Lars Fuchs schaute mit grimmiger Miene auf den Monitor.
»Na?«, fragte Dan.
Die beiden Männer standen in der engen Instrumentenbucht, die Fuchs zu einem provisorischen Labor umfunktioniert hatte. Er hatte einen der Massenspektrometer des Schiffs abmontiert und auf die Reparaturbank gestellt, wo er die Probe des taubengrauen Drahts untersuchte, die Pancho mitgebracht hatte. Eine dünne hellblaue Kühlmittelleitung lag neben dem Draht. Dan wusste, dass der Draht ursprünglich im Schlauch verlaufen war wie ein Seilzug in einer Hülle.
»Die Kühlmittelleitung hat kein Leck«, sagte Fuchs. »Ich habe sie mit komprimiertem Stickstoff beaufschlagt, und es ist nichts ausgetreten.«
Dan war verwirrt. »Wodurch wird der Hot Spot dann verursacht?«
»Die Beschaffenheit des Drahts scheint den Spezifikationen weitestgehend zu entsprechen: Yttrium, Barium, Kupfer, Sauerstoff — alle Elemente sind im richtigen Verhältnis vorhanden.«
»Nun sind wir trotzdem keinen Deut schlauer«, sagte Dan missmutig.
Fuchs' Stirnrunzeln vertiefte sich, während er den Monitor betrachtete. »Der Kupferanteil scheint etwas zu niedrig zu liegen.«
»Zu niedrig?«
»Es handelt sich vielleicht um einen Fabrikationsfehler. Vielleicht ist das die Ursache des Problems.«
»Ein Leck ist es jedenfalls nicht?«
Fuchs rieb sich das breite kantige Kinn. »Zumindest keins, das ich mit dieser Ausrüstung entdecken würde. Überhaupt verfügen wir nicht über die richtige Ausrüstung für die Diagnose solcher Fehler. Wir bräuchten ein viel stärkeres Mikroskop und…«
Amandas Stimme drang aus dem Lautsprecher in der Decke der Instrumentenbucht: »Dan, es geht ein Funkspruch für Sie ein. Er kommt von George Ambrose und ist als dringend und vertraulich klassifiziert.«
»Ich gehe besser auf die Brücke«, sagte Dan. »Mach das Beste aus dem, was du hast, Lars.«
Fuchs nickte mürrisch. Wie soll ein Mann irgendetwas ohne das entsprechende Werkzeug leisten?, fragte er sich. Mit einem schweren Seufzer drehte er sich wieder zum Bildschirm um, während Randolph durch die Luke schlüpfte und nach oben ging.
Welche Sensoren haben wir sonst noch, mit denen ich dieses Stück Draht untersuchen könnte? Die Bordausrüstung ist für die grobe Bestimmung der chemischen Zusammensetzung von Asteroiden ausgelegt und nicht für die Details eines Stücks supraleitenden Drahts.
In Ermangelung einer besseren Idee schaltete Fuchs das Massenspektrometer wieder ein und untersuchte den Draht erneut auf seine Eigenschaften. Als die Kurven auf dem Monitor Gestalt annahmen, gingen ihm fast die Augen über.
George bedeckte den Ohrhörer der Sprechgarnitur mit der Hand und lauschte aufmerksam Dan Randolphs angespannter Stimme. Eine Video-Übertragung fand nicht statt; Dan hatte nur auf der Tonspur gesendet.
»…du gehst mit Blyleven zu Stavenger persönlich und erzählst ihm, was passiert ist. Stavenger ist in der Lage, das Verfahren abzukürzen und Selenes Sicherheitsdienst zu veranlassen, die Stadt auf den Kopf zu stellen. In einer geschlossenen Gemeinschaft wie Selene gibt es auf Dauer kein sicheres Versteck. Bei einer gründlichen Suche wird man Dr. Cardenas finden… oder ihre Leiche.«
George nickte unbewusst. Vor zehn Jahren hatte er selbst als Flüchtling an der Peripherie von Selene gelebt — ein Ausgestoßener unter anderen Ausgestoßenen, die sich als den Mond-Untergrund bezeichneten. Grundsätzlich hatten sie aber nur wegen der Duldsamkeit von Selenes ›Establishment‹ zu überleben vermocht. Sie durften ihr Dasein fristen, denn solang sie nicht unangenehm auffielen, kümmerte sich niemand um sie.
George stimmte Dan bis zu einem gewissen Grad zu. Falls Selenes Sicherheitsdienst wirklich hinter jemandem her war, hatte der Betreffende kaum die Möglichkeit zum Untertauchen. Aber eine Leiche vermochte man in einer Zugmaschine nach draußen zu schmuggeln und in den Wüsteneien der Mondoberfläche verschwinden zu lassen.
»In Ordnung, Dan«, sprach er halb flüsternd ins Mikrofon. »Ich gehe zu Stavenger, und dann werden wir Dr. Cardenas finden, falls sie nicht schon tot ist.«
Frank Blyleven war der Leiter des Astro-Sicherheitsdiensts. Blyleven war ein runder und rotgesichtiger jovialer Mann mit schütterem strohblondem Haar, das er bis zum Kragen trug. Ein großväterliches Lächeln schien in sein Gesicht gemeißelt zu sein. George fand es unmöglich, dass der Sicherheitschef lächelte, während er ihm das Verschwinden von Dr. Cardenas meldete.
»Das ist eine Nummer zu groß für uns«, sagte er mit unverändertem Gesichtsausdruck. »Ich meine, ich habe nur ein halbes Dutzend Leute in meiner Gruppe. Wir befassen uns mit Industriespionage und Bagatelldiebstählen, aber doch nicht mit Entführungen, mein Gott.«
George wusste, mit welchem Elan Astros Sicherheitsdienst Bagatelldiebstähle verfolgte. Der Mond-Untergrund lebte nämlich von ›Leihgaben‹ aus den Lagerräumen der Firma.
»Dan sagte, wir sollten zu Stavenger gehen«, sagte George.
Blyleven nickte, drehte sich zum Telefon auf dem Schreibtisch um und ließ sich Douglas Stavenger geben.
Als George und Blyleven in Stavengers Büro oben in der Grand Plaza geführt wurden, saß bereits ein vierter Mann vor Stavengers repräsentativem Schreibtisch. Stavenger stellte ihn als Ulrick Maas vor, Selenes Sicherheitsdirektor. Maas sah für George aus wie ein typischer Polizist: muskulöse Statur, dunkle, argwöhnische Augen, Glatze.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass hier nicht unbedingt ein Verbrechen vorliegen muss«, sagte Stavenger, nachdem alle Platz genommen hatten. »Allerdings ist Kris Cardenas auch nicht die Art von Frau, die einfach so verschwindet. Deshalb glaube ich, dass wir nach ihr suchen sollten.«
»Sie ist in Humphries' Haus auf der untersten Ebene«, sagte George ohne Umschweife.
Stavenger lehnte sich im Sessel zurück, Maas sah George mit schmalen Augen an und Blyleven schaute, als ob er sich durchaus angenehmere Dinge vorstellen könnte. Durch die Bürofenster sah George das weitläufige Gelände der Plaza. Zwei Kinder flogen wie Vögel über die Wiese und schlugen mit den bunten Leih-Flügeln aus Plastik.
Stavenger schnitt eine Grimasse. »Sind Sie sicher?«, fragte er.
»Es war Humphries, vor dem sie sich fürchtete«, erwiderte George. »Wo sollte er sie sonst hinbringen?«
»Der Bereich dort unten ist das Eigentum des Humphries Trust«, sagte Maas. »Selene ist nicht befugt, dort eine Hausdurchsuchung vorzunehmen.«
»Nicht einmal, wenn sie in Lebensgefahr ist?«, fragte George.
»Rick, ich glaube, Sie werden eine Suchaktion in die Wege leiten müssen«, sagte Stavenger zu Maas.
»In Humphries' Anwesen?«, fragte George.
»In Selene«, sagte Stavenger. »Humphries' Anwesen ist eine andere Sache.« Er drehte sich zum Telefon um und ließ sich zu Martin Humphries durchstellen.
»Dr. Cardenas?«, sagte Martin Humphries zu Stavengers Konterfei auf dem Wandbildschirm.
»Ja«, sagte Stavenger mit gequältem Blick. »Sie wird vermisst.«
Humphries erhob sich von der Chaiselongue, auf der er gelegen hatte, während er seines Vaters Holdings in Libyen überprüft hatte.
»Ich verstehe nicht«, sagte er in gekünstelter Verwirrung zu Stavengers Bild. »Wieso erzählen Sie mir das überhaupt?«
»Das Sicherheitsbüro hat in ganz Selene eine Suchaktion nach ihr gestartet. Ich würde es begrüßen, wenn auch Sie einer Durchsuchung Ihres Anwesens zustimmten.«
»Ich soll mein Haus durchsuchen lassen?«
»Es ist eine reine Formalität, Mr. Humphries«, sagte Stavenger mit einem offensichtlich aufgesetzten Lächeln. »Sie kennen doch die Sicherheitstypen: Bei ihnen muss immer alles bis aufs i-Tüpfelchen stimmen.«
»Ja, so sind sie eben«, erwiderte Humphries ebenfalls mit einem Lächeln. »Vielleicht hält sich jemand im Garten versteckt, nicht wahr?«
»Oder im Haus. Es ist schließlich recht groß.«
»Hmm, ja. Das ist es wohl — zumindest nach den Standards von Selene.« Er holte tief Luft und sagte dann zögerlich: »Also gut, sollen sie ein Team hier runterschicken. Ich habe keine Einwände.«
»Danke, Sir.«
»Gern geschehen«, sagte Humphries und brach die Verbindung mit einem Fingerschnippen ab. Dann ging er ins Büro.
Er schnippte mit den Fingern, als er das Büro betrat. Der Telefonmonitor erhellte sich. »Blyleven soll sofort hierher kommen. Ich habe einen Job für ihn.«