Dan vermochte einfach nicht einzuschlafen. Pancho hatte versucht, eine Verbindung mit Amanda und Fuchs herzustellen, die aber nicht zustande kam.
»Muss heiß hergehen da draußen«, sagte sie.
Dan glaubte, Besorgnis herauszuhören. Das war nicht die freche Pancho, wie er sie kannte. Oder vielleicht ist sie auch nur müde. Oder gelangweilt.
Aber wie kann überhaupt Langeweile aufkommen, wenn nur einen Meter über einem ein solcher Sturm tobt?, fragte Dan sich. Ein Sturm der besonderen Art. Ohne Donner und Blitz. Man hörte gar nichts, sofern man das Knistern und Rauschen im Funkempfänger nicht berücksichtigte.
Stille. Totenstille.
Dan fand den Wassernippel im Anzugskragen und nahm einen Schluck. Eine schale, warme Brühe. Wie recycelte Pisse.
Noch mehr als sieben Stunden. Bis dahin bin ich fix und fertig mit den Nerven.
Dann schmeckte er Blut im Mund.
Es durchfuhr ihn wie ein Stromschlag. Er verkrampfte sich und vermochte an nichts anderes mehr zu denken.
Blutender Gaumen, sagte er und versuchte die aufkeimende Panik zu unterdrücken. Eins der primären Symptome der Strahlenkrankheit.
Oder vielleicht hast du dir nur aus Versehen auf die Zunge gebissen, sagte er sich.
Ja, sicher, antwortete diese spöttische Stimme in seinem Kopf. Die Strahlenkrankheit hat dich schon einmal erwischt, und du kennst die Routine. Nur dass dir diesmal nichts anderes übrig bleibt, als in diesem Grab zu sitzen und die Strahlung auf dich einwirken zu lassen.
»Pancho«, krächzte er und wunderte sich darüber, dass er einen so trockenen Hals hatte.
»Hier, Boss.«
»Kannst du deinen Anzugrecorder einschalten?«
»Ja, ich glaube schon…«
Dan spürte, wie sie herumfuhrwerkte. So müssen Maulwürfe leben, sagte er sich. Sie orientieren sich durch Berührung anstatt visuell. Sein Magen spielte verrückt. Mein Gott, bitte lass nicht zu, dass ich die Kekse in den verdammten Helm küble, betete er stumm.
»Test, eins, zwei, drei«, sagte Pancho. Im nächsten Moment hörte er die Wiedergabe der Worte.
»In Ordnung, der Recorder funktioniert.«
»Gut«, sagte Dan. »Schalte auf Aufnahme.« Er räusperte sich. Die Kehle wirkte wund. Und dann sagte er mit einer so normalen Stimme, wie er sie zustande bekam:
»Ich bin Dan Randolph, Vorstandsvorsitzender der Astro Manufacturing Corporation. Dies ist mein letzter Wille und Testament. Das Aufzeichnungsgerät signiert diese Aussage automatisch mit Datum und Zeit.«
»Das ist richtig«, sagte Pancho.
»Unterbrich mich nicht, Mädchen. Wo war ich? Ach ja, letzter Wille und Testament. Ich vermache hiermit alle meine Aktien der Astro Corporation an meine Freundin und loyale Mitarbeiterin Priscilla Lane, zusammen…«
Pancho war so geschockt, dass sie sich nicht einmal über die Nennung ihres richtigen Namens echauffierte. »Mir. Bist du verrückt?«
»Unterbrich mich nicht!«, sagte Dan schroff. »Alle meine Astro-Aktien gehen an Priscilla Lane, zusammen mit meinem ganzen persönlichen Besitz.« Er musste innehalten und ein paarmal durchatmen. Dann: »Und ich setze Priscilla Lane in meinen Platz im Vorstand der Astro Corporation ein.«
Er dachte für ein paar Minuten darüber nach und nickte dann zufrieden. »In Ordnung. Das war's. Du kannst den Recorder wieder ausschalten.«
»Wieso tust du das? Wie kommst du dazu… ?«
»Ich schaffe es nicht, Mädchen«, sagte Dan müde. »Die Strahlung frisst mich auf. Ich will, dass du meinen Platz im Vorstand einnimmst und diesen Hurensohn Humphries mit aller Kraft bekämpfst, die du aufbringst.«
»Ich? Ich bin doch nur eine Ingenieurin… ein Raketen-Jockey, um es deutlich zu sagen.«
»Du bist meine Erbin, Pancho. Wie eine Tochter. Ich habe keine Familie, der ich etwas hinterlassen könnte, zumal du Astro so gut wie jeder andere kennst.«
»Aber nicht den Vorstand.«
Dan lachte schwach. »Du wirst sie überrollen, Mädchen. Der Vorstand braucht frisches Blut. Du wirst natürlich gegen Humphries kämpfen müssen. Er wird den Platz des Vorsitzenden anstreben, wenn ich nicht mehr da bin.«
»Du sprichst so, als stündest du schon an der Schwelle des Todes«, sagte Pancho mit leiser Stimme.
»Ich glaube, da stehe ich auch. Der Gaumen blutet. Ich bin benommen. Die Ohren klingeln. Ich hoffe nur, dass ich nicht die Scheißerei kriege.«
»Der Sturm ist fast vorbei«, sagte sie.
»Mit mir ist es auch vorbei.«
»Sobald wir wieder im Schiff sind, zischen wir in ein paar Tagen nach Selene zurück. Vielleicht noch schneller! Ich pusche es auf ein halbes G.«
»Und wie willst du das Schiff abbremsen? Durch einen Aufschlag mitten in Alphonsus?«
Pancho sagte für eine Weile nichts. Dan war froh, dass sie ihn nicht sah. So, wie er sich fühlte, würden die Hände wahrscheinlich wie die eines Greises zittern, wenn sie nicht im Geröll des Asteroiden vergraben wären.
»In Selene ist es möglich, die Strahlenkrankheit zu heilen«, sagte Pancho schließlich. »Mit Nanomaschinen.«
»Falls ich es bis nach Selene schaffe.«
»Nur noch sieben Stunden«, sagte sie. »Die Strahlung hat die höchste Intensität erreicht.«
»Nicht so tief wie ein Brunnen«, rezitierte Dan, »oder so breit wie eine Kirchentür, aber es ist genug. Es wird reichen.«
»Fällst du ins Delirium?«
»Nein, das ist Shakespeare. Romeo und Julia.«
»Ach so. Alles klar.«
»Ich werde ein Nickerchen machen, Mädchen. Ich bin ziemlich müde.«
»Das ist eine gute Idee.«
»Weck mich, wenn es vorbei ist.«
Kris Cardenas wunderte sich darüber, dass die Hände so stark zitterten, während sie arbeitete. Nanomaschinen auf das Knacken von kohlenstoffbasierten Molekülen zu programmieren war eine Kleinigkeit und keine geistige Meisterleistung. Es bedurfte nur einer kleinen Modifikation der Prozedur, aufgrund derer sie täglich Diamanten aus Ruß bauten.
Es lag nicht am Schwierigkeitsgrad der Arbeit. Als sie auf der Laborbank saß und konzentriert auf den Computermonitor schaute, der abbildete, was das Kraftfeldmikroskop zeigte, dachte sie über die Konsequenzen nach.
Gobblers. Ich erschaffe vorsätzlich eine Charge Gobb-lers. Wenn die losgelassen werden…
Beruhige dich!, sagte sie sich. Geh das logisch durch, Schritt für Schritt.
In Ordnung, sie werden die Tür aufbrechen und mich tot auf dem Boden liegend vorfinden. Ich werde eine Nachricht auf dem Bildschirm hinterlassen. In großen roten Buchstaben, sodass man es nicht übersieht. Ich erzeuge nur eine Mikroprobe von Gobblers und deaktiviere ihre Assembler-Fähigkeiten. Sie vermögen sich nicht zu reproduzieren. Ich werde sie im Körper tragen.
Aber was, wenn sie ihn verlassen? Sie werden dich von innen auseinander nehmen. Was sollte sie daran hindern, nach draußen zu gelangen?
Nichts, sagte sie sich. Also werde ich die UV-Lampen an der Decke einschalten, bevor ich die Nanos schlucke. Dann werden sie zerstört, sobald sie meinen Körper verlassen.
Ein Klopfen an der Tür schreckte sie auf.
»Dr. Cardenas? Wir wissen, dass Sie da drin sind. Machen Sie bitte auf.«
Sie löschte den Bildschirminhalt und tippte hastig ihre Selbstmordmitteilung ein.
»Warnung. Ich habe ein Mikrogramm Nanomaschinen-Disassembler verschluckt. Sie sind darauf programmiert, kohlenstoffbasierte Moleküle zu zerlegen. Sie dürfen dieses Labor nicht verlassen. Das Labor muss mit hochintensivem ultraviolettem Licht desinfiziert werden, ehe meine Leiche bewegt oder irgendetwas in diesem Raum angefasst wird. Benachrichtigen Sie…«
Jemand schlug fest gegen die Tür. »Kris! Hier ist Doug Stavenger. Sie haben keinen Grund, das zu tun. Kommen Sie schon heraus.«
Sie überflog die roten Großbuchstaben auf dem Bildschirm und löschte die letzten beiden Worte. Doug musste nicht mehr benachrichtigt werden, denn er war schon da.
»Kris, es ist nicht Ihre Schuld.« Stavengers Stimme drang nur gedämpft durch die schwere Stahltür, aber sie hörte die Dringlichkeit trotzdem heraus. »Kommen Sie raus und reden Sie mit mir.«
Sie erhob sich vom Hocker und ging zum Probenbereich am Ende der Bank. Dort stand ein Becher aus glänzendem Mond-Aluminium. Er war halb voll mit Wasser und enthielt die Nanomaschinen, mit denen sie sich umbringen wollte.
»Kris«, rief Stavenger, »Sie haben sich der Entwicklung der Nanotechnik verschrieben. Werfen Sie nicht alles weg. Geben Sie ihnen nicht noch einen Grund, Nanomaschinen als Killer zu bezeichnen.«
Sie nahm den Becher und hielt ihn in beiden Händen. Ich vermag mit dieser Schuld nicht zu leben, sagte sie sich. Ich habe einen Mord begangen. Ich habe vier Menschen getötet.
»Das wird man nämlich sagen«, rief Stavenger durch die geschlossene Tür. »Sie wissen das. Man wird sagen, dass Nanomaschinen den Pionier der Forschung in diesem Bereich getötet hätten. Man wird es als Beleg für die Gefährlichkeit der Nanomaschinen und für die Richtigkeit der Entscheidung werten, sie von vornherein zu ächten.«
Sie blickte auf die verschlossene Tür. Es war zwar Humphries' Idee, aber ich habe sie umgesetzt. Bereitwillig. Er hat die Fäden gezogen, und ich habe wie eine Marionette getanzt.
»Werfen Sie doch nicht Ihr Leben weg, Kris«, flehte Stavenger sie förmlich an. »Sie werden alles zerstören, wofür Sie gearbeitet haben. Sie werden ihnen den Vorwand liefern, den sie brauchen, um zurückzukommen und uns unter ihre Knute zu zwingen.«
Humphries, sagte sie sich. Mein Tod würde ihn in die Lage versetzen, die ganze Sache auf mich abzuwälzen. Seine Anwälte würden ihn rauspauken. Er käme ungeschoren davon. Mit vier Morden. Fünf, wenn man mich mitzählt.
Cardenas brachte den Becher zum Probenbereich zurück und verschloss ihn mit dem dazugehörenden Aluminiumdeckel. Als der Deckel eingerastet war, stellte sie den Becher in den Entsorgungs-Ofen und schloss die Tür. Das Innere des Ofens fluoreszierte, während die Ultraviolettlampen den Becher sterilisierten.
Wieso sollte ich für Martin Humphries sterben?, fragte sie sich. Jemand muss es ihm heimzahlen. Die Wahrheit muss ans Licht. Ich werde ihm entgegentreten, werde ihnen allen entgegentreten — was auch immer es mich kostet.
»Kommen Sie schon, Kris. Öffnen Sie die Tür.«
Cardenas wusste, dass man sie über die Überwachungskamera beobachtete. Sie ging zum Computer zurück und löschte die Botschaft. Die Zerstörung der Gobblers hat auch noch bis morgen Zeit, sagte sie sich. Fürs Erste sind sie im Ofen sicher verwahrt.
Langsam ging sie zur Tür und blieb am Tastenfeld stehen, das neben der Tür in die Wand eingelassen war.
»Doug?«, rief sie.
»Ich bin hier, Kris. Öffnen Sie bitte die Tür.«
»Es ist verrückt«, sagte sie und kam sich blöd vor, »aber ich habe die Ziffernfolge vergessen, mit der ich das Schloss zurückgesetzt hatte.«
Gedämpftes Stimmengewirr hinter der Tür. Dann meldete Stavenger sich. Er klang erleichtert. »In Ordnung, Kris. Der Sicherheitsdienst kommt mit einem Analysator. Wir werden die Tür in ein paar Minuten aufhaben.«
»Doug?«, sagte sie.
»Ja?«
»Danke.«
»Da nada«, antwortete er.
Als die Tür schließlich geöffnet wurde, wunderte Cardenas sich darüber, wie ruhig sie war. Erst im Angesicht des Todes hatte sie entdeckt, dass sie stark genug zum Weiterleben war.
Auf dem Korridor draußen drängten sich Männer und Frauen in den Overalls des Sicherheitsdiensts, ein halbes Dutzend ihrer Nanotech-Mitarbeiter, weißgekleidete Sanitäter und Doug Stavenger.
»Sind Sie in Ordnung?«, fragte Stavenger besorgt.
Ein Lächeln stahl sich in Cardenas' Gesicht. »Jetzt ja«, sagte sie.