Kris Cardenas sah noch immer kaum älter aus als dreißig. Selbst in einem schmutzigen, schäbigen Weltraum-Habitat, das aus einem von Ceres’ unzähligen Höhlen gehauen war, wirkte sie mit ihren saphirblauen Augen und den athletischen Schultern wie eine kalifornische Surferin.
Das lag daran, dass ihr Körper mit therapeutischen Nanomaschinen gespickt war — virengroßen Geräten, die Fett- und Cholesterolmoleküle im Blut zerlegten, beschädigte Zellen reparierten und die Haut glatt und die Muskeln straff hielten. Die Nanomaschinen fungierten als zielgerichtetes Immunsystem, das den Körper vor eindringenden Mikroben schützte. Nanotechnologie war auf der Erde verboten; Dr. Kristin Cardenas, Nobelpreisträgerin und ehemalige Leiterin des Nanotechnologie-Labors von Selene, war in Ceres im Exil.
Für eine Exilantin, die sich für ein Leben an der Grenze der menschlichen Zivilisation entschieden hatte, wirkte sie jedoch fröhlich und heiter, als sie Amanda und Lars Fuchs begrüßte.
»Wie geht es Ihnen beiden?«, fragte sie und führte sie in ihr Quartier. Der gewundene Tunnel vor der Tür war eine natürliche Lavaröhre, die grob geglättet worden war. Die Luft dort draußen war leicht diesig wegen des Feinstaubs; wenn jemand in Ceres sich bewegte, wirbelte er jedes Mal den Gesteinsstaub auf, und wegen der geringen Schwerkraft des Asteroiden hing der Staub dann ständig in der Luft.
Amanda und Fuchs schlurften über den nackten Felsboden von Cardenas’ Unterkunft und gingen zur Couch — eigentlich zwei Liegesitze, die aus einem Raumschiff ausgebaut worden waren, das auf Ceres notgelandet war. Die Sicherheitsgurte baumelten noch immer an den Seiten. Fuchs hustete, als er sich hinsetzte.
»Ich werde die Ventilatoren einschalten«, sagte Cardenas und ging zum Steuerpult, das in die entgegengesetzte Wand des Raums integriert war. »Damit der Staub sich setzt und das Atmen leichter fällt.«
Amanda hörte das Wimmern eines Lüfters irgendwo hinter den Wänden. Obwohl sie mit einer langärmeligen, hochschließenden Springerkombi bekleidet war, fror sie. Der nackte Fels fühlte sich immer kalt an. Wenigstens war er trocken. Und Cardenas hatte versucht, die unterirdische Kammer mit Holofenstern aufzupeppen, die Ansichten von bewaldeten Hügeln und Blumengärten auf der Erde zeigten. Sie hatte sogar ein dezentes Raumspray versprüht, dessen Duftnote Amanda daran erinnerte, wie sie als Kind in einer richtigen Badewanne mit warmem Wasser und duftender Seife gebadet hatte.
Cardenas zog einen alten Laborhocker unterm Tisch hervor, setzte sich den Besuchern gegenüber und hakte die Beine ein. »Wie geht es Ihnen?«, fragte sie ihre Besucher erneut.
Fuchs schaute sie fragend an. »Wir sind doch hergekommen, damit Sie es herausfinden.«
»Ach so, die Untersuchung.« Cardenas lachte. »Die findet morgen in der Klinik statt. Wie läuft das Geschäft? Was gibt’s Neues?«
»Ich glaube, dass wir imstande sind, das Habitatprojekt voranzutreiben«, antwortete Fuchs mit einem Seitenblick auf Amanda.
»Wirklich? Ist Pancho einverstanden …«
»Nicht mit Astros Hilfe«, sagte er. »Wir werden es aus eigener Kraft schaffen.«
Cardenas’ Augen verengten sich. »Halten Sie das denn für sinnvoll, Lars?«
»Wir haben im Grunde keine Wahl. Pancho würde uns helfen, wenn sie könnte, doch Humphries wird sie sofort blockieren, wenn sie die Sache im Astro-Vorstand auf die Tagesordnung setzt. Ihm ist nicht daran gelegen, dass wir die Lebensbedingungen hier verbessern.«
»Er will hier ein Depot einrichten«, sagt Amanda. »Das heißt, Humphries Space Systems will das tun.«
»Dann werden Sie und die anderen Felsenratten dieses Habitatprogramm also selbst finanzieren?«
»Ja«, sagte Fuchs bestimmt.
Cardenas erwiderte nichts. Sie umfing die Knie und schaukelte mit einem nachdenklichen Ausdruck leicht auf dem Hocker vor und zurück.
»Wir können es schaffen«, bekräftigte Fuchs.
»Sie werden ein Team von Spezialisten brauchen«, sagte Cardenas. »Das ist nichts, was Sie und Ihre Prospektorenkollegen einfach so improvisieren könnten.«
»Ja. Das weiß ich.«
»Lars, ich habe nachgedacht«, sagte Amanda langsam. »Während du an diesem Habitatprojekt arbeitest, wirst du doch hier in Ceres bleiben müssen, nicht wahr?«
Er nickte. »Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, die Starpower an jemanden zu vermieten und für die Dauer des Projekts hier im Asteroiden zu leben.«
»Und wie wollen Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen?«, warf Cardenas ein.
Er breitete die Hände aus. »Ich glaube, ich weiß es«, sagte Amanda, bevor er noch etwas erwidern konnte.
Fuchs schaute sie verwirrt an.
»Wir könnten Lieferanten für die anderen Prospektoren werden«, sagte Amanda. »Wir können ein eigenes Lagerhaus aufmachen.«
Cardenas nickte.
»Wir könnten als Zwischenhändler für Astro auftreten«, fuhr Amanda fort und wurde mit jedem Wort fröhlicher. »Wir beziehen die Waren von Pancho und verkaufen sie an die Prospektoren weiter. Wir könnten auch die Bergleute beliefern.«
»Die meisten Bergbauteams arbeiten aber für Humphries«, erwiderte Fuchs düster. »Oder für Astro.«
»Aber sie brauchen trotzdem Vorräte«, sagte Amanda nachdrücklich. »Selbst wenn sie die Ausrüstung von den Konzernen bekommen, benötigen sie noch immer Gegenstände des persönlichen Bedarfs: Hygieneartikel, Unterhaltungsvideos, Kleidung …«
Fuchs schnitt eine Grimasse. »Ich glaube nicht, dass du dich mit der Art von Unterhaltungsvideos abgeben willst, die diese Prospektoren bevorzugen.«
»Lars, wir könnten durchaus mit Humphries Space Systems konkurrieren, während du den Bau des Habitats leitest«, sagte Amanda ungerührt.
»Mit Humphries konkurrieren.« Fuchs ließ sich diese Idee förmlich auf der Zunge zergehen und kostete sie genüsslich aus. Dann grinste er, was selten genug vorkam. Sein breites, normalerweise düsteres Gesicht hellte sich auf. »Mit Humphries konkurrieren«, wiederholte er. »Ja. Ja, das können wir schaffen.«
Im Gegensatz zu den anderen sah Amanda die Ironie der ganzen Sache. Sie war die Tochter eines kleinen Krämers in Birmingham und hatte das Mittelklassemilieu und die Unterklassenarbeiter gehasst, mit denen ihr Vater Geschäfte machte. Die Jungs waren im besten Fall nur rüpelhaft und zudringlich, konnten aber genauso schnell gewalttätig werden. Und die Mädchen waren richtige Biester. Amanda entdeckte früh, dass Schönheit Fluch und Segen zugleich war. Sie fiel auf, wohin auch immer sie kam; ihre schiere Präsenz sorgte jedes Mal für Aufsehen. Und wenn sie erst einmal Aufmerksamkeit erregt hatte, musste sie nur noch erreichen, dass die Leute auch den hochintelligenten Menschen hinter dieser attraktiven Fassade wahrnahmen.
Schon als Teenager hatte sie gelernt, ihr gutes Aussehen einzusetzen, um Jungen nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, während sie zugleich ihren scharfen Intellekt nutzte, um ihnen immer einen Schritt voraus zu sein. Dann verließ sie ihr Elternhaus und ging nach London, wo sie sich einer Sprachschulung unterzog, um mit einem Oxford-Akzent zu sprechen und fand — zu ihrem ungläubigen Erstaunen — heraus, dass sie die Intelligenz und Fähigkeit besaß, eine erstklassige Astronautin zu werden. Sie wurde von der Astro Manufacturing Corporation eingestellt, um Missionen zwischen Erde und Mond zu fliegen. Mit dem atemberaubenden Äußeren und der scheinbaren Naivität vermutete fast jeder, dass sie sich nach oben gevögelt hatte. Doch das genaue Gegenteil war der Fall; Amanda hatte ihre liebe Not, sich der Männer — und Frauen — zu erwehren, die sie ins Bett ziehen wollten.
Und in Selene war sie dann Martin Humphries begegnet. Er hatte die bisher größte Gefahr für sie dargestellt: Er wollte Amanda, und er hatte die Macht, sich zu nehmen, was er wollte. Amanda hatte Lars Fuchs auch deshalb geheiratet, um Humphries zu entfliehen, und Lars wusste das.
Und nun stand sie kurz davor, hier an der Grenze der menschlichen Expansion ins Sonnensystem selbst eine Geschäftsfrau zu werden. Vater würde jubeln, sagte sie sich. Die Rache des Vaters: Das Kind trat schließlich doch in die Fußstapfen der Eltern.
»Humphries wird die Konkurrenz aber nicht schätzen«, gab Cardenas zu bedenken.
»Umso besser!«, rief Fuchs.
»Die Konkurrenz wird aber gut für die Prospektoren sein«, sagte Amanda, nachdem sie aus ihren Träumen erwacht war. »Und für die Bergleute. Dadurch werden nämlich die Preise sinken, die sie für Gebrauchsgüter zahlen müssen.«
»Der Ansicht bin ich auch«, sagte Cardenas. »Humphries wird das freilich nicht gefallen. Er wird überhaupt nicht erfreut sein.«
Fuchs lachte laut. »Umso besser«, wiederholte er.