Forschungszentrum des Humphries Trust

George stand am Weg, der zu Humphries' Haus hinaufführte. Es war unheimlich gewesen, die Rolltreppen in dem Tarnanzug hinunterzufahren, den Ike Walton auf seine Größe geändert hatte. George sah seine eigenen Füße nicht. Einmal wäre er beinahe gestolpert und die Rolltreppe hinuntergepurzelt.

Walton hatte wie ein Schuljunge gewirkt, der beim Betrachten eines Pornohefts erwischt wurde, als Stavenger in sein Büro geschneit war und ihn aufgefordert hatte, den Tarnanzug für George zu ändern.

Walton war rot angelaufen und hatte gestammelt, dass er dafür die Hilfe der Nanolab-Techniker bräuchte und dass dann die Geheimhaltung aufgehoben würde, der der Tarnanzug seit seiner Erfindung unterlag.

»Das spielt nun auch keine Rolle mehr«, hatte Stavenger gesagt. »Die Tarnung ist eh schon aufgeflogen.«

Am Ende ging Stavenger selbst mit Walton und George zum Nanolabor und forderte die Chef-Technikerin auf, das Labor zu räumen und allein mit Walton zu arbeiten. Unter völliger Geheimhaltung. Als ihr klar wurde, dass Dr. Cardenas' Leben auf dem Spiel stand, erklärte sie sich damit einverstanden.

»Ich hatte sowieso schon Gerüchte über einen Tarnanzug gehört«, sagte sie, nachdem Walton ihr erklärt hatte, um was es ging.

»Dann streuen Sie nicht noch mehr Gerüchte aus«, bat Stavenger sie.

Walton hatte die Programme für die Nanomaschinen in seinen persönlichen Dateien versteckt. Binnen weniger Stunden sahen er und die Chef-Technikerin, wie ein dunkles, glitzerndes Tarngewebe auf einem Labortisch Gestalt annahm. George stand hinter ihnen und machte große Augen, als die unsichtbaren virengroßen Maschinen haufenweise Metallspäne in einen neuen Anzug verwandelten.

Nun stand er um zwölf Uhr mittags am Eingang von Humphries' Haus und suchte nach einem Weg, unentdeckt durch die Vordertür zu gelangen. Die große Kaverne befand sich im Tageslicht-Modus und wurde von langen Reihen Vollspektrum-Lampen hell erleuchtet. George fragte sich, ob die Leute im Haus auswärts zu Mittag aßen und stellte sich dicht neben die Tür.

Plötzlich ging sie auf, und zwei von Humphries' Leuten aus der Abteilung Forschung und Entwicklung kamen heraus. Sie waren in ein Gespräch vertieft. George identifizierte sie anhand der Kleidung als Wissenschaftler: Der Mann trug ein labbriges Rundhals-T-Shirt und ausgewaschene Jeans und hatte einen Pferdeschwanz; die Frau war mit einem leichten Sweater und einer weiten, bequemen Hose bekleidet. Sie unterhielten sich über den Lebenszyklus irgendeiner Spezies mit einem lateinischen Namen.

George huschte hinter ihnen vorbei zur Tür, bevor sie sich wieder schloss und hielt sie mit dem ausgestreckten Arm halb auf. Die beiden Wissenschaftler gingen weiter und setzten ihr Fachgespräch fort. George stieß die Tür etwas weiter auf und lugte ins Innere. Dort standen zwei kräftige Männer in den blauen Uniformen des Sicherheitsdiensts. Sie machten einen gelangweilten Eindruck. George schlüpfte durch die Tür und ließ sie zufallen. Die beiden Wachen nahmen gar keine Notiz davon. Sie unterhielten sich über das Fußballspiel vom Vorabend, das live aus Barcelona übertragen worden war.

Ein älterer Mann in einem dunklen Anzug kam durch eine Tür der Halle. Er hatte den starren Gesichtsausdruck eines Butlers. George schlich auf Zehenspitzen an den Wachen vorbei und warf im Vorbeigehen einen Blick durch jede offene Tür. Er hörte Stimmen zur Linken und fand eine Tür, die sich auf einen langen Korridor öffnete. In ihm wimmelte es von Leuten. Sie wechselten zwischen den Büros hin und her, die diesen Gang säumten. Hier müssen die Forscher arbeiten, sagte er sich. Machen sie gerade Mittagspause?

Es war schwierig, unter der Gesichtsmaske Gerüche wahrzunehmen, doch George stieg der unverkennbare Duft von gegrillten Steaks in die Nase — einen Duft, den er nicht mehr genossen hatte, seit er auf der Erde gewesen war. Steaks!, sagte er sich. Humphries macht es nichts aus, sein verdammtes Geld für den Import von Steaks auszugeben.

Der Korridor endete in einer belebten Edelstahl-Küche, die einem mittelgroßen Restaurant alle Ehre gemacht hätte. Hier isst das Personal, erkannte George. Zumindest zu Mittag. Köche und Küchenhilfen wuselten geschäftig umher, dampfende Töpfe standen auf den Herden, und auf einem Grill im Industrieformat brutzelten dicke Steaks. George zählte elf. Ein Bankiers-Dutzend, sagte er sich.

Eines der dunkel uniformierten Zimmermädchen stellte auf einem großen Teakholz-Tablett ein weitaus frugaleres Mahl zusammen: einen grünen Salat, eine Melonenscheibe und eine Tasse Tee. Ein Damen-Lunch, sagte George sich.

Er folgte dem Zimmermädchen, als sie das Tablett an ihm vorbei durch den Korridor und die Treppe hinauf in den ersten Stock trug. Eine der Türen der Halle im Obergeschoss wurde von einem gelangweilt blickenden jungen Mann in einem grauen Geschäftsanzug bewacht. Beim Anblick des Mädchens öffnete er die Tür.

»Hier ist Ihr Mittagessen, Dr. Cardenas«, sagte er.

George hielt inne, als das Zimmermädchen durch die Tür ging. Nach weniger als einer Minute kam sie mit dem leeren Tablett wieder heraus. Sie schloss die Tür. George hörte sie ins Schloss fallen. Die Wache lächelte sie an, und sie erwiderte das Lächeln, aber keiner von beiden sagte etwas, als sie zur Treppe ging.

George lehnte sich ein halbes Dutzend Meter von der lethargischen Wache entfernt an die Wand. Der Mann saß auf einem Holzstuhl und zog einen Palmtop aus der Innentasche des Jackets. Anhand der Pieptöne folgerte George, dass der Kerl ein Computerspiel spielte, um die Zeit totzuschlagen.

In Ordnung, sagte George sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Cardenas ist da drin. Sie ist noch am Leben. Aber wie soll ich sie lebendig hier herausschaffen?

Er brachte fast eine Stunde damit zu, die Halle im ersten Stock zu durchstreifen, das Treppenhaus zu überwachen und die einsame Wache im Auge zu behalten. Humphries bestand anscheinend auf einer Kleiderordnung für seine Bediensteten, sagte George sich. Die Wachen trugen Anzüge, und die Zimmermädchen und Küchenhilfen trugen Uniformen. Die Wissenschaftler hielten sich im anderen Trakt des Hauses auf. Sie waren kein Problem, sagte George sich.

Das Zimmermädchen kehrte mit einem leeren Tablett zurück, ging in Cardenas' Zimmer und verließ es mit dem Gedeck. George fragte sich, ob Cardenas im Hungerstreik war; sie hatte kaum etwas gegessen.

Kurz darauf betrat Humphries selbst die Halle. Er war salopp gekleidet: mit einem weißen Velourspullover und einer Hose mit scharfen Bügelfalten. Die Wache sprang auf und stopfte den noch immer piependen Palmtop in die Seitentasche. Humphries schaute ihn mit gerunzelter Stirn an und bedeutete ihm mit einer ungeduldigen Geste, die Tür zu öffnen.

Die Tür wird abgeschlossen, erkannte George, als Humphries den Raum betrat. Er wartete, bis die Tür fast geschlossen war. Dann schlich er sich auf Zehenspitzen an und stieß sie ein Stück weit auf. Die Wache nahm keine Notiz davon, denn sie war schon wieder ins Computerspiel vertieft. George öffnete die Tür halb und schlüpfte in den Raum.

Humphries fiel es auf. Mit gerunzelter Stirn marschierte er zur Tür und herrschte die Wache an: »Können Sie denn nicht mal eine gottverdammte Tür richtig schließen?« Dann schlug er sie zu.

George unterdrückte ein Lachen und stellte sich in eine Ecke des Raums. Dr. Cardenas stand angespannt am einzigen Fenster. Ein luxuriöses Zimmer, sagte George sich: große Möbel aus echtem Holz. Sie nach Selene zu transportieren, musste mehr gekostet haben, als das gesamte Küchenpersonal in zehn Jahren verdiente.

»Wie fühlen Sie sich heute?«, fragte Humphries Cardenas und ging über den teuren Orientteppich auf sie zu.

»Ich will nach Hause«, sagte sie matt, als sei das ein Wunsch, von dem beide wussten, dass er nicht in Erfüllung gehen würde.

Folgerichtig tat Humphries so, als habe er sie nicht gehört. »Es tut mir Leid, dass ich Sie hierher bringen musste. Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefällt.«

»Ich will nach Hause«, wiederholte Cardenas mit größerem Nachdruck. »Sie können mich nicht ewig hier einsperren.«

»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten. Wenn Sie sich damit einverstanden erklären, könnten Sie zur Erde zurückkehren und Ihre Enkelkinder wiedersehen.«

Sie schloss müde die Augen. »Ich will einfach nur in mein Quartier hier in Selene zurückkehren. Lassen Sie mich gehen. Bitte.«

Humphries seufzte theatralisch und setzte sich auf den Polsterstuhl am Fenster. »Das ist zum jetzigen Zeitpunkt leider unmöglich. Das werden Sie doch sicher verstehen.«

»Ich werde auch zu niemandem ein Wort sagen«, sagte Cardenas und ging unsicher zum Sofa, das seinem Stuhl gegenüberstand. »Ich will einfach nur zu meinem normalen Leben zurückkehren.«

»Ohne Randolph zu warnen?«

»Es wäre sowieso zu spät, Randolph noch zu warnen«, sagte sie. »Das wissen Sie auch.«

Humphries spreizte die Hände. »Trotzdem wäre die beste Option für Sie, zur Erde zurückzukehren. Sie würden in einer sehr komfortablen Unterkunft wohnen, und ich persönlich garantiere Ihnen, dass Ihre Töchter und Enkelkinder zu Ihnen gebracht werden.«

»Auf die gleiche Weise, wie ich hierher gebracht wurde?«

»Es ist Ihnen doch nichts passiert, oder? Sie werden sehr zuvorkommend behandelt.«

»Ich bin trotzdem eine Gefangene.«

George hatte den Eindruck, dass Humphries sich stark beherrschen musste. »Aber Sie brauchen doch nur zu tun, worum ich Sie bitte«, sagte er gepresst, »und Sie können zur Erde und Ihrer Familie zurückkehren. Was wollen Sie mehr?«

»Ich will nicht zur Erde zurückkehren!«, platzte Cardenas heraus. »Ich will nicht Teil Ihres Plans sein.«

»Aber Sie haben noch nicht einmal gehört, wie mein… Plan, wie Sie ihn nennen, überhaupt aussieht.«

»Das ist mir auch egal. Ich will ihn gar nicht hören.«

»Aber er wird den Treibhauseffekt stoppen. Er wird die Erde retten.«

»Die Erde ist nicht mehr zu retten. Das wissen Sie ganz genau.«

Er ließ für einen Moment den Kopf hängen, als ob er nach den richtigen Worten suchte. Schließlich schaute er sie wieder an. »Sie können die Erde retten, Dr. Cardenas. Das ist der eigentliche Grund, weshalb ich Sie habe hierher bringen lassen. Ich brauche Sie, um den Plan durchzuführen. Ich brauche dafür die beste Person, die es überhaupt gibt. Diese Person sind Sie. Niemand sonst wäre in der Lage, das zu bewerkstelligen.«

»Worum auch immer es sich handelt, ich stehe nicht zur Verfügung«, sagte Cardenas entschieden.

«Auch nicht für die Rettung der Erde?«

Wenn Blicke töten könnten… »Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass ich die Erde retten wollte?«

»Wollen Sie nicht einmal Ihre Enkelkinder retten?« Er sagte das mit einem Lächeln.

Cardenas stockte der Atem, als sie die Bedeutung seiner Frage erfasste. »Sie bedrohen meine Familie?«

»Habe ich etwa eine Drohung ausgesprochen?«, fragte er unschuldig.

»Sie sind verachtenswert!«

Humphries erhob sich langsam wie ein Mann, der es leid war, sich mit einem widerspenstigen Kind herumzuärgern. »Dr. Cardenas«, sagte er bedächtig, »Sie haben nicht viele Optionen. Bitte hören Sie sich an, was ich Ihnen zu sagen habe.«

»Ich werde zu niemandem ein Wort sagen.«

»Davon spreche ich jetzt nicht.«

Sie setzte zu einer Erwiderung an und überlegte es sich dann anders.

»Hören Sie sich wenigstens an, was ich zu sagen habe.«

Sie starrte ihn an.

»Denken Sie an Ihre Enkelkinder auf der Erde«, lockte Humphries. »Ihre Zukunft liegt in Ihren Händen.«

Noch immer ohne ein Wort zu sagen, setzte Cardenas sich Humphries gegenüber aufs Sofa.

»So ist es schon besser«, sagte er lächelnd. »Wir beide sind doch vernünftige Leute. Ich bin sicher, dass wir eine Lösung finden.«

George schlich sich näher heran und lauschte aufmerksam.

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