Die Rekrutierung zuverlässiger Leute verursachte Amanda die größten Kopfschmerzen. Außerdem machte sie sich Sorgen um ihren Mann, der ganz allein da draußen im Gürtel umher flog und wie so viele andere auf der Suche nach dem großen Los war. Aber war er das wirklich? Ihre größte Sorge war aber, dass Lars Rache an Humphries nehmen wollte, indem er HSS-Schiffe angriff. Auch wenn er nicht dabei ums Leben kam, würde er doch ein Gesetzloser, ein Ausgestoßener werden.
Sie versuchte diese Gedanken zu verdrängen, während sie daran arbeitete, ihre Versorgungsgüter-Großhandlung mit dem Geld wiederaufzubauen, das sie von der Versicherung für den Brandschaden bekommen hatten.
Arbeitskräfte waren Mangelware auf Ceres. Die meisten Leute, die in den Gürtel kamen, waren als Prospektoren tätig. Sie suchten nach ergiebigen Asteroiden, deren Erz sie teuer verkaufen wollten. Selbst die alten Hasen, die aus bitterer Erfahrung gelernt hatten, dass die meisten Prospektoren kaum die Gewinnschwelle erreichen, während die Großkonzerne den Profit durch den Verkauf des Erzes einstrichen, machten sich trotzdem immer wieder auf die Suche nach dem ›großen Brocken‹, mit dem sie ausgesorgt hätten. Oder sie arbeiteten als Bergleute und schürften entweder als Konzernangestellte oder Subunternehmer einer der großen Gesellschaften das Erz aus den Asteroiden. Die Bergleute wurden dabei nicht reich, aber sie mussten auch nicht hungern.
Amanda hatte am College Betriebswirtschafts-Vorlesungen belegt. Sie wusste also, je mehr Asteroiden ausgebeutet würden und je ergiebiger sie an Metallen und Mineralien waren, desto wertloser wurden sie. Ein Konzern wie Astro oder HSS vermochte auch mit einer kleinen Gewinnmarge zu arbeiten, weil sie so gewaltige Mengen an Erz umschlugen. Ein einzelner Prospektor musste jedoch zu Marktpreisen verkaufen, und der Preis war immer viel niedriger als die Dollarzeichen, die sie in den Augen hatten.
Sie runzelte die Stirn, als sie sich für einen neuen Arbeitstag ankleidete. Wieso betätigt Lars sich dann da draußen als Prospektor? Er kennt die Situation doch so gut wie jeder andere. Und wieso hat er mir keine Nachricht geschickt? Er hatte mir zwar gleich gesagt, dass er das nicht tun würde, aber ich hätte schon erwartet, dass er mir nach ein paar Tagen wenigstens mitteilen würde, ob bei ihm alles in Ordnung sei.
Im Grunde kannte sie die Antwort schon, aber sie wollte es nicht glauben. Er arbeitet gar nicht als Prospektor. Er ist auf einer Wahnsinnsmission, um mit Martin abzurechnen. Er will zurückschlagen — ein Mann gegen den mächtigsten Konzern im Sonnensystem. Er wird dabei draufgehen, und es gibt nichts, womit ich das verhindern könnte.
Das schmerzte sie am meisten, dieses Gefühl der völligen Machtlosigkeit; die Gewissheit, dass sie keine Möglichkeit hatte, den Mann, den sie liebte, zu schützen oder ihm auch nur zu helfen. Er hat sich von mir abgewandt, wurde sie sich bewusst. Nicht nur körperlich; Lars hat sich von mir verabschiedet — von unserer Ehe, von unserer Beziehung. Er hat es zugelassen, dass sein Zorn unsere Liebe überwältigt hat. Er führt nun einen Rachefeldzug ohne Rücksicht auf Verluste.
Sie unterdrückte die aufsteigenden Tränen, bootete den Computer und machte weiter, wo sie letzte Nacht aufgehört hatte — mit der Suche nach Leuten, die bereit waren, im Lagerhaus zu arbeiten. In ihrer Verzweiflung hatte sie sogar eine Nachricht an Pancho Lane auf der Erde gesendet. Als der Wandbildschirm hell wurde, sah sie, dass Pancho geantwortet hatte.
»Zeige Pancho Lanes Nachricht an«, befahl sie dem Computer.
Pancho Lanes mokkafarbenes Gesicht grinste sie an. Sie schien in einem Büro irgendwo in den Tropen zu sein. Wahrscheinlich in der Asfro-Zentrale in Venezuela.
»Habe deine traurige Botschaft erhalten, Mandy. Kann mir vorstellen, wie schwierig es ist, zuverlässige Leute für die Arbeit in eurem Lagerhaus zu gewinnen. Wünschte, ich könnte euch ein paar von meinen Leuten ’rüberschicken, aber niemand mit einem guten Job hier wird freiwillig nach Ceres gehen — es sei denn, er würde vom Asteroidenfieber befallen und glauben, in sechs Wochen reich wie Krösus zu werden.«
Pancho beugte sich näher zur Kamera und fuhr fort: »Ich muss dich aber dringend warnen: Unter den Leuten, die vielleicht bereit sind, für dich zu arbeiten, könnten HSS-Spione sein. Überprüfe jeden Einzelnen von ihnen auf Herz und Nieren, Mädchen. Ich wette, es sind ein paar faule Äpfel darunter.«
Amanda schüttelte matt den Kopf. Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte, sagte sie sich.
Pancho lehnte sich zurück und sagte: »Ich bin zurzeit in Lawrence in Kansas. Habe eine Konferenz mit einem internationalen Universitäts-Konsortium. Will einen Deal mit ihnen machen, um eine Forschungsstation im Jupiter-Orbit zu bauen. Sind vielleicht ein paar Hochschulabgänger dabei, die einen Job suchen. Die Arbeitslosigkeit ist weiß Gott hoch genug. Ich will sehen, was ich für dich tun kann. In der Zwischenzeit pass gut auf dich auf. Dieser alte Stecher will noch immer Astro übernehmen, und du und Lars steht ihm dabei im Wege.«
Mit einem fröhlichen Winken verabschiedete Pancho sich. Amanda hätte sich am liebsten wieder ins Bett verkrochen und wäre bis zu Lars’ Rückkehr dort geblieben.
Falls er überhaupt zurückkehrte.
Wie lange soll ich denn noch suchen, fragte Fuchs sich. Ich bin schon drei Tage unterwegs, und noch immer keine Spur von George. Nicht die geringsten Anzeichen.
Der Verstand sagte ihm, dass der Gürtel ein fast völlig leerer Raum war. Er erinnerte sich noch daran, dass man den Gürtel schon im Astronomie-Einführungskurs mit einem großen, leeren Theater verglichen hatte, in dessen weitem Raum nur ein paar Staubpartikel umherdrifteten. Nun sah er es in der Praxis. Beim Blick aus den Brückenfenstern der Starpower und bei der Betrachtung der Monitore, welche die Radar- und Teleskopbilder zeigten, sah er, dass es nichts da draußen gab — nichts außer leerem Raum, Dunkelheit und ewiger Stille.
Er fragte sich, wie die Besatzung von Kolumbus sich wohl gefühlt haben musste: Sie war ganz allein mitten im Atlantik, ohne auch nur einen Vogel zu sehen; und es gab nichts außer einem leeren Meer und einem noch leereren Himmel.
Dann piepte plötzlich das Funkgerät.
Fuchs erschrak durch das unerwartete Geräusch. Er drehte sich auf dem Kommandantensitz um und sah, dass der Kommunikationsbildschirm den Eingang einer Nachricht anzeigte, die vom optischen Kommunikationssystem empfangen worden war.
Ein optisches Signal? Irritiert wies er den Kommunikationscomputer an, die Nachricht darzustellen.
Auf dem Bildschirm erschien ein kaleidoskopartiges buntes Wabern, während zugleich ein Zischen und Pfeifen aus den Lautsprechern drang. Nur Hintergrundrauschen, sagte Fuchs sich. Wahrscheinlich ein Sonnensturm oder ein Gammaburst.
Nur dass die anderen Sensoren keinerlei Anzeichen eines Sonnensturms zeigten, und bei näherer Überlegung fragte Fuchs sich, ob ein Gammaburst überhaupt vom optischen Empfänger registriert worden wäre.
Er befahl dem Navigationsprogramm, die Starpower wieder in den Bereich zu bringen, wo das optische Signal entdeckt worden war. Das Wenden eines Schiffs mit der Masse der Starpower war keine leichte Aufgabe. Es war zeit- und energieaufwändig. Schließlich meldete der Navigationsrechner jedoch den Vollzug des Manövers.
Nichts. Das Kommunikationssystem blieb stumm.
Es war ein Blindsignal, sagte Fuchs sich. Eine Anomalie. Trotzdem musste irgendetwas sie verursacht haben, und er war sich sicher, dass es sich nicht um einen Fehler in der Kommunikationsausrüstung handelte. Unsinn, sagte der Teil des Gehirns, wo der Verstand beheimatet war. Du bist davon überzeugt, weil es ein Signal sein soll. Du räumst der Hoffnung Vorrang vor dem Urteilsvermögen ein.
Ja, das stimmt wohl, gestand Fuchs sich ein. Trotzdem gab er dem Navigationssystem den Befehl, die Starpower auf dem Vektor entlangzuführen, woher das seltsame Signal gekommen war.
In der Hoffnung, dass das Bauchgefühl zuverlässiger war als das rationale Bewusstsein, folgte Fuchs dem Kurs für eine Stunde, zwei Stunden, bis …
… der Kommunikationsbildschirm sich erhellte und ein unscharfes, körniges Bild von etwas erschien, das Fuchs wie ein kahlköpfiger, ausgemergelter Asiate anmutete.
»Hier ist die Waltzing Matilda. Wir sind ein antriebs- und steuerloses Wrack. Wir brauchen dringend Hilfe.«
Fuchs klappte die Kinnlade herunter. Er starrte für ein paar Minuten auf das schlierige, verschwommene Bild und brach dann regelrecht in Hektik aus. Er versuchte die Position der Matilda zu bestimmen und schnellstmöglich zu ihr zu gelangen, während er gleichzeitig auf jedem Kanal, auf dem sein Kommunikationssystem zu senden vermochte, ein Signal an sie abstrahlte.
Dorik Harbin schäumte vor Wut.
Das ist ein Lockvogel, sagte er sich zornig. Ein verdammter Lockvogel. Und du bist darauf reingefallen. Du bist ihm wie ein blödes Arschloch auf halbem Weg in die Hölle gefolgt!
Eher aus Langeweile als aus einer konkreten Veranlassung heraus hatte er die Shanidar etwas aus dem Abgasstrahl dessen herausmanövriert, das er für die Starpower gehalten hatte. Er war den telemetrischen Signalen des Schiffs seit Tagen gefolgt, um herauszufinden, welches Ziel es ansteuerte. Seine stehenden Befehle von Grigor lauteten, zu warten, bis ein Schiff in eine Umlaufbahn um einen bestimmten Asteroiden ging und es dann zu zerstören. Harbin wusste, auch ohne dass Grigor es ihm sagte, dass HSS dann einen Anspruch auf den Asteroiden erhob.
Auch nach ein paar Tagen gab es immer noch keinerlei Anzeichen dafür, dass sein Opfer auf der Suche nach einem Asteroiden war. Es zuckelte einfach nur mit geringem Schub vor sich hin wie ein Touristenboot, das die lokalen Sehenswürdigkeiten abklapperte. Nur dass es hier draußen keine Touristen gab und auch keine Sehenswürdigkeiten, die man hätte präsentieren können; der Asteroidengürtel war kalt und leer.
Nun sah Harbin klar und deutlich auf den Bildschirmen, dass das, was er verfolgt hatte, mitnichten die Starpower war, sondern ein Rettungsboot, eine elende Rettungskapsel.
Das war kein Zufall. Fuchs hatte ihn auf eine falsche Fährte gelockt und war dann in eine ganz andere Richtung geflogen. Aber wohin? Grigor würde nicht eben begeistert sein, wenn er von diesem Patzer erführe. Harbin schwor sich, dass er Fuchs aufspüren und diesen krummen Hund fertig machen würde.
Wenn er auf Gegenkurs ging, würde ihn das so viel Treibstoff kosten, dass er in ein paar Tagen schon wieder tanken musste. Und das nächste HSS-Schiff war mindestens drei Tage entfernt. Harbin überflog die Sensorschirme. Was er brauchte, war ein mittelprächtiger Felsbrocken, der nah genug war …
Dann fand er einen — einen Asteroiden, der genug Masse für das Manöver hatte, das ihm vorschwebte. Er war zwar zu klein für einen Swingby, doch Harbin näherte sich dem zwölf Kilometer langen Gesteinsbrocken dicht an und brachte die Shanidar dann in eine enge Umlaufbahn. Er überprüfte den Navigationscomputer zweimal, bevor er das Programm aktivierte. Exakt im richtigen Moment zündete er die Triebwerke, und die Shanidar schoss vom namenlosen Asteroiden in die von Harbin gewünschte Richtung. Dabei wurde nur ein Bruchteil des Treibstoffs verbraucht, den eine angetriebene Wende gekostet hätte.
Nun flog er mit Volldampf in die Region zurück, wo die Starpower den Lockvogel abgesetzt hatte. Diese Stelle war leicht zu finden: Es musste dort sein, wo die Telemetrie-Signale der Starpower für ein paar Stunden ausgesetzt hatten. Während dieser Zeit hatte der schlaue Hund den Sender in der Rettungskapsel installiert. Seitdem hält er Funkstille.
Vielleicht auch nicht, sagte Harbin sich. Vielleicht kommuniziert er auf einem anderen Kanal mit Ceres. Oder er funkt andere Schiffe an.
Also hielt Harbin sämtliche Kommunikationsempfänger offen, während er mit Höchstgeschwindigkeit in den Raumsektor zurückflog, wo Fuchs ihn auf die falsche Fährte gelockt hatte.
Das Glück ist mit dem Tüchtigen. Nachdem er zwei Tage mit Vollgas geflogen war, fing Harbin das ferne, schwache Signal auf, mit dem Fuchs den Notruf der Waltzing Matilda beantwortete.
Dahin will er also, sagte Harbin sich mit einem Nicken. Er freute sich, dass er nun die Starpower vernichten und die Sache mit der Waltzing Matilda zu Ende bringen konnte.