Starpower 1

Fuchs traf sich mit ihnen am Raumhafen. Er fragte sich, weshalb die vier schon eine volle Stunde vor dem Zeitpunkt zum Schiff flogen, an dem es aus dem Orbit ausscheren und die Reise zum Gürtel antreten sollte.

»Es hat sich eine Änderung des Plans ergeben, Lars«, sagte Dan zu ihm. »Wir werden mitfliegen.«

Der junge Mann zog die Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. »Die IAA hat das genehmigt?«

»Darauf kommt es jetzt nicht an«, sagte Dan, als Amanda und Pancho in das Fahrzeug stiegen, das sie zur Startrampe mit dem Shuttle bringen sollte. »Wir fliegen einfach.«

Fuchs stand unschlüssig in der offenen Luftschleusen-Luke der Zugmaschine.

»Wir fliegen auf jeden Fall«, bekräftigte Dan. »Mit oder ohne Sie.«

Ein Lächeln stahl sich auf Fuchs' Gesicht. »Mit mir«, sagte er und sprang mit einem Satz die sechs Stufen in die Zugmaschine hinauf.

Dan grinste und widerstand der Versuchung, die athletische Übung des jungen Manns zu imitieren. Amanda und Pancho hatten die beiden hinteren Sitze belegt, Fuchs den Platz neben der Luke. Dan nahm hinter dem Fahrersitz Platz, während die Fahrerin die luftdichte Luke schloss und die Kabine mit Druck beaufschlagte. Dann setzte sie sich ans Steuer und streifte die Sprechgarnitur über den Kopf.

Dan wusste, dass sie auf die Starterlaubnis vom Controller wartete. Wenn sie uns aufhalten wollen, wäre der Zeitpunkt nun gekommen.

Nachdem sie eine Weile gewartet hatte, legte die Fahrerin aber den Gang ein und ließ die Zugmaschine zur Luftschleuse der Garage rollen. Ein paar Minuten später hatten sie das Shuttle erreicht und koppelten die Luke der Zugmaschine über den flexiblen Zugangstunnel mit der Luftschleusen-Luke im Besatzungsmodul der Raumfähre. In den Fliegerkombis gingen die vier vorsichtig durch den engen Plastikschlauch. Sie stützten sich mit den Händen ab und zogen den Kopf ein, um nicht an der Wand entlangzustreifen.

So klein es auch war, das Hab-Modul der Raumfähre war allemal besser als der enge Schlauch. Es bestand aus einem Metalldeck mit ein paar Quadratmetern Fläche, das von einer Glasstahl-Kuppel überwölbt wurde. Eine Schalttafel ragte aus einem hüfthohen Podest. Pancho ging zur Steuerung und streifte sich eine der dort hängenden Kopfbügelgarnituren über. Amanda nahm den Platz rechts von Pancho ein.

»Benutzen Sie lieber die Fußschlaufen«, sagte Dan zu Fuchs. »Wir werden für ein paar Minuten schwerelos sein.«

Fuchs nickte. Er wirkte angespannt und erwartungsvoll und hatte die Lippen zusammengepresst.

Sie können uns jederzeit aufhalten, sagte Dan sich.

Doch mit jeder verstreichenden Sekunde wuchs seine Zuversicht.

»Fünf Sekunden und abwärts«, meldete Pancho. Sie hatte darauf verzichtet, die Lautsprechfunktion der Konsole zu aktivieren.

Genau in dem Moment, als Dan sich an einem der Handgriffe festhalten wollte, die an der Kuppeldecke hingen, wurde das Shuttle mit einer heftigen Zündung der Aufstiegsrakete vom Boden katapultiert. Dan federte den Stoß in den Knien ab, aber Fuchs wäre beinahe umgefallen. Dan fasste ihn am Arm, um ihn zu stützen.

»Es… es tut mir Leid«, entschuldigte Fuchs sich. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«

»Schon in Ordnung«, sagte Dan. Er war von den harten Muskeln beeindruckt, die er spürte. »Das ist auch erst Ihr zweiter Start, richtig?«

Fuchs wirkte blass. »Der zweite von der Mondoberfläche. Mit dem Shuttle-Flug vom Raumhafen Zürich ist es insgesamt der dritte.«

Dan sah, dass Fuchs Probleme mit der Schwerelosigkeit hatte. »Sind Sie auch wirklich in Ordnung?«, fragte er. Es gab nämlich nichts Schlimmeres, als wenn der Sitznachbar während eines Raumflugs die ganze Zeit reiherte.

»Zur Vorbeugung habe ich mir ein medizinisches Pflaster aufgeklebt«, sagte Fuchs mit einem gequälten Lächeln und deutete auf den kräftigen Bizeps.

»Gut«, sagte Dan.

»Und noch etwas.« Er zog einen dicken Packen Kotztüten aus der Beintasche des Overalls.

»Der kluge Mann sorgt vor«, sagte Dan und hoffte zugleich, dass Fuchs die Tüten nicht würde benutzen müssen.

Unter der Kontrolle der Bodenstation flog das Shuttle die Starpower I an und dockte an der Luke der Hauptluftschleuse des Fusionsschiffs an. Dan verspürte nur einen unmerklichen Ruck, als der Adapterabschnitt des Shuttles mit der Luke des Schiffs gekoppelt wurde.

»Bestätige Andocken«, sagte Pancho ins Kopfbügelmikrofon. »Ihr Leute habt einen guten Job gemacht. Ich musste die Steuerung kein einziges Mal betätigen.«

Die Erwiderung des Controllers musste witzig gewesen sein, denn Pancho lachte. »Ja, ich weiß. Deshalb verdient ihr auch die dicke Knete. In Ordnung, wir gehen nun an Bord.«

»Ich werde das Shuttle auf automatische Trennung schalten und nach Selene zurückschicken«, sagte Pancho an Dan gewandt.

»Gut«, sagte Dan, zog die Füße aus den Schlaufen und schwebte zur Luke. Soweit es die Controller am Raumhafen Armstrong betraf, hielten die vier sich nur zu einem letzten Checkout an Bord der Starpower I auf, ehe das Schiff aus dem Orbit ausscherte. Anschließend hätten sie mit dem Shuttle nach Selene zurückkehren sollen.

»Die werden sich ganz schön wundern, wenn der Vogel landet und keiner drin ist«, sagte Pancho mit einem verschmitzten Grinsen.

Dan hangelte sich durch die Luke in den sarggroßen Adapter-Abschnitt. Dann gab er den Zugangscode ein, der die Luftschleusenluke des Fusionsschiffs öffnete.

»In Ordnung«, sagte er, nachdem die Luke aufgeschwungen war. »Besteigen wir den Asteroiden-Express.«

»Sie zuerst, Boss«, sagte Pancho. »Sie sind schließlich der Eigner.«

»Ein-Drittel-Eigner«, grunzte er. »Ich kann mir vorstellen, dass mindestens einer der beiden anderen ganz schön stinkig wird, wenn er erfährt, was wir hier abziehen.«

»Aber er muss es doch schon erfahren haben«, sagte Amanda.

»Richtig«, pflichtete Pancho ihr bei. »Warum sonst hätte er Mandy die beiden Gorillas auf den Hals hetzen sollen?«

Dan runzelte die Stirn. »Wieso setzt er dann nicht alle Hebel in Bewegung, um uns aufzuhalten?«

Fuchs' Blick schweifte von Amanda über Pancho zu Dan und wieder zurück. Er wusste gar nicht, wovon sie überhaupt sprachen.

»Dann sollten wir an Bord gehen, ehe er Rabatz macht«, sagte Pancho und imitierte mit den Händen Pistolenschüsse auf Dan.

Mit plötzlichem Unbehagen schwebte Dan durch die Luke und enterte die Starpower I. Er verharrte an der Innenluke der Luftschleuse, während Pancho sie betrat und gleich zur Brücke weiterschwebte. Amanda stolperte beim Durchgang durch die Luke. Fuchs packte sie an den Schultern und stützte sie.

»Danke, Lars«, sagte sie.

Dan hatte den Eindruck, dass der Junge rot wurde. Er ließ Amanda los, und sie schwebte durch beide Luken, ohne Hände und Füße zu Hilfe nehmen zu müssen. Fuchs, für den die Schwerelosigkeit noch immer ein ungewohnter Zustand war, packte die Lukenkante mit beiden Händen und stieß sich so kraftvoll ab, dass er gegen das gegenüberliegende Schott prallte. Dan sagte nichts und unterdrückte ein Lachen angesichts der missglückten sportlichen Leistung des jungen Mannes.

Als er die Luken verriegelte, verdüsterte Dans Stimmung sich jedoch. Ich hatte Amanda davor gewarnt, einem Mann schöne Augen zu machen. Er sah zwar, dass sie einen normalen Overall trug, aber trotzdem … ich werde die Anstandsdame bei ihr und Fuchs spielen müssen, sagte Dan sich.

Er nahm Kurs auf die Brücke und ›schwamm‹ in der Schwerelosigkeit, indem er sich mit den Fingerspitzen an den Wänden abstieß.

Pancho hatte sich bereits auf dem Pilotensitz angegurtet und bearbeitete mit beiden Händen die Schalttafel. Durch die großen Glasstahl-Bullaugen über der Schalttafel erkannte Dan die graue Wölbung des Mondes und dahinter die lockende helle Sichel der Erde.

»Ich habe die Bodenkontrolle gerade aufgehoben«, sagte sie. »Das Geschrei müsste jeden Moment losgehen.«

»Legen Sie sie auf den Lautsprecher«, sagte Dan.

Amanda glitt auf den Sitz des Copiloten und legte den Sicherheitsgurt an. Dann erschien Fuchs und schob die Füße in die Halteschlaufen am Boden.

»Wir haben ein Trennungs-Signal, S-l«, drang die Stimme eines Manns aus dem Lautsprecher. Er klang eher gelangweilt als ärgerlich.

Pancho schaute über die Schulter auf Dan, der den Finger an die Lippen legte. »Keinen Ton«, flüsterte er.

Pancho hielt die Hand vor die Sprechgarnitur und sagte: »Ich bin für die Trennung des Shuttle bereit.«

»Tun Sie es«, erwiderte Dan.

»Shuttle-Trennungssequenz initiiert«, sagte Pancho ins Mikrofon.

»Sind Sie an Bord des Shuttle?«, fragte der Controller. »Wir können S-l nicht starten, solang diese Trennung besteht. Wir haben die Kontrolle über das Schiff verloren.«

Eine rote Lampe blinkte auf der Schalttafel und erlosch wieder.

»Shuttle abgetrennt«, sagte Pancho.

»Wiederhole, sind Sie an Bord des Shuttle?«, fragte der Controller. Er klang nun wirklich ungehalten.

»Wo sollten wir denn sonst sein?«, fragte Pancho scheinheilig. Sprach's und unterbrach die Funkverbindung mit Selene.

Amanda arbeitete das Startsequenz-Programm ab, wobei ihre manikürten Finger geschwind über den Touchscreen huschten.

»Drei Minuten bis zum Start«, sagte sie ruhig.

»Gut«, sagte Pancho.

Zu seinem Verdruss spürte Dan, dass er feuchte Hände bekam. Er stand hinter den beiden Pilotinnen — bereit, mit einem von Menschen erschaffenen Flugkörper weiter ins All vorzustoßen, als ein Mensch es je gewagt hatte — und sagte sich: Alles, was mir jetzt noch bleibt, ist diesen Vogel zu fliegen. Wenn wir es nicht schaffen, habe ich nichts mehr, wofür es sich zurückzukehren lohnt. Rein gar nichts.

Er schaute auf Fuchs. Der Junge grinste grimmig wie ein alter Krieger, der den Aufmarsch eines feindlichen Heeres beobachtete und es kaum zu erwarten vermochte, sich in die Schlacht zu stürzen. Er hat ein Kämpferherz, sagte Dan sich bewundernd. Wir haben den Richtigen ausgesucht.

»Zwei Minuten«, rief Amanda.

»Sie müssen sich da unten schon die Haare raufen«, sagte Pancho grinsend.

»Und sie können nichts dagegen unternehmen«, sagte Dan. »Auch nicht uns abschießen.«

»Und wenn ein Schiff der Friedenstruppen uns verfolgt?«, fragte Fuchs.

»Wenn wir erst einmal die Fusionsrakete gezündet haben«, sagte Dan, »wird nichts im Sonnensystem uns mehr einholen.«

»Bis wir zurückkehren«, sagte Pancho.

Dan runzelte die Stirn und schaute sie von hinten an. Dann entspannte er sich. »Wenn wir zurückkommen, sind wir reich.«

»Sie werden reich, Boss«, sagte Pancho. »Wir sind nur Ihre Angestellten.«

Dan lachte. »Ihr werdet auch nicht zu kurz kommen. Dafür werde ich schon sorgen. Ihr werdet auch reich.«

»Oder tot«, unkte Pancho.

»Eine Minute«, sagte Amanda. »Ich finde, wir sollten uns auf den Countdown konzentrieren.«

»Du hast Recht«, sagte Pancho.

Dan betrachtete die Anzeigen auf der Schalttafel. Der Fusionsreaktor fuhr programmgemäß hoch. Sonnenheißes Plasma erzeugte Energie. Das Plasma schoss durch den MHD-Kanal, wo ein kleiner Bruchteil der Wärmeenergie in elektrischen Strom umgewandelt wurde. Die Akkus des Schiffs schalteten sich ab und wurden geladen. Kryonisch kalter Flüssigwasserstoff und Helium wurden durch die Kühlmäntel der Raketendüsen gepumpt. Das heiße Plasma strömte aus den Düsentrichtern.

»Zündung«, sagte Amanda. Sie benutzte die traditionelle Bezeichnung, obwohl sie nun keine physikalische Bedeutung mehr hatte.

»Schubaufbau«, sagte Pancho. Dan sah die Kurven auf den Displays ansteigen, aber des visuellen Hinweises hätte es gar nicht bedurft. Er spürte, wie das Gewicht zurückkehrte und er wieder festen Boden unter den Füßen bekam.

»Wir sind gestartet«, meldete Pancho. »Nächster Halt: der Asteroidengürtel.«

Загрузка...