Nanotech-Labor

Noch lange nach Mitternacht saß Kris Cardenas allein in ihrem Büro in Selenes Nanotechnik-Labor, das lediglich von der Nachtbeleuchtung erhellt wurde.

Sie hatte sich nur aus dem Grund mit Martin Humphries zum Abendessen verabredet, um den Mann zu veranlassen, Dan Randolph vor den Nanomaschinen zu warnen, die sie in sein Schiff eingepflanzt hatte. Es handelte sich um virengroße Disassembler, die früher als Gobbler bezeichnet wurden.

Sie waren auch der Grund, weshalb die Nanotechnik auf der Erde geächtet war — und auch in Selene nur mit strikten Auflagen zugelassen war.

Quis custodiet ipsos custodes?, fragte sie sich. Wer passt auf die Aufpasser auf? Cardenas wusste, dass schon die alten Römer vor über zweitausend Jahren sich diese Frage gestellt hatten.

Die Nanotechnik-Arbeiten waren in Selene sehr strengen Kontrollen unterworfen. Und die Arbeit mit Gobblern war strikt verboten: Sie hatten schon Menschen getötet und waren sogar als Mordwerkzeug eingesetzt worden. Losgelassen würden sie ganz Selene vernichten. Die medizinische Arbeit musste auch bis in den Nanometer-Bereich kontrolliert werden, weil die therapeutischen Nanobots, die Arterien von Ablagerungen befreiten oder Tumore zerstörten, im Grunde auch eine Art Gobbler waren. Wenn ihre Programmierung auch nur minimal verändert würde, wenn sie jemals ausbrachen…

Deshalb bestand Kris Cardenas' Hauptaufgabe als Leiterin aller Nanotechnik-Arbeiten in Selene darin, eine solche Katastrophe zu verhindern. Sie überwachte jeden Aspekt der Arbeit, die im Nanotechnik-Labor geleistet wurde.

Aber wer beaufsichtigt die Aufseher? Sie hatte nämlich ein mikroskopisches Los Gobbler für Humphries produziert, das eigens darauf programmiert war, die Starpower I so stark zu beschädigen, dass Dan das angeschlagene Schiff wenden und sich nach Selene zurückschleppen musste. Humphries hatte versprochen, ihr eine Besuchserlaubnis für die Erde zu beschaffen, um ihr ein Wiedersehen mit ihren Töchtern und Enkelkindern zu ermöglichen.

Und nun erbot er sich, sie zu ihr zu bringen. Noch besser. Aber zu welchem Preis! Es war vielleicht das Todesurteil für Dan Randolph und die anderen Leute an Bord des Schiffes.

Ist es das, was Humphries wirklich will?, fragte sie sich. Wenn ich Dan nun warnte, würde er nach Selene zurückkehren müssen. Ganz einfach. Aber Humphries will, dass ich noch einen Tag warte, bis Dan den inneren Bereich des Gürtels erreicht hat. Und dann soll ich ihm sagen, dass sein Schiff in Gefahr ist.

Oder vielleicht will er überhaupt nicht, dass ich Dan warne!

Cardenas setzte sich auf dem Schreibtischstuhl aufrecht hin. Das ist es, sagte sie sich. Er will Dan und den Rest der Besatzung umbringen. Sie wusste es mit der Gewissheit einer Offenbarung.

Aber was soll ich tun?

Dan warnen, beantwortete sie sich ihre Frage selbst. Warne ihn jetzt. Sofort!

Aber wie?, fragte sie sich. Ich kann nicht einfach ans Telefon gehen und ihn anrufen. Sie sind schon jenseits des Marsorbits.

Ich muss jemanden im Astro-Büro erreichen. Jemanden, der mir eine Verbindung zu Dan schaltet. Vielleicht sein großer australischer Leibwächter. Wie war noch sein Name? George irgendwas.


Martin Humphries vermochte nicht einzuschlafen — trotz der Leibesübungen, welche er mit der schwarzhaarigen Frau absolviert hatte, die neben ihm lag. Die bevorzugte Umgebung der Dame, die im Beraterstab des Humphries Trust eigentlich für den Umweltschutz zuständig war, schien ein Schlafzimmer mit einem großen Bett als Spielplatz zu sein, soweit Humphries es zu beurteilen vermochte.

Sie schlummerte selig. Er indes war hellwach.

Dr. Cardenas. Humphries machte sich Sorgen wegen ihr. Nicht einmal die lockende Aussicht auf ein Wiedersehen mit ihren Enkelkindern würde ihre Ehrpusseligkeit überwinden, sagte er sich. Sie will Randolph warnen, und wahrscheinlich ahnt sie inzwischen, dass ich diesen Hundesohn tot sehen will.

Er setzte sich im Bett auf und schaute auf die neben ihm schlafende Frau. Langsam und vorsichtig zog er ihr das Seidenlaken von den Schultern. Obwohl der Raum nur vom grünen Glühen der Digitaluhr erhellt wurde, sah er die glatte Haut ihres makellosen, perfekt proportionierten Körpers. Zu schade, dass sie in ein paar Tagen wieder zur Erde zurückfliegen musste.

Cardenas, rief er sich in Erinnerung. Sie wird bestimmt versuchen, Randolph zu warnen. Vielleicht wäre das gar nicht mal schlecht. Wenn Randolph zurückkehrt, wird Amanda auch bei ihm sein. Bei ihm. Sie wird nicht zu mir zurückkehren. Sie will mich nicht — deshalb ist sie doch mit ihm durchgebrannt. Wenn Cardenas sie warnt, werden sie gemeinsam zurückkehren und über mich lachen.

Er schloss fest die Augen und versuchte die Bilder von Randolph und Amanda vorm geistigen Auge zu verscheuchen. Ich muss das gründlich durchdenken. Logisch.

Um Randolph zu warnen, muss Cardenas sich an jemanden in Selene wenden, der die Nachricht für sie absetzt. Sie wird sich wahrscheinlich an Astro halten; dort sitzen schließlich Randolphs Leute. Und wenn sie sie bittet, eine Verbindung zu Randolph zu schalten, werden die sie nach dem Grund dafür fragen. Früher oder später wird sie es ihnen sagen: Martin Humphries hat die Starpower mit Nanomaschinen verwanzt. Dann wissen alle Bescheid.

Schlussfolgerung: Zu meinem eigenen Schutz muss ich sie daran hindern, mit irgendjemandem bei Astro zu sprechen. Ich muss sie schon am Versuch hindern, Randolph zu warnen. Ich muss sie stoppen. Basta.


Als Dan aus unruhigem Schlaf erwachte, hatte der Sonnensturm sich wieder gelegt. Pancho befand sich schon in der Messe, als er mit verquollenen Augen hineinschlurfte.

»'nen schönen guten Morgen, Boss«, sagte sie und hob eine dampfende Kaffeetasse.

»Wie ist das Wetter da draußen?«, fragte Dan und ging zum Saftspender.

»Klar und ruhig außer ein paar Felsbrocken, an denen wir heute Nachmittag vorbeikommen müssten.«

Dan lächelte. »Wir haben den Gürtel erreicht.«

»Wir werden ihn um sechzehn null null erreichen. Genau im Zeitplan.«

»Gut. Großartig. Wo ist Fuchs? Wir müssen ein paar Kursänderungen vornehmen.«

Zehn Minuten später hatten die vier sich um den Tisch in der Messe versammelt.

»Ich will mir zuerst einen Metallbrocken schnappen«, sagte Dan.

Fuchs hob leicht die massigen Schultern. »Die metallischen Körper konzentrieren sich vorwiegend im äußeren Bereich des Gürtels.«

»Dann werden wir eben dorthin fliegen«, erwiderte Dan, »und nach einem Eisenbrocken suchen. Die gesteins- und kohlenstoffhaltigen Asteroiden werden wir auf dem Rückflug aussuchen.«

»Dann werden wir also über vier Astronomische Einheiten zurücklegen müssen«, sagte Amanda. »So weit ist noch niemand vorgestoßen.«

»Wir haben die notwendigen Vorräte«, sagte Dan. »Und den Brennstoff. Alles läuft doch bestens, oder?«

»Keine größeren Probleme«, sagte Pancho.

»Und was sind die kleineren Probleme?«, fragte Dan stirnrunzelnd.

Sie grinste ihn an. »Der Kaffee schmeckt wie Spülwasser. Und ein paar andere Sachen. Du weißt schon, eine klapprige Pumpe, eine Brennstoffzelle, die sich unkontrolliert entlädt — Nickligkeiten eben. Mandy und ich kümmern uns drum.«

Amanda nickte. Dans Blick wanderte wieder von ihr zu Pancho. Die beiden Frauen schienen nicht im Geringsten besorgt. Gut, sagte er sich, wenn die Piloten sich keine Sorgen machen, dann muss ich mir auch keine machen.

»Das Sensor-Programm ist voll funktionsfähig«, meldete Fuchs. »Ich zeichne schon Daten auf.«

»Wir werden bald das Wendemanöver einleiten müssen«, sagte Amanda.

»Hast du schon einen Zielpunkt da draußen ausgewählt?«, fragte Dan Fuchs und wies in die Unendlichkeit.

»Nur einen groben Bereich«, erwiderte er. »Der äußere Gürtel ist nicht gut genug kartiert, um einen bestimmten Asteroiden anzupeilen. Die meisten sind noch nicht einmal katalogisiert.«

»Hast du Pancho die Koordinaten gegeben?«

Fuchs errötete leicht. »Ich habe sie Amanda gegeben.«

»Ich habe die Daten schon in den Navigationscomputer eingegeben«, beeilte Amanda sich zu sagen und schaute auf Pancho.

Pancho nickte. »In Ordnung. Ich werde sie durchchecken.«

»Auf und davon«, sagte Dan und erhob sich vom Stuhl. »Wir werden den Entfernungsrekord brechen, wenn nicht noch einen weiteren.«

»Vier AE«, murmelte Pancho und stand ebenfalls auf.

Sie ging zur Brücke. Dan folgte ihr und ließ Amanda und Fuchs am Tisch zurück.

Pancho rutschte auf den Pilotensitz und tippte auf die Haupt-Touchscreen, auf der die wichtigsten Betriebsparameter angezeigt wurden. Dan stand hinter ihr und sah, wie das Programm des Navigationscomputers die Arbeit aufnahm.

Doch Pancho schaute auf einen der kleineren Bildschirme, wo ein gelbes Licht blinkte.

»Was ist das?«, fragte Dan.

»Weiß ich nicht«, sagte Pancho und nahm an dem Bildschirm eine Einstellung vor. »Da läuft gerade eine Diagnoseroutine… oh…«

»Was?«

»Sie meldet einen Hot Spot in einem der supraleitenden Drähte«, murmelte Pancho, ohne den Blick von den Anzeigen zu wenden.

»Der Supraleiter?«, fragte Dan alarmiert. »Unser Sturm-Schild?«

Sie schaute zu ihm auf. »Nur mit der Ruhe, Boss. So etwas passiert häufig. Ist vielleicht ein winziges Loch in der Kühlleitung. Vielleicht hat ein Mikrometeor uns erwischt.«

»Wenn aber das Kühlmittel austritt…«

»Der Verlust ist minimal«, sagte Pancho ruhig. »Wir werden in sechs Stunden wenden. Ich drehe das Schiff so, dass die betroffene Seite im Schatten liegt. Falls der Hot Spot dann immer noch nicht verschwindet, werden Mandy und ich das Leck in einer EVA abdichten.«

Dan nickte und versuchte sich zu beruhigen.

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