Raumhafen Armstrong

Pancho ließ den Blick über das tote, von Triebwerksflammen vernarbte Gelände des Startzentrums schweifen und rümpfte die Nase. »Das Ding sieht wirklich aus wie eine Schrottskulptur.«

Dan, der neben ihr in der kleinen Beobachtungskammer stand, musste ihr beipflichten. Der Fusionsantrieb sah aus wie die Arbeit eines betrunkenen Klempners: bauchige Behälter aus Diamant, die im harten ungefilterten, die Mondoberfläche durchglühenden Sonnenlicht funkelten, die bizarre Form des MHD-Kanals, die Pumpen, die den Brennstoff zur Reaktorkammer leiteten, Kühlerflächen und die gebündelten Raketendüsen, die durch ein surrealistisches Gewirr aus Rohren und Leitungen miteinander verbunden waren. Die ganze Vorrichtung war auf dem plattformartigen Deck eines plumpen und gedrungenen Boosters montiert, der breitbeinig auf der Startrampe aus geglättetem Mondbeton stand.

Die Beobachtungskuppel war nicht mehr als eine Blase aus Glasstahl, die aus dem Boden des riesigen Alphonsus-Kraters ragte. Die Kammer war so klein, dass kaum zwei Leute darin zu stehen vermochten, und sie war durch einen Tunnel mit dem Kontrollzentrum des Startkomplexes verbunden.

»Schönheit hat beim Bau nicht Pate gestanden«, sagte Dan. »Das Ding wird aber besser aussehen, wenn es erst einmal mit den anderen Modulen gekoppelt ist.«

Gedämpft rauschende Stimmen drangen aus dem Lautsprecher, der direkt unterm Rand der transparenten Blase in die Wand der Kammer integriert war.

»Pan Asia Null-Eins-Neun im Landeanflug«, sagte der Pilot des hereinkommenden Shuttles.

»Wir haben euch im Landeanflug, Null-Eins-Neun«, ertönte die ruhige Stimme einer Controllerin. »Landeplatz vier.«

Dan schaute in den Sternenhimmel und sah ein schwaches Blitzen.

»Bremsraketen«, murmelte Pancho.

»Auf dem Gleitpfad«, sagte die Controllerin.

Ein neuerlicher Blitz. Dan vermochte das Shuttle nun zu erkennen — ein dunkles eckiges Gerät, das mit ausgeklapptem Fahrwerk langsam vom Himmel fiel.

»Auf dem Gleitpfad, Null-Eins-Neun«, sagte der weibliche Controller. Sie klang beinahe gelangweilt.

Es schien alles wie in Zeitlupe abzulaufen. Dan sah, wie das Shuttle auf dem Landeplatz aufsetzte, der am weitesten von der Stelle entfernt war, wo die Fusionsrakete stand und auf die Startfreigabe wartete. »Null-Eins-Neun ist gelandet«, meldete der Shuttle-Pilot. »Alle Triebwerke aus.«

Pancho stieß die angehaltene Luft aus.

»Stress?«, fragte Dan erstaunt. »Sie?«

Sie grinste verlegen. »Ich habe immer Stress, wenn ich die Mühle nicht selbst fliege.«

»Wir müssten Starterlaubnis bekommen, sobald das Shuttle entladen wird«, sagte Dan mit einem Blick auf die Uhr.

»Ich ziehe mir besser den Anzug an«, sagte Pancho mit einem Nicken.

»Gut«, sagte Dan.

Das Fusionssystem war der letzte Teil des Raumschiffs, das in den Mondorbit gebracht werden sollte. Die Brennstofftanks und Logistikmodule kreisten schon in hundert Kilometern Höhe. Pancho sollte die Montageroboter beaufsichtigen, die die Komponenten zusammenfügen würden.

Dan ging mit ihr durch den Tunnel in den Umkleideraum, wo die Astronauten die Raumanzüge anlegten. Amanda war schon da und hielt sich bereit, um ihr beim Durchchecken zu helfen. Dan wurde sich bewusst, dass es schon lang her war, seit er jemanden durchgecheckt oder gar selbst einen Raumanzug angelegt hatte. Der Raumflug ist heute so alltäglich, dass ein Flug von der Erde zum Mond mit einer Flugreise oder Busfahrt zu vergleichen ist, sagte er sich. Aber eine andere Stimme in seinem Kopf sagte ihm: Du bist schon zu alt, um im Weltraum zu arbeiten. Du hast im Lauf der Jahre schon die maximale Strahlendosis abbekommen… und noch ein bisschen mehr.

Er fühlte sich alt und ziemlich nutzlos, während er zuschaute, wie Pancho sich in den Anzug zwängte und die neben ihr schwebende Amanda die Dichtungen und Anschlüsse überprüfte. Wie Pancho trug auch Amanda einen beigefarbenen Flugoverall. Dan stellte fest, dass sie eine Augenweide war.

Wenigstens bist du noch nicht zu alt, um für die Reize einer gut aussehenden Frau empfänglich zu sein, sagte er sich mit einem stummen Seufzer.

Doch dann wandte er sich ab und ging in Richtung des Tunnels, der den Raumhafen mit dem Stadtgebiet von Selene verband. Er kam sich nutzlos vor und fragte sich, ob Humphries nicht doch Recht hatte und er wirklich mit dem Kopf durch die Wand wollte.

Als er gerade den Korridor betreten wollte, der zum Verbindungstunnel führte, sah er Doug Stavenger aus der Gegenrichtung kommen. Er machte einen jugendlichen, agilen und zielstrebigen Eindruck.

Verdammte Hacke, sagte er sich, Stavenger ist älter als ich und sieht aus wie ein junger Spund. Vielleicht sollte ich mich auch einer Nanotherapie unterziehen.

»Wollen Sie auch den Start anschauen«, fragte Stavenger fröhlich.

»Ich glaube, ich gehe zum Startzentrum und schaue ihn mir von dort aus an.«

»Ich gehe dazu am liebsten in die Beobachtungskuppel.«

»Von dort komme ich gerade«, sagte Dan.

»Kommen Sie, gucken wir uns den Start live an, anstatt ihn auf dem Bildschirm zu verfolgen.«

Stavengers Begeisterung war ansteckend. Also machte Dan kehrt und ging durch den engen Tunnel zur Kuppel zurück.

Sie schlüpften durch die offene Luke in die enge Kammer. Stavenger erklomm die zwei Stufen und schaute grinsend nach draußen. Dan quetschte sich neben ihn und hätte sich fast den Kopf an der Glasstahl-Kuppel gestoßen.

»Ich habe mich als Kind immer hierher geschlichen, um die Starts und Landungen zu beobachten«, sagte Stavenger grinsend. »Heute gibt mir das immer noch einen Kick.«

Dan nuschelte einen höflichen Kommentar.

»Ich meine, wir verbringen fast das ganze Leben im Untergrund«, fuhr Stavenger fort. »Da tut es gut, ab und zu mal wenigstens nach draußen zu schauen.«

»Solang das Glas nicht bricht.«

»Dafür haben wir die Sicherheitsluken.«

»Aber man muss schnell hindurchschlüpfen, ehe sie sich selbsttätig schließen«, sagte Dan.

»Stimmt«, sagte Stavenger lachend.

Sie standen Schulter an Schulter in der engen Kuppel und lauschten den Stimmen des Flugsicherungspersonals, das den Countdown herunterzählte. Stavenger schien so aufgeregt wie ein Kind; Dan beneidete ihn darum. Eine kleine Zugmaschine rollte geräuschlos über den Kraterboden zur Startrampe. Die im Raumanzug steckende Pancho sprang in einer traumartigen Zeitlupenbewegung vom Fahrzeug ab und wirbelte dabei eine träge graue Staubwolke auf. Dann stieg sie die Leiter hoch und kletterte ins Einpersonen-Modul des Boosters.

»Das ist nur eine Montage-Mission, nicht wahr?«, fragte Stavenger.

»Richtig«, sagte Dan. »Sie fungiert auf diesem Flug nicht als Pilotin, sondern als Aufpasser für die Roboter.«

Seltsamerweise spürte Dan, wie er feuchte Hände bekam, als der Countdown sich dem Ende zuneigte. Entspann dich, sagte er. Da ist überhaupt nichts dabei.

Trotzdem schlug sein Herz schneller.

»…drei… zwei… eins… Zündung«, sagte die automatisierte Countdown-Stimme.

Das Raumschiff wurde in einer Wolke aus Rauch und körnigem Staub, die sich im Moment ihrer Entstehung fast schon wieder verflüchtigte, von der Startrampe katapultiert. Eben hatte das Schiff noch auf dem Beton gestanden, und im nächsten Moment war es verschwunden.

»Der Start ist erfolgt«, sagte einer der menschlichen Controller gemäß altehrwürdiger Tradition. »Alle Systeme im grünen Bereich.«

»Bestätige alle Systeme grün«, ertönte Panchos Stimme im Lautsprecher. »Orbitales Einschwenken in zehn Sekunden.«

Es war alles reine Routine. Trotzdem entspannte Dan sich erst, als Pancho meldete: »Auf geht's, Jungs! Ich habe die Module erreicht. Zeit, an die Arbeit zu gehen.«

»Rendezvous abgeschlossen. Initiiere Montageprozedur«, erwiderte eine Controllerin.

»Die klingt eher wie ein Roboter als ein menschliches Wesen«, befand Dan.

»In Ordnung, Pancho«, ergänzte die Controllerin in diesem Moment. »Ich sehe dich morgen Abend im Pelican.«

Stavenger schaute Dan grinsend an. »Vielleicht trinkt sie einen Schoppen Schmieröl.«

Sie gingen durch den Korridor zum Tunnel, der nach Selene führte. »Wann werden Sie für den Flug zum Gürtel bereit sein?«, fragte Stavenger, als sie in einen automatisierten Wagen stiegen, der den Transport im kilometerlangen Tunnel besorgte.

»Wir haben einen Monat für die unbemannte Flugerprobung und Demo-Flüge für die IAA-Zulassung angesetzt. Sobald die Bürokraten uns die Genehmigung erteilen, kann es losgehen.«

»Wäre Ihr Raumschiff auch imstande, Jupiter zu erreichen?«

Dan wunderte sich über diese Frage. »Theoretisch ja. Aber dafür werden wir nicht genügend Brennstoff und Proviant mitführen. Jupiter ist fast doppelt so weit entfernt wie der Gürtel.«

»Ich weiß«, murmelte Stavenger.

»Wieso fragen Sie dann?«

Stavenger antwortete nicht gleich. Derweil schnürte das Fahrzeug ruhig und bis auf den leise surrenden Elektromotor geräuschlos durch den glattwandigen Tunnel. »Früher oder später werden wir zum Jupiter fliegen müssen… oder auch zu einem der anderen Gasriesen«, sagte Stavenger schließlich.

Dan wusste, worauf er hinauswollte. »Fusionsbrennstoff.«

»Die Jupiteratmosphäre ist reich an Wasserstoff- und Helium-Isotopen.«

»Kris Cardenas hat mir gegenüber schon einmal so etwas erwähnt«, erinnerte sich Dan.

»Sie und ich haben darüber gesprochen. Fusionsbrennstoffe könnten ein wichtiges Handelsgut für Selene werden. Und sehr profitabel für die Starpower GmbH.«

»Auf Asteroiden zu schürfen ist aber viel einfacher, als Gase aus der Jupiter-Atmosphäre abzusaugen.«

»Ja«, bestätigte Stavenger, »aber Ihr Plan, große Segmente der irdischen Industrie in den Weltraum auszulagern, ist nur Teil der Lösung des Treibhausproblems, Dan.«

»Ich weiß, aber es ist ein großer Teil.«

»Die andere Hälfte besteht darin, den Menschen den Umgang mit fossilen Brennstoffen abzugewöhnen. Sie müssen damit aufhören, Treibhausgase in die Atmosphäre zu pumpen, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollen, die Erderwärmung zu stoppen.«

»Und Fusion würde diese Möglichkeit eröffnen«, murmelte Dan.

»Es ist die einzige Möglichkeit«, sagte Stavenger mit Nachdruck. »Eure Sonnenenergie-Satelliten vermögen nur einen Bruchteil der Energie zu liefern, die die Erde benötigt. Mit Fusion wäre der gesamte Bedarf gedeckt.«

»Falls es uns gelingt, genügend Helium-Drei zu gewinnen.«

»Es gibt noch andere Fusionsprozesse als die Verschmelzung von Deuterium zu Helium-Drei, die außerdem effizienter sind. Aber sie alle hängen von Isotopen ab, die auf der Erde nur in verschwindend geringen Mengen vorkommen.«

»Dafür umso reichlicher auf dem Jupiter«, sagte Dan.

»Das ist richtig.«

Dan nickte. Er hat Recht, sagte er sich. Fusion war vielleicht die Antwort. Wenn es uns gelänge, die mit fossilen Brennstoffen befeuerten irdischen Kraftwerke durch Fusionskraftwerke zu ersetzen, dann würden die Treibhaus-Emissionen fast auf Null reduziert. Mit Fusionskraftwerken vermochte man den Strom für Elektroautos zu erzeugen. Damit würde eine weitere große Treibhausgasquelle versiegen.

Er schaute Stavenger mit neuem Respekt an. Der Mann wurde von der Erde verbannt, und trotzdem will er ihr helfen. Und er ist weitsichtiger als ich.

»In Ordnung«, sagte er. »Nach dem Flug zum Gürtel nehmen wir den Jupiter in Angriff. Ich werde sofort die Planungsphase einleiten.«

»Gut«, sagte Stavenger. »Wird das ein Starpower-Projekt, oder ist die Astro Corporation federführend?«

Für einen Moment war Dan baff. Als er die Sprache wiederfand, reichte es nur zu einem schockierten Flüstern: »Sie wollen Humphries ausbooten?«

»Er ist offensichtlich bestrebt, die alleinige Kontrolle über die Ressourcen der Asteroiden zu erlangen«, sagte Stavenger kalt wie Stahl. »Deshalb hielte ich es nicht für klug, ihm auch noch die Kontrolle über den Fusionsbrennstoff zu überlassen.«

Bei allen Göttern im Götterhimmel — dieser Mann ist doch wirklich bereit, gegen Humphries in den Krieg zu ziehen, sagte sich Dan.

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