Fuck, ist er?«, nörgelte er.

»Noch immer unterhalb der Visierlinie«, ertönte Fuchs’ Antwort in den Ohrhörern.

»Dann dreh uns in seine Richtung!«

»Das Gerät muss sich noch abkühlen«, sagte Nodon. »Der Kühlmittelfluss ist zu schwach.«

»Ich brauche eh nur ein paar Sekunden, Kumpel«, sagte George, »wenn wir ihn erst wieder im Blickfeld haben.«

Er ging zum Rand der Ladeluke und schaute nach unten in die Richtung, in die das angreifende Schiff verschwunden war.

»Da ist er!«, rief George. »Kommt uns wieder entgegen.«

Der Angreifer kam schnell auf sie zu. George drehte sich zum Laser um. »Feuer!«, rief er Nodon zu.

»Feuer!«, bestätigte Nodon.

Ein gleißender Lichtblitz schockte George. Er wurde von den Füßen gerissen, und dann prallte irgendetwas mit einer solchen Wucht gegen ihn, dass er wie ein außer Kontrolle geratenes Gyroskop umherwirbelte. Verschwommen und mit Tränen in den Augen sah er einen Arm im Raumanzug an sich vorbeifliegen. Blut spritzte aus der direkt überm Ellbogen abgetrennten Extremität, und dann verschwand sie wirbelnd aus seinem Blickfeld. Er hörte jemanden vor Schmerz und Wut schreien, bis er sich bewusst wurde, dass er selbst es war.


* * *

Ich bin ein toter Mann, sagte Harbin sich.

Seltsamerweise schien diese Erkenntnis ihm keine Angst zu machen. Er lehnte sich entspannt im Raumanzug zurück, nachdem die Anspannung des Gefechts nun von ihm abgefallen war.

Sie haben mich erwischt, sagte er sich. Ich frage mich, ob sie das auch wissen.

Sein Plan, den feindlichen Laser auszuschalten, hatte immerhin funktioniert. Er war förmlich in ihr Blickfeld geplatzt und hatte ihnen eine Ladung verpasst, als er den roten Punkt ihres Führungslasers sah. Es war ihnen nicht gelungen, ihren Laser rechtzeitig aufzuladen und auf ihn zu schießen; dessen war er sich sicher.

Harbin wusste, dass er ihren Laser mit diesem ›Schuss aus der Hüfte‹ zerstört hatte. Allerdings war der kontinuierliche Strahl des Bergbaulasers dabei quer über die Shanidar gewandert. Er hatte einen langen Riss in zwei der restlichen Treibstofftanks gefräst und sich dann tief ins Habitatmodul gebohrt.

Ich werde diesen verdammten Anzug anbehalten müssen, sagte er sich missmutig. Und für wie lang? Bis die Luft knapp wird. Sie wird noch für ein paar Stunden, vielleicht auch für einen Tag oder so reichen. Aber nicht länger.

Er stieß sich vom Kommandantensitz ab und sagte sich, natürlich könnte ich auch die Sauerstofftanks des Schiffs anzapfen. Wenn der Recycler nicht beschädigt ist, würde die Luft noch für Monate, vielleicht sogar ein ganzes Jahr oder noch länger reichen. Dann würde ich eben verhungern anstatt zu ersticken.

Aber darauf kommt es ohnehin nicht mehr an. Ich bin im freien Fall und habe zu wenig Treibstoff, um einen Tanker oder irgendeine andere Hilfe zu erreichen. Er beugte sich etwas vornüber, um die Steueranzeigen durch den Anzugshelm zu überprüfen und sah, dass der Stromgenerator des Schiffs unbeschädigt war. Also hätte er auf jeden Fall genug elektrische Energie, um die Systeme aufrechtzuerhalten. Er könnte sogar die Hülle des Habitatmoduls flicken, den Luftdruck wieder normalisieren und den Anzug ablegen.

Aber wozu? Um hilflos durch den Gürtel zu treiben, bis ich sterbe.

Du könntest den nächsten Tanker anrufen und ihn bitten, dich an Bord zu nehmen, sagte er sich. Im Computer sind alle Positionen gespeichert, und du könntest sie mit einem Bündellaser-Signal anfunken.

Aber würden sie mir überhaupt zu Hilfe kommen? Nicht, ehe sie mit der HSS-Zentrale Rücksprache gehalten hätten. Grigor wird gar nicht erfreut sein, wenn er erfährt, dass es mir nicht gelungen ist, die Starpower zu eliminieren. Inzwischen werden Fuchs und seine Freunde der IAA wahrscheinlich alles brühwarm erzählen. Würde Grigor ihnen sagen, dass sie mich bergen sollen, oder würde er sich sagen, dass es besser wäre, mich still und leise sterben zu lassen?

Still und leise. Harbin lächelte. Das ist der Schlüssel. Geh nicht still in diese schöne Nacht hinaus, rezitierte er stumm. Schrei aus voller Kehle gegen das ersterbende Licht an.

Auf einem freien Kanal setzte er einen Ruf an Grigor ab.

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