Wohnquartier

Pancho musste die Aufzüge hinaufeilen, um noch vor Mandy in der gemeinsamen Wohnung einzutreffen. Zweimal wäre sie fast gestolpert und gestürzt; es war ziemlich riskant, sich auf einer Rolltreppe zu bewegen, wenn man nicht einmal die eigenen Füße sah.

Es war schon ziemlich spät, so dass die Korridore nicht mehr überfüllt waren. Pancho lief im Slalom um die paar Leute herum, die noch unterwegs waren und streifte dabei ein Pärchen. Die beiden waren verdutzt; sie waren sich nämlich sicher, dass gerade jemand an ihnen vorbeigelaufen war, obwohl sie niemanden gesehen hatten. Sie erreichte die Unterkunft noch vor Amanda, schloss die Tür und deaktivierte den Tarnanzug. Dann zog sie ihn aus und stopfte ihn unters Bett. Elly schlummerte friedlich in ihrem Plastikkäfig, bei dem es sich eigentlich um eine Obstkiste handelte, in der Erdbeeren von China nach Selene transportiert worden waren. Pancho hatte den Boden mit ein paar Zentimetern Regolith-Streu ausgelegt, mit einem Plastikkaktus dekoriert und Elly ein Schälchen Wasser hingestellt.

Sie kniete gerade neben dem Käfig und füllte frisches Wasser ins Schälchen, als Amanda eintrat.

Pancho schaute zu ihrer Zimmergenossin auf. Mandys Augen waren gerötet, als ob sie geweint hätte.

»Wie war deine Verabredung?«, fragte sie scheinheilig.

»Ach, Pancho, ich glaube, er will mich heiraten«, sagte Amanda mit betrübter Miene.

Pancho stand auf. »Ich habe aber nicht den Eindruck, dass er überhaupt ein Mann zum Heiraten ist.«

»Er ist aber schon verheiratet gewesen. Sogar zweimal.«

»Sag ich's doch.«

Amanda setzte sich auf ihr Bett. »Er… er ist so ganz anders als die anderen Männer, die ich bisher kennen gelernt habe.«

»Klar. Er hat mehr Geld.«

»Nein, das ist es nicht«, erwiderte Amanda. »Er ist…« Sie suchte nach dem treffenden Wort.

»Geil?«, schlug Pancho vor.

Amanda schaute sie mit gerunzelter Stirn an. »Er ist mächtig. Da ist etwas in seinen Augen… er macht mir beinahe Angst.«

Pancho erinnerte sich an Humphries' ›Heimkino‹ und nickte.

»Ich will ihn nicht wieder sehen. Ich kann einfach nicht.«

Für Pancho klang das so, als ob sie sich selbst davon überzeugen müsse.

»Er ist es gewöhnt, alles zu bekommen, was er will«, sagte Amanda mehr zu sich selbst als zu Pancho. »Er mag es nicht, wenn man ihm etwas abschlägt oder ihn zurückweist.«

»Wer mag das schon, Mandy.«

»Aber er…« Wieder fehlten ihr die Worte. »Pancho, mit jedem anderen Mann könnte ich Spaß haben und flirten, und das wäre es dann gewesen. Aber Martin gibt sich damit nicht zufrieden. Er weiß genau, was er will, und wenn er es nicht bekommt, kann er… Ich weiß nicht, was ich tun soll, aber er macht mir einfach Angst.«

»Du glaubst, dass er dich heiraten will?«

»Er sagt, dass er mich liebt.«

»Ach, zum Teufel, Mandy, zu mir haben das auch schon ein paar Typen gesagt. Aber sie wollten alle nur das eine.«

»Er scheint aber wirklich zu glauben, dass er mich liebt.«

»Das ist aber eine komische Aussage.«

»Pancho, ich kann ihn nicht wieder sehen. Ich weiß nicht, auf was für Ideen er sonst noch kommt. Ich muss mich von ihm fern halten.«

Amanda machte auf Pancho einen ängstlichen Eindruck. Und sie hat auch allen Grund, sich zu fürchten, sagte sie sich.


Am nächsten Morgen rief Pancho als Erstes Dan Randolph an und bat um eine Unterredung mit ihm. Einer von Randolphs Assistenten, der große Typ mit dem Pfannkuchengesicht und dem lieblichen Tenor sagte, dass er sie zurückrufen würde. Nach fünf Minuten erfolgte der Rückruf. Randolph würde sie um Viertel nach zehn in seinem Büro erwarten.

Die Büros der Astro Corporation lagen auf derselben Etage wie die Wohnquartiere, die das Unternehmen gemietet hatte. Bei den meisten Firmen waren die Büros der Führungsebene deutlich luxuriöser als die Arbeitsplätze der Mitarbeiter. Nicht so bei Astro. Es gab keine erkennbaren Unterschiede auf der ganzen Länge des Korridors. Während sie an den Türen vorbeiging und nach Randolphs Namensschild Ausschau hielt, beschloss Pancho, ihm nichts vom Tarnanzug zu erzählen. Sie hatte ihn am frühen Morgen wieder zu Waltons Spind zurückgebracht. Ike wusste nichts davon, dass sie sich den Anzug ausgeliehen hatte; falls die Sache noch ein Nachspiel hatte, könnte man ihm nichts anhaben.

Randolph wirkte angespannt, als Pancho von dem großen Australier, mit dem sie am Telefon gesprochen hatte, in sein Büro geführt wurde.

»Hi, Boss«, sagte sie fröhlich.

Es war ein kleines Büro, wenn man bedachte, dass es dem Vorstandsvorsitzenden eines großen Unternehmens gehörte. In einer Ecke stand ein Schreibtisch, doch Randolph stand neben dem Sofa und den Sesseln, die am anderen Ende des Raums um einen Kaffeetisch gruppiert waren. Pancho sah, dass die Wände mit Fotos von Astro-Raketen tapeziert waren, die auf Feuerschweifen und von Dampfwolken umhüllt von der Erde starteten. Nichts Persönliches. Keine Fotos von Randolph selbst oder von sonst jemandem. Pancho grinste insgeheim, als sie den Wust von Papieren auf Randolphs Schreibtisch sah — trotz des eingebauten Computers.

Er wies aufs Sofa und sagte: »Nehmen Sie Platz. Haben Sie schon gefrühstückt?«

»Ist das eine Fangfrage?«, fragte Pancho, anstatt sich zu setzen. »Astro-Mitarbeiter stehen bekanntlich jeden Tag mit den Hühnern auf, Boss, und noch dazu an zwei Sonntagen im Monat.«

Randolph lachte. »Kaffee? Tee? Vielleicht etwas anderes?«

»Dürfte ich mal für eine Minute Ihren Computer benutzen?«, fragte sie.

»Sicher, bedienen Sie sich«, sagte er sichtlich verwirrt und rief: »Computer, Gästestimme.«

Pancho ging zum Schreibtisch und beugte sich über den senkrecht stehenden Bildschirm. Sie nannte ihren Namen, und der Computer erwachte zum Leben. Nach ein paar Sekunden bedeutete sie Randolph mit einem Winken, einen Blick auf den Monitor zu werfen.

Er schaute auf den Bildschirm. »Was, zum Teufel, soll das darstellen?«

»Martin Humphries' persönliches Programm-Menü.«

»Humphries?« Randolph sank auf den Schreibtischstuhl.

»Ja. Ich habe gestern Abend seinen Rechner gehackt. Sie haben jederzeit Zugang zu ihm.«

Randolph schaute auf Pancho und wieder auf den Bildschirm. »Ohne sein Wissen?«

»Ach, früher oder später wird er wohl dahinterkommen. Aber im Moment weiß er noch von nichts.«

»Wie, zum Teufel, haben Sie das geschafft?«

Pancho lächelte ihn an. »Sie werden's nicht glauben. Mit Zauberei.«

»Hm«, grummelte Randolph. »Zu schade, dass Sie das nicht ein paar Tage früher vollbracht haben.«

»Wieso denn?«

»Weil wir nun Partner sind.«

»Sie und Humphries? Partner?«

»Humphries, Selene und Astro. Wir haben eine gemeinsame Gesellschaft gegründet, die Starpower GmbH.»

»Wahnsinn! Wo kann ich denn Aktien kaufen?«

»Die Gesellschaft ist nicht börsennotiert. Duncan und seine Leute erhalten ein Aktienpaket, aber der Rest ist für Humphries, mich und die braven Bürger von Selene. Dadurch bleiben Selenes Steuern niedrig — wenn es funktioniert.«

»Ach so, wieder mal nur für die großen Fische, wie?«, grummelte Pancho enttäuscht.

Randolph lächelte sie verschmitzt an. »Ich könnte mir vorstellen«, sagte er und strich sich mit dem Finger übers Kinn, »dass wir hier und da ein paar Aktien als Belohnung für herausragende Leistungen verteilen.«

»Die zum Beispiel darin besteht, mit einer Rakete zum Gürtel und zurück zu fliegen.«

Randolph nickte.

»In Ordnung«, sagte Pancho solcherart motiviert. »Inzwischen haben Sie jederzeit Zugriff auf Humphries' Dateien.«

Randolph löschte den Bildschirm mit einem knappen scharfen ›Exit‹ und wandte sich wieder an Pancho: »Sie vergeuden als Raumschiffpilotin ihre Zeit. Sie wären eine verdammt gute Spionin, Mädchen.«

»Fliegen liegt mir mehr als spionieren«, sagte sie.

Randolph schaute sie an. Er hat wirklich schöne Augen, sagte sie sich. Grau, aber nicht kalt. Tief. Mit goldenen Einsprengseln. Schöne Augen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt in Humphries' Dateien herumschnüffeln will«, sagte er.

»Nicht?«

»Ein Mann namens Stimson war vor etwa hundert Jahren Außenminister der USA«, sagte Randolph. »Als er herausfand, dass das Außenministerium routinemäßig die Post der ausländischen Botschaften in Washington abfing, unterband er diese Praktiken. ›Gentlemen lesen nicht anderer Leute Post‹, sagte er. Oder etwas in der Art.«

Pancho schnaubte. »Sie sind vielleicht ein Gentleman, aber Humphries ist bestimmt keiner.«

»Ich glaube, zur Hälfte haben Sie Recht.«

»Zu welcher Hälfte?«

Anstelle einer Antwort drückte Randolph eine Taste der Telefonanlage. Der große Australier kam fast sofort vom Vorzimmer durch die Tür.

»Ihr beiden kennt euch?«, fragte Randolph und sagte, ohne eine Erwiderung von den beiden abzuwarten: »George Ambrose, Pancho Lane.«

»Angenehm«, sagte Big George. Pancho erwiderte mit einem flüchtigen Lächeln.

»George, wen haben wir, der fähig wäre, einen kompletten Festplatten-Download durchzuführen, ohne dass der Besitzer der Festplatte etwas davon merkt?«

Big George warf einen Blick auf Pancho. »Du willst, dass das möglichst geräuschlos über die Bühne geht, stimmt's?«, fragte er dann.

»Stimmt genau.«

»Dann werde ich es selbst erledigen.«

»Du?«

»Mach nicht so ein Gesicht, als ob du Bauklötze staunen würdest«, sagte George. »Ich war Ingenieur, bevor ich bei dir eingestiegen bin.«

»Du warst ein Justizflüchtling, bevor du bei mir eingestiegen bist«, konterte Randolph.

»Ja, ja, aber ich meine doch vorher. Ich bin zum Mond geflogen, um auf der Oberfläche Zugmaschinen fernzusteuern. Ich habe einen Abschluss in Software-Architektur, meine Güte.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Randolph.

»Und nun weißt du's. Was liegt also an?«

»Ich möchte, dass du mit Pancho zusammenarbeitest. Sie wird dir das Problem erläutern.«

George schaute zu ihr auf. »In Ordnung. Wann sollen wir anfangen?«

»Sofort«, sagte Randolph und wandte sich an Pancho: »Sie können George alles sagen, was Sie auch mir gesagt haben.«

»Sicher«, entgegnete Pancho. Vielleicht, sagte sie sich insgeheim.

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