Lars Fuchs brauchte nicht länger als fünf Minuten, um eine Entscheidung zu treffen. Er rief die Flugdatenhistorie der Waltzing Matilda auf. Aus den Daten, die sie telemetrisch an die IAA gesendet hatten, ging unzweifelhaft hervor, dass Big George und sein Besatzungsmitglied an einem recht großen kohlenstoffhaltigen Asteroiden gearbeitet hatten. Sie hatten begonnen, ihn auszubeuten, als die Verbindung zu ihrem Schiff plötzlich abgebrochen war. Versuche der IAA-Controller auf Ceres, Kontakt zu ihnen aufzunehmen, waren erfolglos geblieben.
Ich brauche Beweise, sagte Fuchs sich, während er die Flugdaten auf dem Hauptbildschirm studierte. Wenn es mir gelingt, die Waltzing Matilda zu finden und Beweise dafür zu erbringen, dass das Schiff angegriffen wurde, habe ich endlich etwas in der Hand. Dann müssen die Behörden auf der Erde eingreifen und gründliche Untersuchungen über den Verbleib der verschollenen Schiffe anstellen.
Er saß allein auf der Brücke der Starpower und gab die Koordinaten des Asteroiden, an dem George gearbeitet hatte, in den Navigationscomputer ein. Seine Hand schwebte jedoch über der Taste, die das Programm aktivieren würde.
Ob ich der IAA überhaupt sagen soll, wohin ich fliege, fragte er sich.
Die Antwort war ein klares Nein. Wer auch immer die Schiffe der Prospektoren und Bergleute zerstört, muss genaue Informationen über ihren Kurs und ihre Position haben. Sie vermögen die Schiffe anhand der telemetrischen Daten aufzuspüren, die jedes Schiff automatisch aussendet.
Ich muss ›inkognito‹ fliegen, sagte Fuchs sich. Nicht einmal Amanda darf wissen, wo ich bin. Der Gedanke an das Risiko verursachte ihm Unbehagen; die Telemetriesignale wurden schließlich aus dem Grund gesendet, damit die IAA den Standort jedes Schiffs kannte. Aber wozu sollte das überhaupt gut sein, fragte Fuchs sich. Wenn ein Schiff in Not gerät, kommt ihm doch niemand zu Hilfe. Dafür ist der Gürtel einfach zu groß. Wenn ich ein Problem habe, bin ich auf mich gestellt. Durch die telemetrischen Daten erfährt die IAA lediglich, wo ich den Löffel abgegeben habe.
Fuchs brauchte fast den ganzen Tag, um den Telemetrie-Sender der Starpower auszubauen und ihn im Rettungsboot wieder zu installieren. Jedes Schiff verfügte mindestens über eine Rettungskapsel, in der sechs Personen für einen Monat zu überleben vermochten. Ein Beispiel für die so genannten Sicherheitsbestimmungen, die die IAA als wichtig erachtete, die aber in der Praxis sinnlos und geradezu lächerlich waren. Eine Rettungskapsel hatte Sinn bei einem Raumschiff, das in der Erde-Mond-Region unterwegs war — ein Rettungsschiff vermochte sie in ein paar Tagen, oft sogar innerhalb weniger Stunden zu erreichen. Hier draußen im Gürtel war eine Rettung jedoch Illusion. Dafür waren die Entfernungen einfach zu groß und der Rettungsschiffe zu wenige. Die Prospektoren wussten, dass sie auf sich selbst gestellt waren, sobald sie Ceres verließen.
Fuchs grinste insgeheim beim Gedanken daran, wie die Rettungsboote zweckentfremdet wurden: Als fliegende Lager, fliegende Unterkünfte und Mikrogravitations-Liebesnester — wenn man die Kapsel vom rotierenden Schiff trennte, wurde sie schwerelos.
Aber du, sagte er sich, während er den Telemetrie-Sender in die Rettungskapsel der Starpower einbaute, du wirst ein Lockvogel sein. Man wird dich für mich halten, während ich heimlich Kurs auf Georges Asteroiden nehme.
Nachdem er auf die Brücke zurückgekehrt war und auf dem Kommandantensitz Platz genommen hatte, dachte er an Amanda. Soll ich ihr sagen, was ich vorhabe? Er hätte es liebend gern getan, aber er befürchtete, dass die Nachricht von Humphries’ Leuten abgefangen wurde. Es ist offensichtlich, dass sie die IAA infiltriert haben, sagte Fuchs sich. Vielleicht haben sie sogar den Flug-Controller auf Ceres bestochen.
Falls der Rettungskapsel etwas zustößt, wird Amanda glauben, ich sei getötet worden. Wie soll ich ihr Bescheid geben?
Dann spürte er den Griff einer eisigen Hand ums Herz. Was würde Amanda tun, wenn sie mich für tot hält? Würde sie um mich trauern? Würde sie versuchen, mich zu rächen? Oder würde sie letztendlich zu Humphries zurückkehren? Das ist es, was er will. Deshalb will er mich tot sehen. Wird Amanda seinem Drängen nachgeben, wenn sie glaubt, dass ich nicht mehr bin?
Er hasste sich selbst dafür, so etwas auch nur zu denken. Aber der Gedanke drängte sich ihm auf. Er verzog das Gesicht zu einem zornigen Stirnrunzeln und biss die Zähne so fest zusammen, dass der Kiefer schmerzte. Dann haute er Befehle in die Tasten und schickte die Kapsel auf eine lange parabolische Flugbahn, die sie durch den Gürtel führen würde. Mit einer Willensanstrengung hielt er sich davon ab, eine Botschaft an seine Frau zu schicken.
Nun bin ich allein, sagte Fuchs sich und steuerte die Starpower in die Richtung des Asteroiden, vom dem Georges letztes Lebenszeichen gekommen war.
Diane Verwoerd las ihre Lieblingspassage in der Bibel: Die Geschichte vom ungetreuen Haushälter, der seinen Herrn betrog, um sich im Alter sanft zu betten.
Immer wenn sie Gewissensbisse wegen ihrer Handlungsweise bekam, schlug sie in Lukas 16, 1-3 nach. Das beruhigte sie dann wieder. Die wenigsten Menschen verstanden nämlich die wahre Botschaft der Geschichte, sagte sie sich, während sie die uralten Worte auf dem Wandbildschirm ihres Apartments las.
Der Diener wurde entlassen, als sein Herr schließlich von seinem Betrug erfuhr. Die Quintessenz der Geschichte war aber die, dass der Diener seinen Herrn nicht um eine so große Summe betrogen hatte, dass es den Herrn nach Rache gelüstete. Er feuerte den Kerl nur. Und in all den Jahren, die der Diener für seinen Herrn gearbeitet hatte, hatte er genug zurückgelegt, um sich einen gemütlichen Lebensabend zu machen. Eine Art Reservefallschirm, von dem der Boss nichts wusste.
Verwoerd lehnte sich behaglich im Liegesessel zurück. Er passte sich an die Kurven ihres Körpers an und spendierte ihr eine sanfte und entspannende Massage. Das Möbel hatte ursprünglich Martin Humphries gehört, doch dann hatte sie ihm eine Anzeige für ein neueres Modell gezeigt, das er sich sofort beschafft hatte. Er hatte sie angewiesen, das alte Teil zu entsorgen. Also hatte sie es aus seinem Büro entfernt und in ihrer Unterkunft aufgestellt.
Per Sprachbefehl wies sie den Computer an, einen Auszug ihres Investmentkontos abzubilden. Die Zahlen füllten den Wandbildschirm sofort aus. Nicht schlecht für ein Mädchen aus den Slums von Amsterdam, beglückwünschte sie sich. Du hast die allgegenwärtigen Versuchungen der Prostitution und Drogenabhängigkeit konsequent gemieden und bist nicht einmal in die Verlegenheit gekommen, die Mätresse so eines reichen Furzes werden zu müssen. Soweit, so gut.
Sie sprach wieder mit dem Computer, und die Liste der Asteroiden, die sie persönlich beanspruchte, erschien auf dem Bildschirm. Es war nur ein halbes Dutzend der kleineren Gesteinsbrocken, doch sie produzierten reichlich Erz und warfen hohe Profite ab. Die Steuern würden den Gewinn zwar erheblich schmälern, aber Verwoerd erinnerte sich daran, dass keine Regierung Steuern auf Geld erheben kann, das man gar nicht hat. Zahl die Steuern und freu dich über deinen Besitz, sagte sie sich.
Natürlich glaubte Martin, dass HSS die Rechte an diesen Asteroiden hielt. Doch bei den vielen anderen Dingen, die er in seinen Klauen hatte, lag ein bloßes halbes Dutzend unterhalb seiner Wahrnehmungsschwelle. Zumal er sich ohnehin immer vertrauensvoll an seine Assistentin wandte, wenn er irgendetwas kontrollieren wollte.
Sie löschte die Liste vom Bildschirm, und die Bibelverse wurden wieder eingeblendet.
In ein paar Jahren werde ich in der Lage sein, in einen sehr komfortablen Ruhestand zu gehen, sagte Verwoerd sich. Es läuft alles prima, solange ich nicht zu gierig werde — und solange ich mir Martin vom Hals halte. In dem Moment, wo ich ihm nachgebe, sind meine Tage als Angestellte bei HSS gezählt.
Sie sah ihr Bild im Spiegel auf der anderen Seite des Raums und lächelte. Vielleicht werde ich es noch mal kurz mit ihm versuchen, bevor ich den Absprung mache. Wenn er mich feuert, bekomme ich eine Abfindung. Oder zumindest ein nettes kleines Abschiedsgeschenk von Martin. So ist er eben.
Sie wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und widmete sich wieder den Bibelworten. Beim letzten Vers runzelte sie die Stirn:
Kein Knecht kann zwei Herren dienen: entweder wird er den einen hassen und den andern lieben oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.
Vielleicht, sagte Diane Verwoerd sich. Aber ich diene Martin Humphries auch nicht. Ich arbeite nur für ihn. Ich werde ziemlich wohlhabend durch ihn. Aber ich bin keines Herren Knecht.