Pancho verfolgte die Sicherheitsvorführung mit großer Aufmerksamkeit. Obwohl sie schon ein Dutzend Mal einen Raumanzug angelegt und Arbeiten außerhalb des Raumfahrzeugs durchgeführt hatte, konzentrierte sie sich auf jedes Wort bei der Vorführung. Diesmal handelte es sich nämlich um einen Ausflug auf die Mondoberfläche, und zwischen orbitalen EVA's und einem Mondspaziergang lagen in diesem Sinne Welten. Die Touristen im Bus schienen sich nicht im Geringsten dafür zu interessieren. Teufel, sagte Pancho sich, wenn sie so stinkreich sind, dass sie sich einen Kurzurlaub auf dem Mond leisten können, müssen sie wohl auch glauben, dass sie einen Schutzengel engagiert haben. Und falls der versagt, weisen sie ihre Anwälte an, jedermann zwischen hier und dem Mars auf horrenden Schadenersatz zu verklagen.
Die Mitglieder der Reisegesellschaft hatten in der Garage von Selene Raumanzüge angelegt, bevor sie den Bus bestiegen hatten. Nicht ohne Grund, denn es wäre ziemlich ungemütlich geworden, wenn vierzehn Touristen sich erst im beengten Bus in die Monturen gezwängt hätten. Anschließend waren sie in den Hartschalen-Anzügen und mit dem Helm auf dem Schoß zur Absturzstelle der Ranger 9 hinausgefahren.
Nach all den Jahren hat man immer noch nichts Besseres vorzuweisen als diese Panzeranzüge, sagte Pancho sich. Die Wissenschaftler reden zwar laufend von Softanzügen und sogar von Nanomaschinen-Häuten, aber bei diesen Sprüchen bleibt es dann auch.
Selbst die Teenager wurden still, als sie die Luftschleuse der Garage passierten und auf die rissige, pockennarbige Oberfläche von Alphonsus hinausfuhren. Der hundertachtzig Kilometer durchmessende Kraterboden zeichnete sich deutlich am Horizont ab. Die Ringwall-Berge wirkten alt und mürbe. Durch die äonenlange Dauerberieselung mit Meteoritenstaub waren sie wie mit Sandpapier abgeschmirgelt.
Es war der Staub, der Pancho Sorge bereitete. Im orbitalen Raum driftete man im Vakuum. Auf der Mondoberfläche musste man auf dem pulvrigen Regolith gehen, was Ähnlichkeit mit der Fortbewegung auf einem Sandstrand hatte. Nur dass der ›Sand‹ aufgewirbelt wurde und die Stiefel mit feinem grauem Staub überzog. Und nicht nur die Stiefel, wie Pancho sich erinnerte. Sie hatte schon Schilderungen gehört, wonach der Mondstaub in die Gelenke eines Raumanzugs und sogar in den Lebenserhaltungs-Rückentornister gedrungen war. Außerdem war der Staub durch den einfallenden Sonnenwind elektrostatisch geladen, sodass das verdammte Zeug wie Klebstoff an einem haftete. Wenn er sich am Visier ablagerte, nahm er einem im schlimmsten Fall die Sicht; versuchte man den Staub nämlich mit dem Handschuh abzuwischen, bildeten sich erst recht klebrige Schlieren.
Es war nicht ganz einfach gewesen, einen Anzug in Panchos Größe zu finden. Schließlich bekam sie eine brandneue Maßanfertigung. Der Anzug war mit den Ausdünstungen von neuem Kunststoff erfüllt. Als der Bus anhielt und der Führer die Touristen anwies, die Helme aufzusetzen, vermisste Pancho irgendwie die vertrauten Gerüche nach kaltem Schweiß und Maschinenöl, mit denen die Arbeitsanzüge imprägniert waren, die sie immer getragen hatte. Sogar die Luft, die über ihr Gesicht fächelte, roch synthetisch rein.
Der Reiseleiter und der Busfahrer kontrollierten erst jeden einzelnen Touristen, ehe die Besucher durch die Ausstiegsluke des Busses den Mond-Regolith betreten durften. Lauter ›Oh's!‹ und Rufe wie ›Sieh nur!‹ drangen aus Panchos Helmlautsprecher, während die Touristen einer nach dem andern den Fuß auf den uralten Boden setzten und Staubwolken aufwirbelten, die in der sanften Schwerkraft des Monds träge wieder zu Boden sanken.
»Schaut mal, wie hell meine Fußabdrücke sind!«, rief jemand aufgeregt.
»Das liegt daran«, erklärte der Führer, »dass die oberste Bodenschicht seit Milliarden Jahren harter Strahlung von der Sonne und aus dem tiefen Raum ausgesetzt ist und dadurch gedunkelt wurde. Ihre Spuren bringen die eigentliche Farbe des tieferen Regolith zutage. Warten Sie aber ein paar Millionen Jahre, und die Abdrücke werden sich auch dunkel färben.«
Obwohl Pancho schon so lang im Weltraum arbeitete, hatte sie noch nie einen Mondspaziergang unternommen. Sie fand es faszinierend, nachdem sie die Funkfrequenz gewechselt hatte, auf der das aufgeregte Geplapper der Touristen ertönte und nur den aufgezeichneten Hinweisen lauschte, die Besucher zur Absturzstelle der Ranger 9 leiteten.
Dem äußeren Anschein nach war sie nur ein x-beliebiger Tourist von einer der drei Busladungen, die auf den exakt abgesteckten Wegen über den rissigen Boden von Alphonsus geführt wurden. Pancho wusste aber, dass Martin Humphries in einem der anderen Busse saß und dass sie nicht hier war, um sich Naturschönheiten anzuschauen, sondern um ihm Bericht zu erstatten.
Sie hielt sich in der Nähe der geparkten Busse auf und ließ die Touristenhorde an sich vorbeiziehen. Der virtuelle Reiseführer erzählte ihr von den Rinnen, die in der Nähe der Absturzstelle des alten Raumschiffs verliefen: tückische Risse im Kraterboden, aus denen manchmal dünne gespenstische Ammoniak- und Methanschwaden austraten.
»Einer der Gründe, weshalb man die Mondbasis ursprünglich innerhalb des Ringwalls von Alphonsus angelegt hatte, war der, dass man diese Gase nutzen wollte, um…«
Sie sah Humphries auf sich zuschlurfen, wobei er achtlos Staubwolken aufwirbelte. Er musste es sein, sagte sie sich, weil sein Raumanzug sich von denen unterschied, die an die Touristen ausgegeben wurden. Die Unterschiede waren zwar nicht gravierend, doch Pancho erkannte die etwas größere und schwerere Ausführung des Anzugs und die kleinen Servomotoren an den Gelenken, die den Träger beim Bewegen der schweren Arme und Beine unterstützten. Eine zusätzliche Panzerung, sagte sie sich. Er muss sich vor der Strahlung hier oben fürchten.
Humphries hatte kein Namensschild am Brustteil des Anzugs angebracht: Er kam in Staubwolken gehüllt auf sie zu, bis sie mit den Helmen fast zusammenstießen, und erst als er sich ihr so dicht genähert hatte, dass die Helme sich fast berührten, identifizierte sie durch das stark getönte Visier sein Gesicht. Es war rund und stupsnasig wie das eines sommersprossigen Bengels, hatte aber diese kalten und stechenden Augen, mit denen er sie ansah.
Pancho hob die linke Hand und hielt die rechte Hand vor die Tastatur des Funkgeräts. Mit dieser Pantomime fragte sie Humphries, welche Funkfrequenz er benutzen wolle. Er hob die behandschuhte Hand, und sie sah, dass ein Spiralkabel darin baumelte. Langsam und mit der besonderen Vorsicht einer Person, die nicht an die Arbeit in einem Raumanzug gewöhnt war, steckte er ein Kabelende in die Buchse an der Seite seines Helms. Das andere Ende reichte er Pancho. Sie nahm es und stöpselte es in ihren Helm ein.
»OK«, hörte sie Humphries' Stimme fast so deutlich, als ob sie sich zusammen in einem Raum aufhielten, »nun können wir reden, ohne dass jemand unsere Unterhaltung belauscht.«
Pancho erinnerte sich an ihre Kindheit, als sie und die Kinder aus der Nachbarschaft Telefone aus Pappbechern und gewachsten Schnüren gebastelt hatten. Sie machten sich hier dasselbe Prinzip zunutze: Indem sie die Helme durch das Kabel verbanden, vermochten sie ohne den Anzugfunk zu kommunizieren. Das funktioniert, sagte Pancho sich, solange wir nicht zu weit voneinander entfernt sind. Sie schätzte die Länge des Kabels, mit dem die Helme verbunden waren, auf nicht mehr als drei Meter.
»Sie rechnen mit einem Lauschangriff?«, fragte sie Humphries.
»Nicht unbedingt, aber wieso sollte man ein unnötiges Risiko eingehen?«
Das klang plausibel, zumindest irgendwie. »Wieso haben wir uns nicht wie üblich in Ihrem Haus getroffen?«
»Weil es nicht gut ist, wenn man Sie zu oft dort unten sieht — aus diesem Grund«, erwiderte Humphries unwirsch. »Was glauben Sie wohl, wie lang es dauern wird, bis Dan Randolph herausfindet, dass Sie bei mir ein- und ausgehen?«
»Dann soll er es doch herausfinden«, sagte Pancho lockend. »Er wird lediglich annehmen, dass Sie mich zum Abendessen einladen.«
Humphries grunzte. Pancho wusste, dass er Amanda seit ihrer ersten Begegnung zweimal zu sich nach Hause eingeladen hatte. Und er hatte Pancho nicht mehr zur Berichterstattung in sein Anwesen bestellt. Stattdessen vereinbarten sie für ihre Treffen nun feste Zeitpunkte und Örtlichkeiten: Sie flanierten auf der Grand Plaza, schauten sich im Theater eine Niedergravitations-Ballettvorführung an oder machten einen Touristen-Ausflug auf dem Kraterboden.
Pancho hätte mit einem Achselzucken reagiert, wenn sie nicht durch den Anzug daran gehindert worden wäre. »Dan hat seinen Vortrag vorm Regierungsrat gehalten«, sagte sie zu Humphries.
»Ich weiß. Und sie haben ihm eine Abfuhr erteilt.«
»In gewisser Weise.«
»Was soll das heißen?«, blaffte er.
»Ein paar Bürger haben sich als Freiwillige zur Mitarbeit an Dans Projekt gemeldet. Er will zur Raumstation Venezuela fliegen und versuchen, Dr. Cardenas als Leiterin des Teams zu gewinnen.«
»Cardenas?«
»Sie ist die führende Expertin in der Nanotechnik«, sagte Pancho.
»Man hat ihr sogar den Nobelpreis verliehen«, murmelte Humphries, »bevor die Nanotechnik auf der Erde geächtet wurde.«
»Mit dieser Frau will er sich unterhalten.«
Für eine Weile stand Humphries nur starr und stumm da. Im Raumanzug wirkte er wie eine Statue auf Pancho.
»Er will Nanomaschinen für den Bau der Rakete einsetzen«, sagte er schließlich. »Das hätte ich nicht erwartet.«
»Das ist billiger. Wahrscheinlich auch besser.«
Sie spürte, wie Humphries unterm Helm nickte. »Ich hätte aber damit rechnen müssen. Wenn es ihm gelingt, das System mit Nanos zu bauen, dann ist er auf meine Finanzierung nicht angewiesen. Der Hurensohn kann mich einfach so ausbooten — nachdem ich ihm die Idee mit der Fusion auf einem Silbertablett präsentiert habe!«
»Ich glaube nicht, dass er das tun würde.«
»Wirklich?« Humphries steigerte sich mit jedem Wort mehr in Rage. »Ich bringe ihn überhaupt erst auf die Idee mit dem Fusionsprojekt und biete ihm obendrein an, die Arbeiten zu finanzieren, und zum Dank hintergeht er mich und versucht Geld aus anderen Quellen aufzutreiben. Und nun hat er einen Weg gefunden, die verdammte Rakete ganz ohne mich zu bauen! Er will mir die Eier abschneiden!«
»Aber…«
»Schnauze, Sie dumme Kuh! Ihre Meinung interessiert mich nicht! Dieser affektierte Bastard Randolph glaubt wohl, er könne mich einfach so abservieren! Ich werde ihn aber eines Besseren belehren! Ich werde ihm das Genick brechen! Ich werde diesen Hurensohn vernichten!«
Humphries riss das Kabel aus Panchos Helm und zog das andere Ende aus seinem. Dann machte er kehrt und ging zum Bus zurück. Dabei stapfte er so zornig durchs Gelände, dass er einen wahren Staubsturm verursachte. Ohne den schweren Raumanzug wäre er wohl bei jedem Schritt zwei Meter in die Luft gehüpft, sagte Pancho sich. Und wahrscheinlich voll auf die Schnauze geflogen.
Sie sah, wie er dem Busfahrer mit wilden Gesten etwas signalisierte und dann ins Fahrzeug einstieg. Der Fahrer folgte ihm, schloss die Luke und nahm wieder Kurs auf die Garage von Selene.
Pancho fragte sich, ob Humphries dem Fahrer wohl erlauben würde, noch einmal umzukehren und die anderen Touristen aufzusammeln oder ob er sie hier draußen zurückließ. Zur Not können sie sich immer noch in die anderen Busse quetschen, sagte sie sich.
Sie gelangte zu dem Schluss, dass sie eh nichts daran zu ändern vermochte und ebenso gut den Ausflug genießen konnte. Während sie aufs Wrack des kleinen, primitiven Ranger 9 zuging, sagte sie sich, dass sie Dan Randolph unverzüglich benachrichtigen müsse. Es hatte nämlich den Anschein, dass Humphries in seiner Wut einen Mord begehen wollte.