Stavenger-Theater

Kris Cardenas wunderte sich über die Bereitwilligkeit, mit der die Leute ihre gemütlichen Unterkünfte verlassen hatten und in dicht gestaffelten Reihen auf den unbequemen Stühlen des Freilufttheaters auf Tuchfühlung gingen. Eine große Menschenmenge strömte ins Theater, das in der Grand Plaza als Freilichtbühne angelegt worden war. Exakt eintausend Plätze waren bogenförmig um die von einer Orchestermuschel überwölbte Bühne angeordnet.

Trotz dreidimensionaler interaktiver Video- und VR-Programme, die eine fast perfekte Simulation der Wirklichkeit waren, hatten die Leute nach wie vor ein Faible für Bühnenstücke. Vielleicht liegt das daran, dass wir Säugetiere sind, sagte Cardenas sich. Wir suchen die Wärme unserer Artgenossen. Das ist uns angeboren. Echsen sind uns da gegenüber im Vorteil.

Es gab indes ein ganz bestimmtes Säugetier, das Cardenas treffen wollte: George Ambrose. An diesem Morgen hatte sie im Astro-Büro angerufen und ihn sprechen wollen, war aber nur auf dem Video-Anrufbeantworter gelandet. Am späten Nachmittag hatte er sie dann zurückgerufen. Als sie sagte, dass sie ihn so bald wie möglich persönlich sprechen müsse, hatte George sich für einen Moment den dichten roten Bart gekratzt und dann das Theater vorgeschlagen.

»Ich habe eine Bekannte dabei«, sagte er fröhlich, »aber wir können uns in der Pause treffen und ein wenig plaudern. In Ordnung?«

Cardenas hatte sofort eingewilligt. Am Rande fragte sie, welches Stück aufgeführt würde.

George seufzte schwer. »Irgendeine griechische Tragödie. Meine Bekannte steht aber auf so 'nen klassischen Kram.«

Normalerweise war das Theater immer ausverkauft, egal was gespielt wurde. In den Tagen vor dem Klimakollaps, als der Tourismus noch florierte, hatte Selenes Regierung die besten Symphonieorchester der Welt, Tanzgruppen und hochkarätige Schauspieler auf den Mond eingeladen. Nun wurden lokale Amateur-Talente für die Vorführungen rekrutiert.

Medea, aufgeführt von Selenes ›hauseigenem‹ Alphonsus-Ensemble. Cardenas hätte sich mit Grausen abgewandt, wenn es sie denn interessiert hätte. Trotzdem war die Vorstellung ausgebucht. Nur Cardenas' Status als prominente Bürgerin von Selene verhalf ihr noch zu einer Eintrittskarte, wobei sie aber bis zu Doug Staven-ger gehen musste. Lächelnd sagte er, dass er sein Ticket eh nicht benutzen würde.

In der ersten Hälfte der Vorstellung würdigte Cardenas die Bühne kaum eines Blickes. Sie saß in der vierten Reihe und hielt fast die ganze Zeit Ausschau nach George Ambroses roter Mähne.

In der Pause ließ sie sich von der Menge durch den Mittelgang schieben. Die Leute diskutierten über das Stück und die Darsteller. Cardenas war erstaunt, so viele grau- und weißhaarige Leute unter den Theaterbesuchern zu sehen. Selene vergreist allmählich, sagte sie sich. Und nur sehr wenige Leute stoppten den Alterungsprozess mit Nanobots oder anderen Therapien. Schließlich erspähte sie Big George, der wie eine feuerrote Boje alle anderen überragte.

Hinter der letzten Reihe lief die Menge in Richtung der Verkaufsstände auseinander, die zwischen den blühenden Büschen der Plaza aufgestellt waren. Ein Wartungsroboter rollte langsam an der Peripherie der Menge entlang und hielt Ausschau nach Abfall.

George stand an der Bierbar. Cardenas blieb im Hintergrund und wartete darauf, dass er sein Getränk bekam und sich aus der Menge löste. Als es schließlich so weit war, hatte er links einen mit Selenes Logo verzierten Bierseidel in der Hand und zur Rechten eine dürre, hohlwangige Rothaarige. Sie war hübsch, obwohl sie so ausgezehrt war, sagte Cardenas sich. Schöne Beine. Der Becher in ihrer Hand war winzig im Vergleich mit Ambroses Humpen.

Big George machte Cardenas aus, ließ seine Begleitung an einem blühenden Hibiskus zurück und kam auf Cardenas zu.

»Dr. Cardenas«, sagte er mit einer höflichen Verbeugung. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich muss eine Nachricht an Dan Randolph übermitteln«, sagte sie. »Und zwar so schnell wie möglich.«

»Kein Problem. Kommen Sie morgen ins Büro. Oder heute Abend nach der Vorstellung, wenn Sie mögen.«

»Besteht die Möglichkeit, dass ich mit Dan spreche, ohne in euer Büro zu kommen? Ich glaube, man beobachtet mich.«

George wirkte eher verwirrt als beunruhigt. »Sie könnten mich auch anrufen, und ich stelle Sie zur Funkverbindung durch.« Er nahm einen Schluck aus dem Humpen.

»Könnten wir das noch heute Abend erledigen?«

»Sicher. Auch sofort, wenn Sie es wünschen. Dann hätte ich auch eine Entschuldigung, um diese Show zu verlassen. Ziemlich öde, finden Sie nicht auch?«

»Nicht jetzt«, sagte sie. »Das würde nur Aufsehen erregen. Nach der Show. Ich werde bei einem Freund unterkriechen und Sie von dort aus im Büro anrufen.«

Zum ersten Mal zeigte George Besorgnis. »Sie haben wirklich Angst, stimmt's?«

»Ich befürchte, dass Dans Leben in Gefahr ist.«

»Sie meinen, jemand hat es darauf abgesehen, ihn zu töten?«

»Humphries.«

Georges Gesicht verhärtete sich. »Sind Sie sicher?«

»Ich bin… ziemlich sicher.«

»Sicher genug, um Dan zu warnen. Von einem sicheren Ort aus, wo das Telefon nicht angezapft wird.«

»Genau.«

George atmete tief durch. »In Ordnung. Dann machen wir Nägel mit Köpfen. Sie kommen nach der Show mit mir, und ich bringe Sie in einer Astro-Gästesuite unter. So kann ich Sie beschützen.«

Cardenas schüttelte den Kopf. »Das ist lieb von Ihnen, aber ich glaube nicht, dass ich in Gefahr bin.«

»Wieso dann diese Mantel-und-Degen-Geschichte?«

»Humphries soll nicht wissen, dass ich Dan warne. Wenn er es wüsste, dann bekäme ich vielleicht Schwierigkeiten.«

George ließ sich das für ein paar Minuten durch den Kopf gehen. Der rothaarige Berg von einem Mann ragte vor ihr auf und kratzte sich verwirrt am Kopf.

»Alles klar«, sagte er schließlich. »Also zurück zu Plan A. Ich werde nach dieser abgefuckten Show ins Büro gehen, und Sie rufen mich dort an. In Ordnung?«

»Ja. Sehr gut. Danke.«

»Sind Sie sicher, dass Sie keinen Schutz brauchen?«

Sie zog sein Angebot für einen Moment in Erwägung und sagte dann: »Danke, aber ich brauche keinen. Außerdem muss ich meiner Arbeit nachgehen. Ich vermag das Labor nicht von einer Astro-Gästesuite aus zu leiten.«

»In Ordnung«, sagte George. »Aber wenn Sie es sich doch noch anders überlegen, geben Sie einfach Laut.«


Martin Humphries hatte es sich in seinem Lieblingssessel bequem gemacht und schaute sich ein selbst produziertes Video an, als das Telefon klingelte. Verärgert warf er einen Blick auf die Konsole und sah, dass das Gespräch auf der Notfall-Leitung kam. Er schnippte mit den Fingern, und auf dem Wandbildschirm erschien die Frau, die er auf Cardenas angesetzt hatte. Sie war eine kleine Angestellte aus der Kommunikationsabteilung von Astro Manufacturing, die einen Nebenverdienst brauchte, um ihre jüngere Schwester aus dem verwüsteten Moldawien zu sich zu holen.

»Und?«, fragte Humphries.

»Sie hat mit George Ambrose gesprochen und ist dann zur Show zurückgegangen.«

»Sie haben ein Video?«

»Ja, natürlich.«

»Na, dann zeigen Sie es mir«, sagte er schroff.

Das Gesicht der Frau wich einem etwas verwackelten Video von Cardenas, wie sie sich mit Randolphs Leibwächter, diesem großen Australier unterhielt.

»Sind sie zusammen zur Show zurückgekehrt?«

Das Gesicht der Frau erschien wieder auf dem Schirm. »Nein, getrennt. Er war in Begleitung einer anderen Frau.«

»Wann ist die Show zu Ende?«, fragte Humphries mit einem Blick auf die Digitaluhr auf dem Schreibtisch.

»Ich weiß nicht.«

Dumme Kuh, sagte er sich wütend. »Bleiben Sie an ihr dran«, sagte er laut. »Ich werde ein paar Männer schicken, die sie sich greifen. Lassen Sie das Handy eingeschaltet, damit sie ein Leitsignal haben. Auf diese Weise finden sie Sie — und Cardenas —, selbst wenn sie erst nach dem Ende der Show dort eintreffen.«

»Es ist aber nicht erlaubt, Handys während der Vorführung eingeschaltet zu lassen«, erwiderte die Frau.

»Es ist mir egal, was erlaubt ist und was nicht! Lassen Sie das Handy eingeschaltet und bleiben Sie an Dr. Cardenas dran, oder ich lasse Sie wieder nach Moldawien verfrachten!«

Ihre Augen weiteten sich vor Angst. »Jawohl, Sir«, sagte sie fügsam.


»Was macht das Leck?«, fragte Dan.

Er hatte sich seit Stunden in der Messe aufgehalten und an sich halten müssen, um nicht auf die Brücke zu stürmen und die Piloten zu nerven. Aber ein Leck im Kühlkreislauf des Supraleiters machte Dan Angst. Ohne den Supraleiter würden sie im nächsten Sonnensturm gegrillt.

Als Amanda die Brücke verließ, erkundigte Dan sich also nach dem Leck.

Die Frage schien sie zu verwundern. »Ein Leck?«

»Im Kühlkreislauf.«

»Ach das. Es ist nichts Besonderes. Pancho wird nach der Wende eine EVA durchführen und es abdichten.«

»Nur Pancho?«, fragte Dan. »Sie ganz allein?«

»Es ist nur ein winziges Leck«, sagte Amanda leichthin. »Pancho hält es für unnötig, dass wir beide hinausgehen.«

Dan nickte und erhob sich vom Stuhl. »Ich glaube, ich gehe mal nach hinten und sehe nach Fuchs.« Wenn ich nur hier herumsitze, werde ich noch zu einem nervlichen Wrack, sagte er sich.

Fuchs war wieder in der Instrumentenbucht und summte vor sich hin, wobei er über eine Werkbank gebeugt war, auf der die Einzelteile eines Infrarot-Scanners herumlagen.

»Ist er defekt?«, fragte Dan.

Fuchs blickte auf. Er hatte ein erfreutes Lächeln auf seinem breiten Gesicht. »Nein, nein«, sagte er. »Ich will nur die Empfindlichkeit erhöhen, um bessere Daten über große Entfernungen zu bekommen.«

»Wir werden bald wenden. Du musst alle losen Teile sicher verstauen, damit sie nicht vom Tisch fallen.«

»Ach, bis dahin müsste ich sowieso fertig sein.«

»Wirklich?«

»Natürlich«, sagte Fuchs mit einem Blick, der zum Teil Überraschung ausdrückte, weil an seinem Wort gezweifelt wurde, zum Teil Stolz auf seine Fähigkeiten.

Er beugte sich wieder über die Arbeit, wobei er die winzigen Teile trotz seiner Wurstfinger mit der Präzision eines Feinmechanikers handhabte. Dan schaute dem Mann noch für eine Weile zu und ließ ihn dann allein. Auf dem Weg zu seiner Kabine sah er Amanda im engen Gang auf sich zukommen.

»Willst du Pancho beim Anlegen des Anzugs helfen?«, fragte er. »Ich könnte…«

»Ach, das hat noch Zeit«, sagte Amanda gut gelaunt. »Ich dachte, ich gucke mal für ein paar Minuten bei Lars vorbei und helfe ihm bei den Vorbereitungen für die Wende.«

Dans Brauen gingen in die Höhe. »Läuft da etwas zwischen euch beiden?«, fragte er.

Ihre Überraschung war echt. »Lars ist ein Gentleman der alten Schule«, sagte Amanda würdevoll. »Und selbst wenn Sie es nicht glauben wollen, Boss, ich verstehe es durchaus, mich wie eine Dame zu benehmen.«

Sie schob sich mit gerecktem Kinn und sichtlich indigniert an Dan vorbei.

Dan schaute ihr grinsend nach. Es läuft aber trotzdem was, auch wenn Fuchs noch nichts davon weiß.

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