Selene City

»Hast du denn nie mit dem Gedanken gespielt, wieder zur Erde zurückzukehren?«

Martin Humphries lehnte sich im exquisit gearbeiteten Wippstuhl zurück und versuchte die Beklemmung zu kaschieren, die ihn befiel, als er das Bild seines Vaters auf dem Wandbildschirm sah.

»Ich bin hier vollauf beschäftigt, Dad«, sagte er.

Es dauert fast drei Minuten, bis Funk- und Lichtwellen die Hin- und Rückreise zwischen Erde und Mond bewerkstelligt haben. Martin Humphries nutzte die Zeit, um das fahle, runzlige und eingefallene Gesicht seines Vaters zu mustern. Obwohl der alte Mann sein Vermögen in der Biotechnik gemacht hatte, lehnte er Verjüngungs-Behandlungen als ›noch unausgereift, zu riskant und mit zu vielen Unwägbarkeiten behaftet‹ ab. Immerhin trug er ein schneeweißes Toupet, um den kahlen Kopf zu kaschieren. Die Perücke erinnerte Martin an George Washington. Allerdings sagte man George nach, dass er in seinem ganzen Leben keine einzige Lüge ausgesprochen hätte, wogegen jeder, der schon mit W. Wilson Humphries zu tun gehabt hatte, wusste, dass man die Finger nachzählen musste, nachdem man dem alten Schlawiner die Hand gegeben hatte.

»Ich brauche dich hier«, hatte sein Vater widerwillig eingestanden.

»Du brauchst mich?«

»Diese Bastarde von der Neue Moralität drücken immer mehr Steuererhöhungen im Kongress durch. Sie sind wohl erst dann zufrieden, wenn sie jedes Unternehmen im Land in den Konkurs getrieben haben.«

»Einen Grund mehr für mich, hier zu bleiben«, erwiderte Martin, »wo mein Vermögen sicher ist.«

»Aber was ist mit meinem Vermögen? Was ist mit mir? Ich brauche deine Hilfe, Marty. Ich kann mich dieser psalmodierenden Fundamentalisten nicht allein erwehren.«

»Ach, komm schon, Dad. Du kannst doch eine ganze Kompanie Rechtsanwälte gegen sie aufbieten.«

»Und sie bieten den ganzen verdammten Kongress auf«, knurrte sein Vater. »Und den Obersten Gerichtshof.«

»Dad, du müsstest nur hierher kommen, um dich dem ganzen Verdruss zu entziehen.«

Das Gesicht seines Vaters verhärtete sich. »Ich werde nicht davonlaufen!«

»Du solltest dir endlich eingestehen, dass du dich auf einem sinkenden Schiff befindest, Dad. Es wird Zeit, von Bord zu gehen, so lange du noch die Möglichkeit dazu hast. Hier oben auf dem Mond errichte ich eine völlig neue Firma. Ich gründe Humphries Space Systems. Du könntest ein Teil davon werden — ein wichtiger Teil.«

Der alte Mann schaute ihn viel länger finster an, als die Worte seines Sohns brauchten, um ihn zu erreichen. »Wenn du zu lang dort oben bleibst«, sagte er schließlich grimmig, »wirst du einen solchen Muskelschwund erleiden, dass eine Rückkehr zur Erde unmöglich wird.«

Er hat kein Wort von dem zur Kenntnis genommen, was ich gesagt habe, wurde Humphries sich bewusst. Er redet nur und hört nicht zu.

»Dad, ich stecke in schwierigen Geschäftsverhandlungen. Ich kann nicht von hier weg. Zumindest jetzt nicht.« Nach einigem Zögern sagte er: »Ich werde vielleicht nie mehr zur Erde zurückkommen.«

Als sein Vater die Botschaft vernommen hatte, wechselte sein Gesichtsausdruck vom normalen trübseligen Grummel-Blick zu einem ausgesprochen zornigen Stirnrunzeln. »Ich brauche dich hier, verdammt! Du gehörst hierher, und hier wirst du leben. Basta.«

Martin hatte das Gefühl, wieder in den alten Strudel aus Angst und Frustration gezogen zu werden — als ob er in den Sog eines Whirlpools geriet und ertrank. »Vater«, sagte er. »Vater, komm hierher zu mir. Bitte. Bevor es zu spät ist.«

Sein Vater schaute ihn nur finster an.

»Gib's auf, Dad«, bat Humphries. »Die Erde ist erledigt. Dort geht alles den Bach runter; begreifst du das denn nicht?«

»Verdammt, Marty«, stieß der alte Mann hervor, »wenn du mir nicht zuhören willst…« Er verstummte und wusste nicht mehr, was er noch sagen sollte.

»Wieso hörst du nicht zur Abwechslung mal mir zu?«, fragte Martin schroff. Ohne auf eine Antwort zu warten, sagte er: »Ich will hier oben ein Imperium errichten, Dad, ein Imperium, das sich bis zum Asteroidengürtel erstrecken wird und darüber hinaus. Ich lege gerade das Fundament. Ich werde der reichste Mensch im Sonnensystem sein, reicher als du und deine Freunde zusammengenommen. Vielleicht werdet ihr mich dann mit ein wenig mehr Respekt behandeln.«

Bevor sein Vater zu antworten vermochte, setzte Humphries sich im Liegesessel auf und drückte den in die Armlehne integrierten Knopf, worauf die Videofon-Verbindung unterbrochen wurde. Das Gesicht des alten Manns verschwand von der Wand und wich einem Holofenster, das den Jupiter als Echtzeit-Abbildung zeigte, wie man ihn durchs Zwanzig-Meter-Teleskop auf der Rückseite des Monds sah.

Für eine Weile blieb Humphries dort sitzen — allein im Büro, das er sich im Haus tief unter der Mondoberfläche eingerichtet hatte. Dann atmete er tief durch, um den Zorn abebben zu lassen, der ihn aufwühlte. Der alte Mann hat keine Vorstellung von der wirklichen Welt. Er lebt in der Vergangenheit. Er würde eher mit dem Schiff untergehen, als sich einzugestehen, dass ich Recht habe und er sich im Irrtum befindet.

Plötzlich schlug die Erinnerung ans Ertrinken über ihm zusammen. Er war neun Jahre alt. Sein Vater hatte steif und fest behauptet, dass für den Trimaran keine Gefahr bestünde, obwohl das Boot vom Sturmwind umhergeworfen wurde. Eine Welle spülte ihn über Bord. Die tosende Wasseroberfläche schloss sich über ihm. Er will sich verzweifelt an der Wasseroberfläche festhalten, aber er versinkt, sinkt immer tiefer, bekommt keine Luft mehr, alles wird dunkel.

Martin Humphries war im Alter von neun Jahren gestorben. Nachdem man ihn wieder belebt hatte, erfuhr er, dass es ein Crewmitglied gewesen war, das sich selbst in Lebensgefahr begeben hatte, um ihn zu retten. Den Untergang des Sohns vor Augen, war der Vater trotzdem an Bord geblieben und hatte dem Besatzungsmitglied, das seinen Sohn rettete, einen Bonus versprochen. Seit diesem Moment wusste Humphries, dass es niemanden auf der Welt gab, dem er vertrauen konnte; er war allein, nur von inneren Ängsten und Sehnsüchten angetrieben. Und von den Erinnerungen, die ihn schützten.

Jedes Mal, wenn er mit seinem Vater sprach, drangen ihm diese schrecklichen Momente ins Bewusstsein. Und die Atemnot und die würgende Panik, als ob die Brust in eine Schraubzwinge eingespannt wäre. Er griff in die Schublade, holte den Inhalator heraus und sog verzweifelt die kühle, beruhigende Droge ein.

Alles in Ordnung, sagte Humphries sich, während er darauf wartete, dass der Atem sich wieder beruhigte und er sich zu entspannen versuchte. Er wird auf der Erde bleiben und sich im Kampf gegen die Neue Moralität aufreiben, bis sie ihn auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Er hört überhaupt nicht auf das, was ich ihm sage. Genauso gut könnte ich gegen die Wand reden. Na schön.

Ich bleibe jedenfalls hier in Selene, wo ich in Sicherheit bin und alles unter Kontrolle habe. Hier gibt es weder Sturm noch Regen; diese Welt ist mir auf den Leib geschneidert. Von hier aus vermag ich die Strippen genauso wirkungsvoll zu ziehen, als wäre ich in New York oder London. Eigentlich noch besser. Es gibt überhaupt keinen Grund, weshalb ich noch einmal zur Erde fliegen sollte.

Außer der Scheidungsverhandlung, erinnerte er sich. Ich muss aus diesem Anlass vorm Richter erscheinen. Doch selbst das kann ich von hier aus erledigen, indem ich mich durch die Anwälte entschuldigen lasse. Ich könne nicht zur Erde zurückkehren, weil ich schon zu lang auf dem Mond lebe und mich sonst einer Gesundheitsgefährdung aussetzen würde. Ich könnte mir das von einem Dutzend Ärzten bescheinigen lassen. Null Problemo.

Humphries lachte laut. Ich muss nicht im selben Raum mit dieser Schlampe sein! Gut! Wundervoll!

Er lehnte sich wieder zurück und starrte an die Decke. Sie war ein virtuelles Planetarium und zeigte den Himmel über Selene. Er spielte kurz mit dem Gedanken, sich ein Porno-Video reinzuziehen, zog es dann aber vor, die aktuellsten Informationen der Internationalen Astronautischen Agentur über die Mikrosonden abzurufen, die im Asteroidengürtel ausgeschwärmt waren.

Die IAA untersuchte die Asteroiden aus dem Grund, um Himmelskörper zu lokalisieren, die eine potentielle Gefahr für die Erde darstellten. Ihr lagen bereits aussagefähige Bahndaten über sämtliche Asteroiden vor — ein paar Hundert an der Zahl —, deren Orbits sie in die Nähe der Erde brachten. Und nun wurden die paar Tausend Gesteinsbrocken im Asteroidengürtel unter die Lupe genommen, die aufgrund ihrer Größe schwere Schäden anzurichten vermochten, wenn sie aus dem Gürtel hinausgeschleudert wurden und mit der Erde kollidierten.

Die gute Nachricht war, dass man bisher keinen Asteroiden in einem Orbit gefunden hatte, der die Heimatwelt bedrohte — obwohl die Asteroiden im Gürtel den Schwerkrafteinflüssen von Jupiter und den anderen Planeten unterlagen, wodurch die Orbits unvorhersehbar verzerrt wurden. Ständige Beobachtung hatte deshalb höchste Priorität.

Die bessere Nachricht war, dass die IAA sozusagen als Nebenprodukt der Asteroidenüberwachung detaillierte Daten über die Zusammensetzung der großen Asteroiden erhielt. Eisen, Kohlenstoff, Nickel, Phosphor, Stickstoff, Gold, Silber, Platin und sogar Wasser gab es da draußen in Hülle und Fülle. Reif zur Ernte. Warten nur darauf, dass ich sie zu Geld mache, sagte Humphries sich mit einem glücklichen Lächeln.

Dan Randolph will ein Team mit einer Fusionsrakete zum Gürtel schicken. Die erste Mission wird natürlich scheitern, und dann habe ich Randolph dort, wo ich ihn haben will. Ich werde die Kontrolle über Astro Manufacturing übernehmen, und dann schicken wir Randolph in Pension, wo er hingehört.

Plötzlich trübte ein Gedanke die Zufriedenheit. Es ist schon fast ein halbes Jahr her, seit ich Pancho Lane beauftragt hatte, Randolph im Auge zu behalten. Wieso hat sie, verdammt noch mal, noch nichts von sich hören lassen?

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