Kapitel 35

Zu Hector Wilcox’ Verdruss schaltete Douglas Stavenger sich persönlich in die Anhörung ein. Zwei Tage vor dem Beginn der Anhörung lud Stavenger Wilcox zum Abendessen ins Restaurant ›Erdblick‹ ein. Wilcox wusste, dass es sich nicht um einen rein gesellschaftlichen Anlass handelte.

Wenn der jugendliche Gründer von Selene bei der Anhörung anwesend sein wollte, vermochte der IAA-Chef ihm das nicht abzuschlagen, ohne ihn zu brüskieren.

Stavenger gab sich natürlich sehr diplomatisch. Er bot ihm einen Konferenzraum in Selenes Büros an, oben in einem der Türme, die die Kuppel der Grand Plaza trugen. Und der Preis der Gastfreundschaft bestand darin, ihn der Anhörung beiwohnen zu lassen.

»Es wird aber ziemlich langweilig werden«, gab Wilcox beim Essen zu bedenken. Es war dies sein zweiter Abend auf dem Mond.

»Ach wo, das glaube ich nicht«, sagte Stavenger mit jugendlicher Begeisterung. »Alles, was Martin Humphries betrifft, verspricht interessant zu werden.«

Darum geht es also, sagte Wilcox sich und stocherte im Obstsalat. Er verfolgt Martins Fährte.

»Mr. Humphries wird bei der Anhörung nicht anwesend sein, müssen Sie wissen«, sagte er.

»Wirklich?« Stavenger schaute überrascht. »Ich dachte, dass Fuchs ihn der Piraterie bezichtigen würde.«

Wilcox legte die Stirn in schier abgrundtiefe Falten. »Piraterie«, sagte er spöttisch. »Papperlapapp.«

Stavenger lächelte fröhlich. »Darum geht es doch bei der Anhörung, nicht wahr? Es soll der Wahrheitsgehalt dieser Anschuldigung geprüft werden?«

»Ach ja, natürlich«, sagte Wilcox hastig. »Genau darum geht es.«


* * *

Fuchs hatte die beiden ersten Nächte in Selene schlecht geschlafen, und in der Nacht vor der Anhörung glaubte er vor lauter Nervosität überhaupt nicht schlafen zu können. Seltsamerweise schlief er jedoch die ganze Nacht durch. Pancho war nach Selene gekommen und hatte ihn zu einem schönen Abendessen im Restaurant ›Erdblick‹ eingeladen. Vielleicht hat der Wein dem Schlaf etwas nachgeholfen, sagte er sich, als er sich an diesem Morgen die Zähne putzte.

Er wusste, dass er geträumt hatte, aber er konnte sich kaum noch an die Träume erinnern. Amanda kam darin vor, und George, und eine vage dräuende Gefahr. An die Details erinnerte er sich aber nicht mehr.

Als das Telefon läutete, glaubte er schon, es sei Pancho, die ihn abholen und zur Anhörung begleiten wollte.

Stattdessen zeigte der Wandbildschirm Amandas schönes Gesicht. Fuchs verspürte eine jähe Freude wegen ihres Anrufs. Doch dann sah er, dass sie abgespannt und besorgt wirkte.

»Lars, Liebling, ich rufe an, um dir alles Gute für die Anhörung zu wünschen und dir zu sagen, dass ich dich liebe. Hier ist soweit alles in Ordnung. Die Prospektoren erteilen uns mehr Aufträge, als wir bewältigen können, und die HSS-Leute haben bisher überhaupt keine Schwierigkeiten gemacht.«

Natürlich, sagte Fuchs sich. Sie wollen keinen Verdacht erregen, während diese Anhörung läuft.

»Viel Glück bei der Anhörung, Liebling. Ruf mich an und sag mir, wie es ausgegangen ist. Ich vermisse dich. Ich liebe dich!«

Ihr Bild verblasste, und der Wandbildschirm wurde wieder dunkel. Fuchs warf einen Blick auf die Nachttischuhr und wies den Computer an, ihre Nachricht zu beantworten.

»Die Anhörung beginnt in einer halben Stunde«, sagte er. Er wusste, dass die Veranstaltung fast schon angefangen haben würde, wenn Amanda seine Worte hörte. »Es tut mir Leid, dass ich dich nicht mitgenommen habe. Ich vermisse dich auch — ganz schrecklich. Ich werde dich anrufen, sobald die Anhörung zu Ende ist. Und ich liebe dich auch, mein Schatz. Von ganzem Herzen.«

Das Telefon läutete erneut. Diesmal war es aber Pancho. »Komm aus den Federn, Lars, alter Kumpel. Schwing die Hufe.«


* * *

Fuchs war enttäuscht, dass Humphries nicht zur Anhörung erschien. Bei näherer Betrachtung wunderte es ihn freilich nicht. Der Mann ist ein Feigling, der andere vorschickt, um die Drecksarbeit für ihn zu erledigen, sagte er sich.

»He, schau mal«, sagte Pancho, als sie den Konferenzraum betraten. »Doug Stavenger ist auch da.«

Stavenger und ein halbes Dutzend anderer Leute saßen auf den bequemen, mit Rollen versehenen Stühlen, die an einer Wand des Raums aufgereiht waren. Der Konferenztisch war an der rückwärtigen Wand aufgestellt und mit Getränken und Kanapees bestückt. Ein kleinerer Tisch stand auf der anderen Seite des Raums; er wurde von zwei Stühlen flankiert, auf denen Männer in Geschäftsanzügen saßen. Einer von ihnen hatte Übergewicht, ein gerötetes Gesicht und rote Haare; der andere war so schmal und nervös wie ein Windhund. Der Wandbildschirm hinterm Tisch zeigte das schwarzsilberne Logo der Internationalen Astronautischen Gesellschaft. Zwei Stuhlfelder waren vor dem Tisch arrangiert worden. George und Nodon hatten bereits Platz genommen. Fuchs sah, dass das andere Feld komplett von Leuten belegt war, von denen er annahm, dass es sich um HSS-Personal handelte.

»Viel Glück, Kumpel«, flüsterte Pancho und bedeutete Fuchs, auf einem der vorderen Stühle Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich neben Stavenger.

Fuchs fragte sich beiläufig, wer wohl die Zeche für die Speisen und Getränke zahlte, die dort angerichtet waren, und nahm den Stuhl zwischen Big George und Nodon. Er hatte sich kaum hingesetzt, als einer der vorn sitzenden Männer verkündete: »Die Anhörung ist eröffnet. Mr. Hector Wilcox, Leiter der Internationalen Astronautenbehörde, ist der Vorsitzende.«

Alle erhoben sich, ein grauhaariger, distinguierter Herr in einem noblen dreiteiligen Anzug trat durch die Seitentür ein und nahm seinen Platz hinterm Tisch ein. Er stellte einen Palmtop-Computer auf den Tisch und klappte ihn auf. Fuchs bemerkte, dass ein Aluminiumkrug, an dem Kondenswasser perlte und ein Kristallglas in einer Ecke des Tischs standen.

»Bitte setzen Sie sich«, sagte Hector Wilcox. »Wir wollen es möglichst kurz machen.«

Es geht los, sagte Fuchs sich; sein Herz pochte gegen die Rippen, und die Handflächen wurden plötzlich feucht.

Wilcox schaute in seine Richtung. »Wer von Ihnen ist Lars Fuchs?«

»Ich«, sagte Fuchs.

»Sie bezichtigen Humphries Space Systems der Piraterie, nicht wahr?«

»Das stimmt so nicht.«

Wilcox’ Brauen schossen förmlich zum Haaransatz hoch. »Das stimmt so nicht?«

Fuchs wunderte sich selbst über seine Courage. »Ich beschuldige kein Unternehmen pauschal krimineller Handlungen«, hörte er sich sagen. »Ich beschuldige eine Person, und zwar den Mann, der dieses Unternehmen leitet: Martin Humphries.«

Wilcox’ Erstaunen verwandelte sich in offensichtliches Missfallen.

»Wollen Sie damit sagen, dass die Handlungen, die Sie als Piraterie bezeichnen — und die überhaupt erst noch verifiziert werden müssen — von Mr. Humphries angeordnet worden seien?«

»Genau das will ich damit sagen, Sir.«

Auf der anderen Seite des Gangs erhob sich langsam eine große, dunkelhaarige Frau.

»Euer Ehren, ich bin Mister Humphries’ persönliche Assistentin, und in seinem Namen bestreite ich diesen Vorwurf kategorisch. Er ist geradezu lächerlich.«

Big George sprang auf und fuchtelte mit dem Armstumpf herum. »Du findest das lächerlich? Das hier hab ich mir wohl kaum beim Blümchenpflücken eingefangen!«

»Ruhe!« Wilcox schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Sie beide setzen sich wieder. Ich dulde keine emotionalen Ausbrüche bei dieser Anhörung. Wir werden die Sache ruhig und sachlich verhandeln.«

Verwoerd und George setzten sich.

Wilcox wies mit einem knochigen Finger auf Fuchs und sagte: »Nun, Sir, wenn Sie über Beweise verfügen, mit denen Sie die Beschuldigung der Piraterie zu stützen vermögen, dann möchten wir sie gern hören. Wir können die Verantwortlichkeit für solche Handlungen nämlich erst dann prüfen, wenn wir uns davon überzeugt haben, dass sie auch wirklich stattgefunden haben.«

Fuchs erhob sich langsam. Er spürte Zorn in sich aufwallen. »Ihnen liegen die Abschriften des Gefechts zwischen meinem Schiff, der Starpower, und dem Schiff, das uns angegriffen hat, vor. Sie haben die Schäden gesehen, die die Starpower davongetragen hat. Und Mr. Ambrose hat einen Arm in diesem Gefecht verloren.«

Wilcox schaute über die Schulter auf den rotgesichtigen IAA-Funktionär; der nickte kurz. »Notiert«, sagte er zu Fuchs.

»Dasselbe Schiff hatte zuvor schon Mr. Ambroses Schiff, die Waltzing Matilda angegriffen und ihn und sein Besatzungsmitglied als vermeintlich tot zurückgelassen.«

»Haben Sie weitere Belege dafür außer Ihren unbewiesenen Tatsachenbehauptungen?«, fragte Wilcox.

»Die Waltzing Matilda treibt im Gürtel. Wir können Ihnen die ungefähren Koordinaten für eine Suche geben, wenn Sie eine durchführen möchten.«

Wilcox schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass eine solche Suche erforderlich sein wird.«

»In der Vergangenheit«, fuhr Fuchs fort, »wurden bereits mehrere Schiffe angegriffen: die Lady of the Lake, Aswan, die Star…«

»Es gibt keine Beweise dafür, dass auch nur eins dieser Schiffe angegriffen wurde«, rief Verwoerd von ihrem Platz aus.

»Sie sind spurlos verschwunden«, sagte Fuchs unwirsch. »Ihre Signale sind abrupt abgebrochen.«

»Das ist aber noch kein Beweis, dass sie angegriffen wurden«, sagte Verwoerd mit einem Lächeln.

»Das ist richtig«, sagte Wilcox.

»In den meisten Fällen wurden die Asteroiden, die diese Schiffe beanspruchten, später von Humphries Space Systems beansprucht«, führte Fuchs aus.

»Na und?«, wandte Verwoerd ein. »HSS-Schiffe haben schon viele hundert Asteroiden beansprucht. Und wenn Sie die Statistik sorgfältig prüfen, werden Sie sehen, dass vier der fraglichen sechs Asteroiden von anderen Gesellschaften als HSS beansprucht wurden.«

Wilcox wandte sich dem schlanken Assistenten zu seiner Linken zu. Der Mann nickte hastig und sagte: »Drei wurden von einer Firma namens Bandung Associates beansprucht, und der vierte von der Kirche des Geschriebenen Wortes. Keine dieser Gesellschaften ist mit HSS verbunden; ich habe das sehr gründlich überprüft.«

»Dann stützt diese Anhörung sich also ausschließlich auf Ihre Behauptung, angegriffen worden zu sein«, sagte Wilcox wieder an Fuchs gewandt.

»Für die ich Beweise habe, die Ihnen auch vorliegen«, sagte Fuchs. Er kochte innerlich.

»Ja, ja«, sagte Wilcox. »Es besteht kein Zweifel, dass Sie angegriffen wurden. Aber angegriffen von wem? Das ist die eigentliche Frage.«

»Von einem Schiff, das für HSS unterwegs war«, sagte Fuchs. Er fragte sich, wieso er das noch einmal betonen musste, wo es doch so offensichtlich war. »Im Auftrag von Martin Humphries.«

»Können Sie das auch beweisen?«

»Kein Mitarbeiter von HSS würde einen solchen Schritt ohne die persönliche Zustimmung von Humphries persönlich tun«, insistierte Fuchs. »Er hat sogar einen meiner Leute töten lassen — er wurde kaltblütig ermordet!«

»Sie beziehen sich auf den Mord an Niles Ripley, nicht wahr?«, fragte Wilcox.

»Ja. Ein vorsätzlicher Mord, um den Bau des Habitats zu stoppen, an dem wir arbeiten …«

Verwoerd meldete sich zu Wort. »Wir räumen ein, dass Mr. Ripley von einem Mitarbeiter von Humphries Space Systems getötet wurde. Aber es war eine Privatangelegenheit; der Angriff auf die genannte Person wurde von HSS weder befohlen noch gebilligt. Zumal Mr. Fuchs selbst den Mörder in einem Akt von Selbstjustiz hingerichtet hat.«

Wilcox musterte Fuchs mit stiengem Blick. »LynchJustiz, was? Zu dumm, dass Sie ihn exekutiert haben. Seine Aussage hätte Ihre Position vielleicht gestützt.«

»Wer sonst sollte von all diesen kriminellen Handlungen profitieren?«, echauffierte Fuchs sich.

»Ich hatte gehofft, dass Sie mir das sagen könnten, Mr. Fuchs«, sagte Wilcox mit einem listigen Lächeln. »Deshalb haben wir schließlich die ganzen Kosten und Mühen auf uns genommen, um diese Anhörung durchzuführen. Also Butter bei die Fische.«

Fuchs schloss kurz die Augen. Ich will aber Amanda nicht da hineinziehen. Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass es sich hier um eine persönliche Auseinandersetzung zwischen Humphries und mir handelt.

Bevor er zu antworten vermochte, stand George wieder auf und sagte in aller Ruhe: »Jeder auf Ceres weiß doch, dass Humphries versucht, Fuchs aus dem Gürtel zu vertreiben. Da können Sie jeden fragen.«

»Mr ….« Wilcox sah auf den Computerbildschirm. »Ambrose, nicht wahr? Mr. Ambrose, was ›jeder weiß‹ gilt vor Gericht nicht als Beweis. Auch nicht in dieser Anhörung.«

George setzte sich wieder und nuschelte etwas in den Bart.

»Fakt ist«, sagte Fuchs, wobei er an sich halten musste, um nicht laut zu werden, »dass irgendjemand Menschen tötet, dass irgendjemand Prospektorenschiffe angreift, dass irgendjemand schreckliche Verbrechen im Asteroidengürtel begeht. Die IAA muss tätig werden und uns schützen …« Er hielt inne. Er wurde sich bewusst, dass er bettelte, fast schon winselte.

Wilcox lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Mr. Fuchs, ich gehe mit Ihnen konform, dass Ihr Gebiet ein gewalttätiger, gesetzloser Ort ist. Allerdings hat die Internationale Astronautenbehörde weder die Macht noch die gesetzliche Befugnis, als Polizei im Asteroidengürtel aufzutreten. Es obliegt den Bürgern des Gürtels selbst, für ihren Schutz Sorge zu tragen und eine Polizei zu organisieren.«

»Wir werden systematisch von Humphries Space Systems-Personal angegriffen!«, insistierte Fuchs.

»Ich konzediere Ihnen durchaus, dass Sie angegriffen werden«, erwiderte Wilcox mit einem traurigen und zugleich herablassenden Lächeln. »Sehr wahrscheinlich von Renegaten aus Ihrer gesetzlosen Bevölkerung. Mir liegen indes keine Beweise vor, die Humphries Space Systems auf irgendeine Art und Weise mit Ihren Problemen in Verbindung bringen.«

»Die wollen Sie nur nicht sehen!«, sagte Fuchs wütend.

Wilcox starrte ihn kalt an. »Die Anhörung ist beendet«, sagte er.

»Aber Sie haben doch noch gar nicht …«

»Sie ist beendet«, sagte Wilcox schroff. Er stand auf, nahm seinen Computer, klappte ihn zu und verstaute ihn in der Tasche des Jacketts. Dann machte er kehrt und verließ den Raum; Fuchs blieb frustriert und wütend zurück.

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