Kapitel 11

Es gab keine Versammlungshalle in Ceres — eigentlich gar keinen Ort, der für öffentliche Zusammenkünfte vorgesehen war. Das lag hauptsächlich daran, dass bisher noch kein Bedarf an einer solchen Räumlichkeit bestanden hatte; Ceres’ zusammengewürfelte Belegschaft aus Bergleuten und Prospektoren, Wartungspersonal und Technikern, Kaufleuten und Büroangestellten hatte bisher noch nie in einer öffentlichen Versammlung zusammengefunden. Das, was einer Regierung auf Ceres am nächsten kam, waren zwei IAA-Fluglotsen: Sie überwachten die Starts und Landungen der Schiffe, die zwecks Nachschub und Wartung hier einflogen, um dann wieder in der dunklen Leere des Gürtels zu verschwinden.

Als Fuchs nun eine öffentliche Versammlung anberaumte, kostete es ihn einige Mühe, die anderen Felsenratten davon zu überzeugen, dass eine solche Versammlung überhaupt erforderlich und sinnvoll war. Zum Schluss erschienen nur knapp vierzig Männer und Frauen von den paar Hundert im Asteroiden im Pub, den Fuchs als Ort für die Zusammenkunft ausgewählt hatte. Ein paar Dutzend weiterer Leute nahmen per Videokonferenz von ihren Schiffen aus teil, die sich im Transit durch den Gürtel befanden. Zu diesen gehörte auch Big George; er hatte Ceres mit der Waltzing Matilda ein paar Tage verlassen, bevor Fuchs’ Versammlung zusammentrat.

Es war eine gut gelaunte Menge, die an jenem Nachmittag um 17:00 Uhr im Pub zusammentraf. Wie in den meisten Raumschiffen und Weltraumstationen galt auch in Ceres Universalzeit. Der Eigentümer/Barkeeper des Pubs hatte sein Etablissement nur nach Fuchs’ Zusage zur Verfügung gestellt, dass die Versammlung nicht länger als eine Stunde dauerte. Somit konnte die ›Sechs-Uhr-Sause‹ wie immer stattfinden.

»Ich bin kein begnadeter Redner«, sagte Fuchs. Er stand auf der Bar, damit jeder in der dicht gedrängten, lauten Menge ihn zu sehen vermochte. Drei große Flachbildschirme waren im hinteren Bereich des Raums aufgestellt worden; sie zeigten etliche Personen, die per Videoschaltung an der Versammlung teilnahmen. Viele Prospektoren waren jedoch nicht einmal dazu bereit. Sie begründeten das damit, dass niemand außer den regulären IAA-Kontrolleuren wissen sollte, wo sie sich aufhielten — und diese Kontrolle tolerierten sie auch nur deshalb, weil die IAA seit jeher die Vertraulichkeit des Raumfahrtbetriebs wahrte und sich nicht darin einmischte; es sei denn, es ging um wichtige Sicherheitsfragen.

»Ich bin kein begnadeter Redner«, wiederholte Fuchs — diesmal aber lauter.

»Was machst du dann da oben?«, ertönte eine respektlose Stimme aus der Menge. Alle lachten.

Fuchs grinste den Zwischenrufer an und sagte: »Es ist ein schmutziger Job …«

»… aber jemand muss ihn tun«, beendeten alle Anwesenden den Satz für ihn.

Fuchs lachte etwas verlegen und schaute auf Amanda, die an der Wand zu seiner Rechten stand. Sie lächelte ihm ermutigend zu. Die Zwillinge standen neben ihr, mit ihrem metallischen Glitzerfummel bekleidet. Doch in Fuchs’ Augen sah Amanda selbst in einem schlichten Overall noch viel besser aus als sie.

»Mal im Ernst«, sagte er, nachdem die Menge sich beruhigt hatte. »Es ist Zeit, dass wir uns über etwas unterhalten, das die meisten von uns anwidert …«

»Was’n los, Lars, ist das Klo mal wieder verstopft?«

»Der Recycler kaputt?«

»Nein«, sagte er. »Schlimmer. Es wird Zeit, dass wir darüber nachdenken, eine Art von Regierung zu bilden.«

»Scheiß drauf!«, rief jemand.

»Ich bin von der Vorstellung, dass wir uns von Regeln und Bestimmungen gängeln lassen sollten, genauso wenig begeistert wie ihr«, sagte Fuchs schnell. »Aber diese Gemeinschaft wächst ständig, und wir haben noch immer keine Gesetze und Sicherheitskräfte.«

»Die brauchen wir auch nicht«, rief eine Frau.

»Wir kommen auch ohne so was ganz gut zurecht.«

Fuchs schüttelte den Kopf. »Allein im letzten Monat haben in diesem Pub zwei Schlägereien stattgefunden. Und letzte Woche hat irgendjemand vorsätzlich Yuri Kubasovs Schiff beschädigt. Ein klarer Fall von Sabotage.«

»Das ist seine Privatsache«, ertönte eine Stimme aus dem hinteren Bereich des Lokals. »Yuri war hinter der falschen Frau her.«

Ein paar Leute kicherten wissend.

»Und dann der Einbruch in mein Lagerhaus«, ergänzte Fuchs. »Das war keine Bagatelle; wir haben Waren im Wert von über hunderttausend Dollar verloren.«

»Komm schon, Lars«, sagte eine Frau. »Es weiß doch jeder, dass du mit HSS konkurrierst. Also kämpfen sie mit harten Bandagen; das ist allerdings dein Problem, nicht unseres.«

»Ja, wenn es eine Sache zwischen dir und Humphries ist, wieso willst du uns dann in einen Kampf hineinziehen?«

Fuchs schaute wieder auf Amanda und antwortete: »Das ist nicht nur mein Kampf. Es ist auch eurer.«

»Den Teufel ist es!«, sagte einer der Männer hitzig. »Das ist eine Sache zwischen dir und Humphries. Es ist etwas Persönliches und hat nicht das Geringste mit uns zu tun.«

»Das stimmt nicht, und ihr werdet es auch bald schon merken.«

»Was soll das nun wieder heißen?«

»Das bedeutet, dass Amanda und ich Ceres in Kürze verlassen werden«, sagte er zögernd und wunderte sich darüber, wie schwer es ihm fiel, die Worte auszusprechen. »Wir werden zur Erde zurückkehren.«

»Ihr wollt uns verlassen?«

»Humphries hat uns ein Angebot gemacht, das zu gut ist, als dass wir es ausschlagen könnten«, fuhr Fuchs fort, wobei er echten Schmerz verspürte. »HSS wird Helvetias Lagerhaus und alle Serviceleistungen übernehmen.«

Für eine Weile herrschte absolute Stille im Pub.

»Das bedeutet, dass HSS unser einziger Lieferant sein wird«, ließ Big George von einem der Flachbildschirme sich vernehmen.

»Sie werden ein Monopol haben!«, sagte jemand mit kläglicher Stimme.

»Deshalb ist es wichtig, dass ihr eine Art von Regierung bildet«, sagte Fuchs mit einem bedeutungsschweren Nicken. »Eine Gruppe, die euch repräsentiert und Astro vielleicht dazu bewegt, eine weitere Anlage einzurichten …«

»FEUER«, ertönte die synthetische Computerstimme aus den Lautsprechern am Eingang des Pubs. »FEUER IN ABSCHNITT VIER-CE.«

»Das ist mein Lagerhaus!«, platzte Fuchs heraus.

Die Menge rannte durch die Türen in den Tunnel. Fuchs sprang von der Bar herunter, packte Amanda bei der Hand und rannte hinter den anderen her.

Alle Sektoren der unterirdischen Siedlung waren durch Tunnel miteinander verbunden. Etwa alle hundert Meter wurden die Tunnel durch luftdichte Schleusen unterbrochen, die darauf programmiert waren, sich bei einem Druckabfall oder einer anderen Abweichung von den Normalbedingungen selbsttätig zu schließen. Als Fuchs den Eingang zu seinem Lagerhaus erreichte — er hatte Amanda noch immer an der Hand —, hatte das Schott, das die Höhle abdichtete, sich längst geschlossen. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge aus dem Pub, wobei er im aufgewirbelten Staub hustete und berührte die Metalloberfläche der Luke. Sie war heiß.

»Die Kameras im Lagerhaus sind ausgefallen«, sagte einer der Techniker. »Muss ein ziemlich starkes Feuer sein.«

Fuchs nickte mit grimmigem Blick. »Wir können nur warten, bis es den ganzen Sauerstoff verzehrt hat und erstickt.«

»War irgendjemand dort drin?«, fragte Amanda.

»Ich glaube nicht«, sagte Fuchs. »Jedenfalls keiner von unseren Leuten; sie waren alle auf der Versammlung.«

»Dann warten wir«, sagte der Techniker. Er kramte in der Tasche seines Overalls, zog eine Atemschutzmaske heraus und setzte sie auf.

Ein paar Leute in der Menge taten murmelnd ihr Mitgefühl kund. Die meisten gingen in leise Unterhaltungen vertieft davon. Hier und da hustete jemand oder nieste wegen des Staubs.

»Er hat das getan«, murmelte Fuchs.

»Wer?«, fragte Amanda.

»Humphries. Einer von seinen Leuten.«

»Nein! Was hätte er …«

»Er will uns auffordern, Ceres zu verlassen. Das Geld, das er uns angeboten hat, war eine List. Wir haben ihm unseren Entschluss, sein Angebot anzunehmen, noch nicht mitgeteilt, und nun wendet er Gewalt an.«

»Lars, ich glaube einfach nicht, dass er so etwas tun würde.«

»Ich schon.«

Amanda schaute auf die paar Leute, die sich noch im Tunnel aufhielten sagte zu ihrem Mann: »Wir können hier nichts mehr tun. Wir sollten nach Hause gehen; wir können später zurückkommen, wenn das Feuer sich selbst verzehrt hat.«

»Nein«, sagte Fuchs. »Ich werde hier warten.«

»Aber du hast doch nicht einmal eine Atemschutzmaske und …«

»Du gehst. Ich werde hier warten.«

Amandas Versuch eines Lächelns scheiterte. »Dann werde ich mit dir warten.«

»Es besteht keine Notwendigkeit …«

»Ich wäre aber lieber bei dir«, sagte Amanda und nahm seine große Hand in ihre.

Wo Fuchs nichts anders zu tun vermochte, außer zu warten und im körnigem Staub zu husten, spürte er heißen Zorn in sich aufsteigen — einen brennenden Hass auf den Mann, der skrupellos genug war, um so etwas zu befehlen und auf seine Handlanger, die diesen Befehl ausgeführt hatten.

Dieses Schwein, sagte er sich. Dieses dreckige, fiese, mörderische Schwein. Ein Feuer! In einer geschlossenen Gemeinschaft wie dieser. Wenn die Sicherheitsschleusen nicht funktioniert hätten, hätten wir alle drauf gehen können! Das Feuer hätte den ganzen Sauerstoff verzehrt und jeden von uns erstickt!

Mörder, sagte er sich. Ich habe es hier mit Leuten zu tun, die einen Mord begehen würden, um das zu bekommen, was sie wollen. Ich werde Humphries’ Geld nehmen und von diesem Ort verschwinden wie ein Lakai, der vom Hausherrn ausbezahlt wird.

»Lars, was ist mit dir?«, fragte Amanda.

»Nichts.«

Sie schien ernsthaft besorgt. »Aber du hast gezittert. Dein Blick — ich habe noch nie einen solchen Ausdruck in deinem Gesicht gesehen.«

Er versuchte, den in ihm lodernden Zorn unter Kontrolle zu bringen, versuchte ihn zu verbergen, versuchte ihn unter Verschluss zu halten, sodass niemand ihn zu sehen vermochte — nicht einmal seine Frau.

»Komm«, sagte er mit rauer Stimme. »Du hattest Recht. Wir können hier nichts ausrichten, bis wir die Luke öffnen und sehen, wie groß der Schaden ist.«

Als sie wieder in ihrem Apartment waren, stocherte er lustlos im Essen herum, das Amanda ihm vorsetzte. Er fand auch keinen Schlaf. Als er und zwei Techniker am nächsten Morgen zum Lagerhaus zurückgingen, war die luftdichte Schleuse mit dem Rahmen verschmolzen. Sie mussten sie mit einem von Astros Bergbaulasern aufschweißen und dann ein paar Minuten warten, bis die große ausgebrannte Kammer sich mit Luft gefüllt hatte.

Das Lagerhaus war eine geschwärzte Ruine. Die Techniker, beide junge Männer und neu in Ceres, starrten mit großen Augen auf die Trümmer.

»Mein Gott«, murmelte der Mann zu Fuchs’ Rechten, als die Lichtkegel ihrer Taschenlampen über die noch immer heißen Trümmer wanderten.

Fuchs erkannte den Ort kaum wieder. Die Gestelle waren zusammengebrochen, und die Metallstreben waren in der Hitze des Feuers geschmolzen. Tonnen von Ausrüstung waren zu Schlacke verbrannt.

»Was hat bloß so ein heißes Feuer verursacht?«, fragte sich der Junge zu Fuchs’ Linken.

»Nicht was«, murmelte Fuchs. »Wer.«

Загрузка...