EVA

Pancho wurde von einer seltsamen Erregung ergriffen, als sie die Arme in die Ärmel des Raumanzugs schob. Nach fünftägiger Gefangenschaft im Schiff würde sie einen Weltraumspaziergang unternehmen. Sie fühlte sich wie ein Schulmädchen, wenn die Schulglocke Ferien einläutete.

Sie stand neben der inneren Luftschleusenluke, wo die Raumanzüge aufbewahrt wurden und steckte den Kopf durch den Halsring des Anzugs. Das wird ein Spaß, sagte sie sich voller Vorfreude.

Dan indes schaute griesgrämig, während er den Helm für sie hielt und ihr dabei zuschaute, wie sie die Handschuhe überstreifte und mit den Ärmelbündchen des Anzugs luftdicht verband.

»Neidisch?«, fragte sie.

»Besorgt«, erwiderte er. »Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du ganz allein da draußen bist.«

»Pippifax, Boss«, sagte Pancho.

»Ich sollte dich begleiten. Oder vielleicht Amanda.«

»Mandy muss am Ruder bleiben«, entgegnete Pancho mit einem Kopfschütteln. »Es sollten nie beide Piloten gleichzeitig verschwinden, wenn es sich vermeiden lässt.«

»Dann werde ich mich fertig machen…«

»Nix da. Ich habe deine Krankengeschichte gesehen, Boss. Keine EVA's für dich.«

»Die Sicherheitsvorschriften besagen aber, dass Außeneinsätze von zwei Astronauten durchgeführt werden müssen…«

»Nach Möglichkeit«, führte Pancho für ihn aus. »Und seit wann berufst du dich überhaupt auf IAA-Vorschriften?«

»Sicherheit ist wichtig«, sagte Dan.

Im Raumanzug mit dem Hartschalen-Torso und den mit Servomotoren verstärkten Handschuhen fühlte Pancho sich wie ein Superheld aus einem Comic, der einem Normalsterblichen gegenüberstand.

»Ich werde schon klarkommen«, sagte sie, als sie Dan den Helm aus den Händen nahm. »Kein Grund zur Sorge…«

»Wenn du aber Probleme bekommst…«

»Ich sag dir was, Boss. Du machst dich fertig und wartest hier an der Luftschleuse. Wenn ich in Schwierigkeiten gerate, kommst du raus und rettest meinen Arsch. Was sagst du dazu?«

Das gefiel ihm. »In Ordnung. Gute Idee.«

Sie riefen Amanda von der Brücke herunter, derweil Dan sich ins Unterteil des Anzugs zwängte und die Stiefel anzog. Als er den Anzug samt Rückentornister und allem Drum und Dran angelegt hatte und nur noch der Helm fehlte, saß Pancho schon auf glühenden Kohlen.

»In Ordnung«, sagte sie, als sie sich den Kugelhelm über den Kopf stülpte und im Halsring arretierte. »Ich bin fertig zum Aussteigen.«

Amanda eilte auf die Brücke zurück, während Dan dastand und sie mit einem schiefen Grinsen anschaute. Sein Kopf ragte aus dem Hartschalen-Anzug wie ein Kind, das hinter einem Papp-Astronauten für einen Fotografen posiert.

Pancho öffnete die Innenluke der Luftschleuse und ging hindurch. Die Luftschleuse war relativ geräumig, groß genug, um zwei Astronauten in voller Montur aufzunehmen. Durch den Helm hörte sie, wie die Pumpen ratternd anliefen und sah die Anzeigelampe an der Schalttafel der Konsole von grün zu gelb wechseln. Das Geräusch ebbte zu einem schwachen Vibrieren ab, das sie durch die Stiefel spürte, als die Luft aus der Kammer gepumpt wurde. Die Lampe sprang auf rot.

»Bereit zum Öffnen der Außenluke«, sagte sie und fiel dabei unbewusst in den knappen Jargon der Fluglotsen und Piloten.

Amandas Stimme drang aus dem winzigen Lautsprecher, der in den Halsring integriert war: »Außenluke öffnen.«

Die Luke glitt auf, und Pancho schaute in eine endlose schwarze Leere. Trotz der starken Tönung des Glasstahlhelms passten ihre Augen sich in wenigen Sekunden an die Dunkelheit an. Sie sah Dutzende, Hunderte und schließlich Tausende Sterne, die auf sie herabblickten und den Himmel mit ihrer Majestät erfüllten. Zur Linken zog der helle Dunst des Zodiakallichts sich wie ein dünner Arm durch den Himmel.

Sie drehte dem Sternenhimmel den Rücken zu und befestigte die Sicherheitsleine an einer Sprosse neben der Luke.

»Steige aus«, sagte sie.

»Weitermachen«, erwiderte Amanda.

»Gib mir die Position des Lecks«, sagte Pancho, während sie aus dem Schiff ausstieg und sich an den Handgriffen, die in die Außenhaut des Besatzungsmoduls eingelassen waren, emporzog.

»Auf dem Schirm.«

Sie schaute auf den winzigen Videomonitor, den sie am linken Handgelenk trug. Er zeigte eine schematische Darstellung des supraleitenden Drahtgeflechts, das das Modul umhüllte. Ein pulsierender roter Kreis markierte die Stelle, wo das Leck sich befand.

»Sehe es.«

Pancho wusste zwar, dass das Schiff beschleunigte und sie deshalb nicht schwerelos war. Dennoch fand sie es irgendwie erstaunlich, dass sie sich an den Handgriffen hochziehen musste, um zur Stelle zu gelangen, die in der Darstellung markiert war. Es war, als ob sie eine Leiter hinaufstiege. Im tiefsten Innern hatte sie aber damit gerechnet, schwerelos dahinzuschweben.

»In Ordnung, ich bin da«, sagte sie schließlich.

»Lein dich an«, ertönte Dans strenger Befehl.

Pancho war noch immer an der Sprosse neben der Luke der Luftschleuse gesichert. Amüsiert über Dans Fürsorglichkeit wickelte sie die Hilfsleine vom Ausrüstungsgürtel ab und hakte sie in den nächsten Griff ein.

»Ich bin angeleint, Daddy«, witzelte sie.

Nun musst du das Leck finden, sagte sie sich. Sie bückte sich und suchte die Außenhaut des Moduls mit der Helmlampe ab. Das gewölbte Metall wurde von dünnen Drähten durchzogen, die entlang der Längsachse des Moduls verliefen. Es gab keinerlei Hinweis auf eine Beschädigung: keine geschwärzte Stelle, wo vielleicht ein Mikrometeor aufgeprallt war, keine Minifontäne aus entweichendem Stickstoff.

Es muss sich um ein nadelspitzengroßes Loch handeln, sagte Pancho sich.

»Bin ich auch an der richtigen Stelle?«, fragte sie.

Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten. »Richte die Funksonde bitte auf den Draht, den du gerade inspizierst«, erwiderte Amanda schließlich.

Die Funksonde war an Panchos rechtem Handgelenk befestigt. Sie legte den rechten Unterarm auf den Draht.

»Wie sieht's aus?«

»Du bist an der richtigen Stelle.«

»Ich sehe aber nichts.«

»Dann tausch diesen Abschnitt aus und bring ihn zur Untersuchung mit.«

Sie nickte im Helm. »Mach ich.«

Aber sie kam sich trotzdem blöd dabei vor, ein Stück Draht herauszuschneiden, das vollkommen intakt schien. Irgendwas stimmt hier nicht, sagte Pancho sich. Ich wette, der Fehler liegt ganz woanders.


Big George saß mit Sorgenfalten im Gesicht an einer der Konsolen im Kontrollzentrum des Raumhafens. Ein kleiner Bereich des Zentrums war von Astro-Mitarbeitern besetzt, die den Flug der Starpower I überwachten. Sie saßen getrennt von den regulären Controllern, die den Verkehr zu und von der Erde abwickelten.

George hatte die Nachricht an Dan eigentlich unter strenger Geheimhaltung übermitteln wollen. Die Möglichkeiten der Astro-Controller erschöpften sich jedoch darin, ihm eine Sprechgarnitur zu geben und ihm zu raten, die Stimme zu senken.

George führte das Mikro an die Lippen und wünschte sich, dass sie einen Code vereinbart hätten, bevor Dan überhastet abgeflogen war. »Dan, hier spricht George«, sagte er schnell. »Dr. Cardenas ist verschwunden. Wie sie mir gestern Abend sagte, befürchtet sie, dass Humphries dich umbringen will. Als ich sie heute Morgen anrief, war sie weder in ihrem Büro noch in ihrer Unterkunft. Ich kann sie nirgends finden. Den Sicherheitsdienst von Selene habe ich noch nicht verständigt. Was soll ich tun?«

Er nahm die Sprechgarnitur ab und stupste den Controller an, der sie ihm gegeben hatte. Der Mann hatte George diskret den Rücken zugedreht.

Er drehte sich auf dem Stuhl zu dem Australier um. »Schon fertig?«

»Wann ist mit einer Antwort zu rechnen?«

Der Controller bearbeitete die Tastatur und schielte auf die Anzeige des Konsolen-Hauptbildschirms. »Siebzehn Minuten und zweiundvierzig Sekunden, bis die Nachricht sie erreicht. Noch mal die gleiche Zeit für den Rücklauf der Antwort plus ein paar Sekunden. Sie fliegen mit einer verdammt hohen Geschwindigkeit.«

»Also fünfunddreißig Minuten«, sagte George.

»Du musst noch etwas Zeit dafür einkalkulieren, dass sie sich die Botschaft anhören und eine Antwort formulieren. Es wird wahrscheinlich mindestens eine Stunde dauern.«

»Ich warte.«


Martin Humphries leckte sich unbewusst den Schweißfilm von der Oberlippe. Er hasste die Kommunikation mit seinem sauertöpfischen Vater; vor allem, wenn er den alten Mann um Rat fragen musste.

»Du hast sie entführt?« W. Wilson Humphries' runzliges Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Du hast tatsächlich eine Nobelpreisträgerin gekidnappt?«

»Ich habe sie in mein Haus gebracht«, sagte Humphries. Er saß stocksteif im Sessel und musste das letzte Quäntchen Willenskraft aufbieten, um die Contenance zu wahren. »Ich durfte doch nicht zulassen, dass sie Randolph warnt.«

Die Konversation zwischen Vater und Sohn erfolgte über einen gebündelten Laserstrahl, der vom Humphries Space Systems-Kommunikationszentrum auf dem Ringwall-Gebirge des Alphonsus-Kraters direkt zum Anwesen von Humphries dem Älteren in Connecticut abgestrahlt wurde. Um das Gespräch abzuhören, hätte man den Laserstrahl selbst anzapfen müssen, und in diesem Fall wäre die Ausgangsleistung des Strahls im Empfänger merklich abgefallen.

»Als ob der Tod von Randolph nicht schon schlimm genug wäre«, sagte der alte Mann unwirsch. »Nun wirst du sie auch noch umbringen müssen.«

»Ich habe überhaupt niemanden umgebracht«, sagte Humphries gepresst. »Wenn Randolph auch nur einen Hauch von Verstand hat, wird er umkehren.«

Es dauerte fast drei Sekunden, bis die Antwort seines Vaters ihn erreichte. »Schlampige Arbeit. Wenn du ihn schon loswerden willst, hättest du es wenigstens richtig anstellen müssen.«

Humphries geriet in Wut. »Ich bin doch kein Killer! Die Sache mit Randolph ist rein geschäftlich. Zumal sein Tod eh wie ein Unfall aussehen wird. Sein Schiff hat da draußen im Gürtel eine Panne, und er und seine Besatzung kommen dabei ums Leben. Man wird erst in Monaten, vielleicht auch erst in Jahren imstande sein, die Geschehnisse zu rekonstruieren.«

Er versuchte sich zu beruhigen, während er auf die Antwort seines Vaters wartete.

»Der Erwerb von Astro Manufacturing ist das Risiko wert«, pflichtete der alte Mann ihm bei. »Vor allem deshalb, weil man dich nicht mit dem… äh… Unfall in Verbindung zu bringen vermag.«

»Außer ihr.«

Humphries wusste, was sein Vater gleich sagen würde.

»Dann wirst du sie loswerden müssen.«

»Aber das heißt doch nicht, dass ich sie umbringen muss. Das will ich nicht auf meine Kappe nehmen. Sie ist ein wertvolles Pfand, das wir noch gut gebrauchen könnten.«

Das war keine spontane Entscheidung, sagte Humphries sich. Dr. Cardenas und ihre Kompetenz in der Nanotechnik waren schon die ganze Zeit Bestandteil seiner langfristigen Pläne gewesen. Nur dass diese Krise mich gezwungen hat, schneller zu handeln, als ich es ursprünglich geplant hatte, sagte er sich.

»Gebrauchen?«, blaffte sein Vater. »Wie denn?«

»Nanotechnik«, sagte Humphries und wedelte mit der Hand. »Sie ist die Top-Expertin. Ohne sie hätten wir Jahre gebraucht, um diese Fusionsrakete zu bauen.«

»Du bist doch nicht Manns genug, um sie zu irgendetwas zu gebrauchen«, sagte sein Vater boshaft lachend.

»Sei kein Narr, Dad! Lebendig ist sie viel wertvoller für mich als tot.«

»Dann willst du sie also in dein Team übernehmen«, erwiderte sein Vater.

»Ja, natürlich. Aber sie hat diesen verdammten Hang zur Integrität. Sie hat kalte Füße wegen Randolph bekommen, und wenn ich sie nicht aufhalte, wird sie die Sache mit der Sabotage überall herausposaunen, obwohl sie selbst daran beteiligt war.«

Der alte Mann quittierte das Lamento seines Sohns mit einem meckernden Lachen. »Ein Hang zur Integrität, was? Nun, es gibt Mittel und Wege zur Abhilfe.«

»Welche denn?«

Es machte ihn schier verrückt, drei Sekunden auf die Antwort seines Vaters zu warten.

»Mach ihr ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann.«

»Und was für eins?«

Wieder die scheinbar endlose Wartezeit. »Biete ihr etwas an, das sie unbedingt will, worauf sie sich aber nicht einlassen kann. Mach ihr ein Angebot, das sie wirklich in Versuchung führt und das sie gleichzeitig ablehnen muss. Dann hast du ihr nämlich Entgegenkommen signalisiert und den schwarzen Peter an sie abgegeben. Das wird ihre Bereitschaft erhöhen, auf dein nächstes Angebot einzugehen.«

Humphries war beeindruckt. »Das ist… Machiavelli aus dem Lehrbuch.«

Als sein Vater antwortete, war sein eingefallenes Gesicht seltsam verzerrt, als ob er ein Gähnen unterdrückte. »Ja, das ist es. Und es funktioniert.«

Humphries vermochte nur dazusitzen und den alten Bastard zu bewundern.

»Wo ist ihre Achillesferse?«, fragte sein Vater nachdenklich. »Was will Cardenas haben, das sie ohne deine Hilfe nicht bekommt?«

»Ihre Enkelkinder. Wir werden sie als Geiseln nehmen. Ich werde das natürlich subtil und elegant handhaben. Aber ich werde sie dennoch vor die Wahl stellen, entweder für mich zu arbeiten oder ihre Enkelkinder leiden zu lassen. Sie wird tun, was ich will.«

»Du willst dich wirklich zum Herrn der Welt aufschwingen, nicht wahr, Martin?«

Humphries erblasste. »Über deine Welt? Gott behüte. Die Erde ist am Ende, und eine Besserung ist nicht in Sicht. Du kannst sie haben. Du bist dort willkommen. Wenn ich mich zum Herrn aufschwinge, dann über den Weltraum: über Selene, den Mond und die Asteroiden. Dort liegt die Zukunft. Ich werde der Herr dieser Welten sein. Mit dem größten Vergnügen!«

Für eine Weile sagte sein Vater nichts. »Möge Gott uns allen beistehen«, murmelte der alte Mann schließlich.

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