Sturmbunker

Vier besorgte Menschen saßen um den Tisch in der Messe der Starpower I. Der Wandbildschirm zeigte eine Grafik des Sonnensystems mit der Strahlungswolke, die die Protuberanzen ausgesandt hatten. Die Wolke erschien als ein amorpher grauer Klecks, der vom interplanetarischen Magnetfeld deformiert wurde. Die Annäherung an Erde und Mond erfolgte schnell. Ein einsamer, pulsierender gelber Punkt tief im Asteroidengürtel zeigte, wo ihr Schiff sich befand.

»Zeige die Projektionen für die nächsten beiden Tage«, sagte Dan zum Computer.

In dem Maß, wie die Wolke sich ausdehnte, wurde sie ausgedünnt. Doch dann raste sie über den Marsorbit hinaus, brandete gegen den inneren Gürtel an und überrannte den blinkenden gelben Punkt, der die Position der Starpower 1 markierte.

Pancho stieß einen Laut zwischen einem Seufzer und einem Schnauben aus. »Es führt kein Weg dran vorbei. Wir bekommen es ab.«

Amanda schaute von ihrem Palmtop auf. »Wenn wir den Rest des Brennstoffs in einen Tank pumpen würden, hätten wir eine Art Schutzbunker…«

»Es hieß doch, dass wir dann die Sekundärteilchen abkriegen würden«, murmelte Dan.

»Es wäre eine hohe Belastung«, gestand Amanda, »aber wenn es uns gelänge, den Brennstoff mit Druck zu beaufschlagen, würde er vielleicht die meisten Sekundärpartikel abbremsen, bevor sie uns erreichen.«

»Wenn wir uns genau in der Mitte des Tanks befänden«, sagte Pancho.

»Ja. Und natürlich in den Anzügen.«

»Würden die Anzüge die Temperatur überhaupt aushalten? Wir reden hier schließlich über flüssigen Wasserstoff und Helium — verdammt nah am absoluten Nullpunkt.«

»Die Anzüge sind gut genug isoliert«, sagte Pancho. »Allerdings hat noch niemand einen Tauchgang in flüssigem Wasserstoff mit ihnen durchgeführt«, merkte sie an.

»Und wir müssten für Gott weiß wie viele Stunden abtauchen«, murmelte Dan.

Fuchs hatte bisher kein Wort gesagt. Er war über seinen Palmtop gebeugt.

»Welche Schutzwirkung hätte der Brennstoff überhaupt?«, fragte Dan düster.

Amanda zögerte und schaute auf den Computer, den sie in der Hand hielt. »Wir müssten alle ins Krankenhaus«, sagte sie dann. »Wir müssten den Autopiloten darauf programmieren, dass er uns in die Mondumlaufbahn bringt.«

»So schlecht würde es uns gehen?«, fragte Pancho.

Amanda nickte bedeutungsschwer.

Und ich wäre tot, sagte Dan sich. Ich verkrafte nicht noch eine solche Strahlendosis. Das würde mich umbringen.

Trotzdem versuchte er positiv zu klingen. »Das ist auf jeden Fall besser, als hier herumzusitzen und Däumchen zu drehen. Pancho, fang damit an, den Brennstoff umzupumpen.«

»Wie hoch ist die maximale Druckbelastung eines Tanks?«, fragte Amanda.

»Ich frage die Spezifikationen ab«, sagte Pancho. »Kommt, wir müssen…«

»Wartet«, sagte Fuchs und schaute zu ihnen auf. »Es gibt noch eine bessere Möglichkeit.«

Dan musterte ihn. Fuchs' Augen lagen so tief in den Höhlen, dass es schwierig war, ihren Ausdruck zu erkennen. Dass er nicht lächelte, stand aber fest. Die Lippen hatte er zu einem dünnen Strich zusammengepresst.

»Computer«, rief Fuchs, »zeig die Position des Asteroiden 32-114 an.«

Ein gelber Punkt blinkte in der Nähe des inneren Bereichs des Gürtels.

»Dort müssen wir hin«, sagte Fuchs.

»Dadurch verlieren wir einen halben Tag«, wandte Pancho ein.

»Wieso gerade dorthin, Lars?«, fragte Amanda.

»Wir können ihn als Sturmbunker nutzen.«

Dan schüttelte den Kopf. »Die Strahlung der Wolke ist isotropisch. Sie kommt aus allen Richtungen. Ein Asteroid bietet da auch keinen Schutz.«

»Doch nicht hinter dem Asteroiden«, sagte Fuchs mit wachsender Erregung. »In Innern!«

»Im Innern des Asteroiden?«

»Ja! Wir graben uns ein. Die Masse des Asteroiden wird uns vor der Strahlung abschirmen!«

»Das wäre eine tolle Idee«, sagte Dan, »wenn wir eine Tiefbohrausrüstung an Bord und ein paar Tage Zeit zum Graben hätten. Uns fehlt aber beides.«

»Das brauchen wir gar nicht!«

»Ich glaube, es hackt«, rief Dan. »Sollen wir vielleicht mit deinem kleinen Kernbohrer einen Tunnel in den Asteroiden vortreiben?«

»Nein, nein«, sagte Fuchs. »Sie verstehen nicht. Dieser Körper ist ein chondritischer Asteroid!«

»Na und?«, fragte Pancho schroff.

»Er ist porös! Er ist nicht etwa massiv wie Bonanza. Es ist ein Aggregat von Chondriten — kleinen Steinen, die von der Schwerkraft zusammengehalten werden.«

»Woher willst du das denn wissen?«, fragte Dan. »Wir sind doch gar nicht nah genug rangekommen, um…«

»Schauen Sie sich doch die Daten an«, sagte Fuchs und zeigte auf den Wandbildschirm.

»Was für Daten?« Der Bildschirm zeigte noch immer die Grafik mit der Strahlungswolke.

Fuchs richtete den Palmtop wie eine Waffe auf den Monitor, und plötzlich erschien eine Tabelle mit alphanumerischen Daten auf dem Wandbildschirm.

»Nehmen Sie als Kriterium dieser Daten die Dichte«, sagte Fuchs. Er sprang vom Stuhl auf und schwebte zum Monitor. »Schauen Sie! Die Dichte entspricht der von Wasser! Es kann kein fester Körper sein! Nicht bei dieser Dichte. Er ist porös! Eine Ansammlung von Steinen! Wie ein…« — er suchte nach einem treffenden Vergleich — »wie ein Kieshaufen… ein Beanbag-Stuhl!«

Dan starrte auf die Daten und richtete den Blick wieder auf Fuchs. Der Mann befand sich eindeutig im Zustand der Erregung.

»Bist du dir da sicher?«, fragte er.

»Die Zahlen lügen nicht«, sagte Fuchs. »Zahlen lügen nie.«

Pancho pfiff leise. »Es wäre wünschenswert, dass wir noch etwas Handfesteres als nur Zahlen hätten, um uns ein Urteil zu bilden.«

»Aber das haben wir doch!«, sagte Fuchs. »Mathilde im Haupt-Gürtel und Eugenia — und ein paar C-Klasse-Körper der erdnahen Asteroiden — sind allesamt Aggregate und nicht massiv. Mikrosonden haben sie untersucht und sind sogar in sie eingedrungen!«

»Porös«, murmelte Dan.

»Ja!«

»Wir wären in der Lage, uns ohne Bohrausrüstung dort einzugraben?«

»Wahrscheinlich sind sie sogar von vielen natürlichen Tunnels durchzogen.«

Dan strich sich übers Kinn und versuchte nachzudenken, versuchte eine Entscheidung zu treffen. Wenn er Recht hat, wäre es auf jeden Fall besser, als stundenlang in einem Tank mit flüssigem Wasserstoff auf Tauchstation zu gehen. Falls Fuchs Recht hat. Falls es uns gelingt, uns im Asteroiden einzugraben und ihn als Sturmbunker zu nutzen. Wenn er sich irrt, dann sind wir alle tot.

Pancho meldete sich zu Wort. »Ich würde sagen, dass wir den Asteroiden anfliegen, Boss.«

Dan schaute ihr in die rehbraunen Augen. Sagt sie das nur, weil sie weiß, dass ich sonst nicht überleben würde. Ist sie bereit, ihr Leben zu riskieren, weil es die einzige Chance ist, meins zu retten?

»Ich bin einverstanden«, sagte Amanda. »Der Asteroid ist die bessere Option.«

Er drehte sich wieder zu Fuchs um. »Lars, bist du dir auch absolut sicher?«

»Absolut«, erwiderte Fuchs wie aus der Pistole geschossen.

»In Ordnung«, sagte Dan trotz erheblicher Bedenken. »Ändert den Kurs auf… wie hieß er noch gleich?«

»Asteroid 32-114«, antworteten Fuchs und Amanda im Chor.

»Zielen und schießen«, sagte Dan.


Dan versuchte zu schlafen, während die Starpower I dem chondritischen Asteroiden entgegenraste. Im Traum erschienen ihm Gesichter und Visionen aus der Vergangenheit, und er hatte eine vage Vorahnung der Gefahr. Als er aufwachte, war er noch müder als zu dem Zeitpunkt, als er in die Koje gekrochen war.

Er fühlte sich steif und zerschlagen, als ob jeder Muskel im Körper belastet worden wäre. Anspannung, sagte er sich. Alter, rief die spöttische Stimme im Kopf. Du wirst langsam ein alter Mann.

Er nickte sich im Spiegel der Toilettenkabine zu. Falls ich das überstehe, unterziehe ich mich einer Verjüngungs-Therapie.

Dann begriff er erst, was er sich gesagt hatte: Falls ich das überstehe.

Er zog einen frischen Overall an und goss sich auf dem Weg zur Brücke eine Tasse Kaffee ein. Amanda saß auf dem Sitz des Kommandanten, und Fuchs saß zu ihrer Rechten.

»Pancho schläft«, sagte Amanda, bevor Dan eine Frage nach ihrem Verbleib zu stellen vermochte. »Das Zusammentreffen mit 114 erfolgt in…« — sie schaute auf einen der Bildschirme — »dreiundsiebzig Minuten. Ich werde sie in einer halben Stunde wecken.«

»Ist der Brocken schon zu sehen?«, fragte Dan und lugte in die schwarze Leere hinter den Fenstern.

»Teleskopabbildung«, sagte Amanda und berührte einen Abbildungsschirm.

Ein knollenartiges, rundliches Gebilde erschien auf dem Schirm. Auf Dan machte es den Eindruck eines dunkelgrauen, fast schwarzen Strandballs, aus dem teilweise die Luft raus war.

»Wir bekommen hervorragende Daten über ihn«, sagte Fuchs. »Masse und Dichte sind bestätigt.«

»Er ist porös, wie du vermutet hast?«

»Ja, unbedingt.«

»Eine Schönheit ist er nicht gerade«, sagte Amanda.

»Das vermag ich nicht zu beurteilen«, erwiderte Dan. »Für mich ist er jedenfalls schön genug. Ich glaube, ich werde ihn Zuflucht nennen.«

»Zuflucht«, wiederholte sie.

Dan nickte. »Unsere Zuflucht vor dem Sturm.« Falls Fuchs diese Dichte-Kriterien richtig interpretiert hat, fügte er stumm hinzu.

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