Ausbruch

Kris Cardenas starrte nach Humphries' Verschwinden für eine Weile auf die verschlossene Tür und bekam dann plötzlich einen Weinkrampf. Sie schlug die Hände vors Gesicht, wankte vornüber gebeugt zum Bett und ließ sich darauf fallen. Dann ließ sie den Tränen freien Lauf.

George stand unschlüssig in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers und fragte sich, was er tun solle. Sie ist eh schon hysterisch, sagte er sich. Wenn ich nun zu ihr hingehe, ihr auf die Schulter klopfe und sage: ›Hi! Ich bin unsichtbar!‹, wird sie wahrscheinlich völlig durchknallen.

Also wartete er, bis Cardenas sich wieder beruhigte. Es dauerte nicht lang. Sie setzte sich auf dem Bett auf und atmete tief durch. Dann stand sie auf und ging ins Bad. Als sie herauskam, sah George, dass sie sich das Gesicht gewaschen und etwas Make-up aufgelegt hatte. Aber ihre Augen waren noch immer rot und verquollen.

Du kannst nicht wie angewurzelt hier herumstehen, sagte George sich. Tu etwas!

Bevor er sich noch zu einer Vorgehensweise entschlossen hatte, ging Cardenas zum Fenster und drückte mit der Hand gegen das Glas. Dann drehte sie sich um und schien den Raum abzusuchen. Mit einem leichten Nicken ging sie zum kahlen Schreibtisch und hob den Polsterstuhl an. Sie schien schwer daran zu tragen, aber sie schleppte ihn leicht schwankend zum Fenster.

Sie will die Scheibe einschlagen und hinausspringen, wurde George sich bewusst. Sie wird sich dabei aber nur verletzen.

Er berührte sie leicht am Arm und flüsterte: »Entschuldigung.«

Cardenas zuckte zusammen und ließ den Stuhl auf den Teppich fallen. Sie blinzelte und schaute sich verblüfft um.

»Entschuldigung, Dr. Cardenas«, flüsterte George.

Sie wirbelte mit aufgerissenen Augen im Kreis herum.

»Wer hat das gesagt?«

George räusperte sich und sagte etwas lauter: »Ich bin's, George Ambrose. Ich bin…«

»Wo, zum Teufel, stecken Sie?«

George war peinlich berührt. »Ich bin unsichtbar.«

»Ich werde noch verrückt«, murmelte Cardenas und ließ sich mitten im Raum auf den Stuhl fallen.

»Keine Sorge«, sagte George. »Ich bin ein Freund von Dan Randolph. Ich will Sie hier rausholen.«

»Das ist doch ein Trick.«

»Wird dieser Raum abgehört? Sind hier irgendwelche Kameras installiert?«

»Ich… glaube nicht…«

»Schauen Sie«, sagte George, wobei er sich der Absurdität dieser Phrase bewusst wurde, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. »Ich werde nun die Kapuze abnehmen und Ihnen mein Gesicht zeigen. Sie brauchen keine Angst zu haben.«

Cardenas wirkte eher argwöhnisch als ängstlich. George riss sich die Kapuze vom Kopf und zog sich die Maske vom Gesicht. Es tat gut, die kühle Luft auf der Haut zu spüren.

Sie sprang vom Stuhl auf. »Allmächtiger Gott!«

»Nein, ich bin's nur«, sagte er mit einem leichten Lachen. »George Ambrose. Ich arbeite für Dan Randolph, wissen Sie.«

Ein Ausdruck des Verstehens erschien in ihren Augen. »Waltons Tarnanzug! Er hat ihn also doch nicht zerstört.«

»Sie wissen darüber Bescheid?«

»Ich und vier weitere Leute.«

»Nun sind es noch ein paar mehr«, sagte George.

»Wie, um alles in der Welt, sind Sie überhaupt…«

»Dafür ist jetzt keine Zeit. Wir müssen Sie von hier wegbringen.«

»Und wie?«

George kratzte sich den Bart. »Gute Frage.«

»Sie haben nicht noch einen Anzug für mich dabei, oder?«, fragte Cardenas.

»Stimmt, ich hätte einen mitbringen sollen. Daran haben wir aber nicht gedacht. Zumal wir nicht genau wussten, wo Sie überhaupt steckten.«

»Was also sollen wir tun?«

George dachte für einen Moment nach. »Sie haben sich die ganze Zeit in diesem Raum aufgehalten?«

Cardenas nickte.

»Die Tür ist verschlossen, oder?«

»Ja. Und draußen ist eine Wache… jedenfalls ist immer eine Wache draußen in der Halle, wenn sie mir das Essen bringen. Sie wird wahrscheinlich bewaffnet sein.«

Georges Gesicht hellte sich auf. »Und wann bringen sie Ihnen das Essen. Wann kommt die nächste Mahlzeit?«

Kurze Zeit später klopfte es an die Tür, und sie hörten das Schloss klicken. Cardenas ließ den Blick durch den Raum schweifen, sah George aber nicht mehr.

Die Tür öffnete sich, und die stumme, missmutig dreinschauende Frau in der dunklen Uniform kam mit einem Tablett herein. Cardenas sah einen drahtigen jungen Mann an der anderen Seite des Eingangs stehen. Die Frau stellte das Tablett wortlos auf dem Kaffeetisch vorm Sofa ab und ging. Die Wache machte die Tür zu und schloss sie ab.

Cardenas setzte sich aufs Sofa. Zum ersten Mal seit Tagen hatte sie wieder Appetit. Sie spürte, wie Georges Gewicht das Kissen neben ihr eindrückte.

»Riecht gut«, sagte George.

Sie nahm den Deckel vom Teller mit Fischfilet und Gemüse.

»Sieht auch gut aus«, merkte George an.

»Sie haben Hunger«, sagte sie.

»Hab seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«

»Bedienen Sie sich.«

George brauchte keine Extraeinladung. Er entledigte sich der Gesichtsmaske und griff zu. Cardenas sah, wie Messer und Gabel sich scheinbar wie von Geisterhand bewegten und das Essen ihm ins Gesicht zu fliegen schien, das frei in der Luft schwebte. Wenn sie direkt in seine Richtung schaute, sah sie jedoch ein schwaches, kaum wahrnehmbares Funkeln. Die Chips streuen das Licht der Deckenlampen, sagte sie sich. Aber man muss schon wissen, dass er hier ist, und selbst dann ist der Effekt fast unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.

»Essen Sie denn nichts?«

»Nein, machen Sie nur.«

»Dann essen Sie wenigstens das Gemüse.«

»Ich nehme den Salat.«

Das Mahl war nach ein paar Minuten beendet. George setzte sich wieder die Maske auf und verschwand völlig.

»Sagen Sie Bescheid, wenn Sie fertig sind oder schicken sie das Mädchen nach einer bestimmten Zeit her, um das Tablett mitzunehmen?«

»Ich sage dem Wachposten Bescheid, und die schickt nach dem Zimmermädchen.«

»In Ordnung. Sagen Sie dem Aufpasser, Sie seien fertig und bitten Sie ihn, das Tablett mitzunehmen.«

»Er wird nach dem Mädchen schicken.«

»Sagen Sie ihm, dass Sie nicht auf sie warten wollen. Lassen Sie sich irgendetwas einfallen.«

Cardenas nickte, erhob sich vom Sofa und ging zur Tür. George watschelte neben ihr her. Sie spürte es an seiner Körperwärme.

Sie schlug mit der flachen Hand gegen die Tür. »Ich bin fertig. Würden Sie bitte das Tablett mitnehmen?«

»Ich sage der Küche Bescheid«, ertönte die gedämpfte Stimme der Wache.

»So lang kann ich nicht warten! Ich muss auf die Toilette! Mir ist schlecht. Würden Sie bitte das Tablett abholen?«

Nach einem kurzen Zögern hörten sie das Schloss klicken. Die Tür schwang auf, und die Wache trat mit besorgter Miene ein.

»Was ist los? Etwas im…«

Es hörte sich an, als schlüge eine Melone aus beträchtlicher Höhe auf den Asphalt. Der Kopf des Wachpostens flog zurück, und er verdrehte die Augen. Dann ging er zu Boden. Cardenas sah, wie seine Arme hochgerissen und der Körper in den Raum gezerrt wurde.

»Kommen Sie«, flüsterte George ihr zu.

Sie traten hinaus auf den Gang. Die Tür ging wie von selbst zu und verriegelte sich. George führte sie den Gang entlang zur Treppe. Sie spürte, wie seine Hand ihren Oberarm umfasste. Das Haus wirkte zu dieser Stunde ruhig, obwohl man beim Blick aus dem Fenster sah, dass die Kaverne noch im Tageslicht-Modus erleuchtet wurde.

Die Halle im Erdgeschoss war leer. Jedoch drang von irgendwoher Stimmengewirr an Cardenas' Ohren. Den Stimmen nach zu urteilen war Humphries nicht dabei. Sie gelangten ins Foyer direkt vor der Eingangstür. Zwei junge Männer in grauen Anzügen schauten verwundert, als Cardenas auf sie zukam.

Der größere der beiden fragte mit einem Stirnrunzeln: »Dr. Cardenas, was tun…«

Durch Georges Schlag drehte er sich um die eigene Achse. Der andere Wachposten war vor Überraschung wie gelähmt und schaute untätig zu, bis ein Schlag in die Rippen ihn von den Füßen riss. Cardenas hörte das Knirschen brechender Knochen, und der Wachposten fiel schlaff auf den Boden.

Die Vordertür ging auf, und George zischte: »Kommen Sie schon!«

Cardenas rannte aus dem Haus, dann den Pfad entlang, der sich durch den Garten schlängelte und schließlich durch die offene Luke, die sich zu Selenes unterstem Gang öffnete. Sie hörte George neben sich keuchen und schnaufen. Als sie durch die Luke waren, hielt George sie fest.

»Ich glaube nicht, dass jemand uns folgt«, sagte er.

»Was glauben Sie, wie lang es dauert, bis sie meine Flucht bemerken?«

Sie spürte, wie er die Achseln zuckte. »Nicht allzu lang.«

»Und was nun?«

»Lassen Sie mich erst mal das Ding hier ausziehen« murmelte George. »In dem Anzug ist's so heiß wie in einem Backofen.«

Zuerst erschien sein Gesicht, dann der struppige Kopf. Binnen einer Minute stand er vor ihr — schwitzend und grinsend, ein rothaariger Hüne in einem zerknitterten, fleckigen Overall.

»So ist es besser«, sagte George und atmete tief durch. »Hab im Anzug kaum Luft gekriegt.«

»Wohin kann ich gehen?«, fragte Cardenas, als sie durch den Gang zu den Rolltreppen eilten. »Wo bin ich sicher? Humphries wird Selene auf den Kopf stellen, um mich zu finden.«

»Wir könnten zu Stavenger gehen und ihn bitten, Sie unter seinen Schutz zu stellen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ziehen Sie Doug nicht in diese Sache hinein. Zumal Humphries wahrscheinlich seine Leute in Selenes Beamtenapparat sitzen hat.«

»Hmm, ja vielleicht«, sagte George, als sie die Rolltreppe erreichten. »Bei Astro hat er auch seine Spitzel.«

Cardenas fühlte sich plötzlich in die Enge getrieben und bekam Angst. »Wohin kann ich dann überhaupt noch gehen?«, platzte sie heraus.

George lächelte. »Ich habe das perfekte Versteck für Sie. Das heißt, falls es Ihnen nichts ausmacht, es mit einer Leiche zu teilen.«

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