Selene

»…und er kriegt sich nicht mehr ein vor Zorn«, schloss Pancho.

Dan nickte ernst, während sie in einem Elektrofahrzeug durch den Tunnel vom Raumhafen nach Selene fuhren. Pancho hatte ihn am Raumhafen abgeholt, als er von Nueva Venezuela zurückgekehrt war. Sie wirkte besorgt, fast ängstlich wegen Humphries.

»Ich würde wohl auch ausrasten«, sagte er, »wenn ich an seiner Stelle wäre.«

Die beiden saßen allein im Fahrzeug. Dan hatte extra gewartet, bis die vier anderen Passagiere der Raumfähre in Richtung Stadt aufgebrochen waren. Dann hatten er und Pancho das nächste Fahrzeug genommen. Die automatisierten Vehikel surrten wie Nähmaschinen durch den langen geraden Tunnel.

»Was werden Sie nun tun?«, fragte Pancho.

Dan grinste sie an. »Ich werde ihn anrufen und einen Termin vereinbaren.«

»In der Arena?«

»Nein«, sagte er lachend. »So schlimm wird's schon nicht werden. Es wird Zeit, dass er und ich über die Anbahnung eines Geschäfts sprechen.«

»Brauchen Sie ihn jetzt überhaupt noch?«, fragte Pancho mit einem Stirnrunzeln. »Ich meine, wo Sie nun die Nanotechnik und das alles haben. Wieso ziehen Sie das Ding nicht allein durch und lassen ihn außen vor?«

»Ich glaube nicht, dass das eine weise Entscheidung wäre«, erwiderte Dan. »Schließlich hat er mich überhaupt erst auf die Idee mit dem Fusionsantrieb gebracht. Wenn ich ihn nun ausstechen würde, hätte er eine rechtliche Handhabe gegen mich.«

»Das unterstellt er Ihnen aber.«

Dan betrachtete das Schattenspiel auf ihrem Gesicht, während der Wagen lautlos durch den Tunnel glitt. Licht, Schatten, Licht, Schatten — als ob er ein Video sähe, auf dem die Sonne im Zeitraffertempo über den Himmel wanderte.

»Ich spiele das Spiel nicht nach seinen Regeln«, sagte er schließlich. »Und ich will auch nicht, dass das Projekt von den Anwälten für die nächsten hundert Jahre auf Eis gelegt wird.«

»Anwälte«, grunzte Pancho voller Abscheu.

»Humphries hat das Fusionsprojekt an mich herangetragen, weil er sich bei Astro einnisten will. Ich kenne seine Methoden. Er stellt sich das so vor, dass er den Bau des Fusionsantriebs finanziert und im Gegenzug ein Aktienpaket von Astro erhält. Dann wird er über Strohmänner immer mehr Aktien erwerben, ein paar seiner Knechte in meinen Vorstand einschleusen und mich früher oder später aus meiner eigenen Firma rauswerfen.«

»Könnte er das überhaupt tun?«

»Das ist seine übliche Vorgehensweise. Auf diese Art hat er sich schon ein halbes Dutzend Firmen unter den Nagel gerissen. Im Moment steht er kurz vor der Übernahme von Masterson Aerospace

»Masterson?«, fragte Pancho erschrocken.

»Ja«, sagte Dan. »Die halbe Welt ertrinkt, und die andere Hälfte wird durch den verdammten Treibhauseffekt gebraten, und er schlägt daraus Kapital. Er ist ein gottverdammter Opportunist. Ein Vampir, der allem, was er anfasst, das Blut aussaugt.«

»Was werden Sie also tun?«

»Seine Investition ins Fusionsprojekt auf ein Minimum beschränken«, sagte Dan. »Und das Fusionsprojekt getrennt von und außerhalb der Astro Corporation abwickeln.«

»Dann mal viel Glück«, sagte sie verdrießlich.

Dan grinste sie an. »He, machen Sie doch nicht so ein Gesicht. Ich bin früher schon in solche Situationen geraten. Man muss nur die Gesetze des kapitalistischen Dschungels kennen.«

»Ja, vielleicht, aber ich glaube trotzdem, dass er sehr unangenehm wird, wenn er nicht seinen Willen bekommt. Sogar verdammt unangenehm.«

»Für solche Fälle habe ich Big George«, erwiderte Dan mit einem unbekümmerten Achselzucken.

»Wer ist denn Big George?«

Dan hatte die Stippvisite auf Nueva Venezuala ohne George gemacht. Er glaubte auf einen Leibwächter verzichten zu können, wenn er sich nicht auf der Erde aufhielt. Zumal er den Australier nicht mehr gesehen hatte, seit sie wegen der Besprechung mit Doug Stavenger zusammen in Selene angekommen waren.

»Ich werde ihn Ihnen vorstellen.«

Der Wagen erreichte das Tunnelende und wurde automatisch gestoppt. Dan nahm die Reisetasche und stieg mit Pancho aus. Dann gingen sie zur Zollstation. Dan sah, dass die beiden uniformierten Zöllner sich noch immer mit der Abfertigung der vier Leute befassten, die auch auf diesem Flug gewesen waren. Im gegenüberliegenden Eingangsbereich verabschiedete ein älteres Paar sich gerade von einer jungen Familie mit zwei Kindern. Eins davon war ein Kleinkind, das in den Armen seiner Mutter zappelte.

»Was soll ich Humphries also sagen?«, fragte Pancho. »Er wird wissen wollen, was Sie bei Dr. Cardenas gemacht haben.«

»Sagen Sie ihm die Wahrheit. Cardenas wird sich dem Team anschließen. Sie wird in ein paar Tagen hier eintreffen.«

»Soll ich ihm ausrichten, dass Sie einen Gesprächstermin mit ihm vereinbaren wollen?«

Dan dachte darüber nach, während sie zum Zollschalter gingen. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich werde ihn selbst anrufen, sobald wir in unseren Quartieren sind.«


Humphries schien überrascht, als Dan ihn anrief. Trotzdem war er damit einverstanden, schon für den nächsten Morgen einen Termin zu vereinbaren. Er bestand darauf, dass das Treffen in den Büros von Humphries Space Systems stattfand — in dem Turm an der Grand Plaza, wo auch Doug Stavenger sein Büro hatte.

Dan bedankte sich recht freundlich und amüsierte sich im Stillen über Humphries' Tricks und Schliche. Er versuchte Big George telefonisch zu erreichen, wurde aber nur mit dem Anrufbeantworter verbunden. Er teilte George mit, dass er ihn am nächsten Morgen sofort zurückrufen solle. Dann zog er sich aus, duschte und ging zu Bett.

Er träumte von Jane. Sie waren zusammen auf Tetiaroa, sie beide ganz allein auf dem tropischen Atoll unter einem grandiosen Sternenhimmel und spazierten am Strand der Lagune entlang. Der Wind rauschte leise in den Palmen. Eine schmale Mondsichel tauchte hinter vorbeiziehenden silbrigen Wolken auf. Jane trug ein leichtes Gewand, und das kastanienbraune Haar fiel ihr über die Schultern. Im Sternenlicht sah er, wie schön und begehrenswert sie war.

Aber er brachte kein Wort heraus. Trotz aller Anstrengung vermochte er keinen Ton über die Lippen zu bringen. Was soll der Quatsch, zürnte Dan mit sich selbst. Wie willst du ihr deine Liebe gestehen, wenn du den Mund nicht aufbekommst?

Die Wolken wurden dichter und dunkler und verhüllten den Mond und die Sterne. Hinter Janes schemenhaftem Profil sah Dan das wogende und gischtende Meer. Eine riesige Flutwelle brandete gegen sie an und schlug wie ein Berg aus schäumendem Wasser über ihnen zusammen. Er wollte sie noch warnen und einen Schrei ausstoßen, aber das Wasser riss sie mit unwiderstehlicher Macht fort. Er streckte die Hand nach Jane aus und versuchte sie festzuhalten, zu retten, aber sie wurde ihm entrissen.

Er wachte schweißgebadet auf und setzte sich auf. Er hatte einen rauhen Hals, als ob er stundenlang geschrieen hätte. Er wusste nicht, wo er war. Alles, was er in der Dunkelheit des Raums sah, waren die grün glühenden Ziffern der Digitaluhr auf dem Nachttisch. Er rieb sich die Augen und versuchte sich zu erinnern. Selene. Ich bin in der Firmensuite in Selene. Morgen früh habe ich eine Verabredung mit Humphries.

Und Jane ist tot.


»Sie sind ein viel beschäftigter Mann«, sagte Humphries in offensichtlich geheuchelter Jovialität.

Die Besprechung fand nicht in seinem Büro statt, sondern in einem kleinen fensterlosen Konferenzraum, in den er Dan geführt hatte. Es gab nicht einmal Holofenster, nur ein paar Gemälde und Fotografien von Martin Humphries mit diversen Prominenten. Dan erkannte den amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten, einen sauertöpfischen älteren Mann in einem schwarzen Priestergewand und Vasily Malik vom GEC.

Dan lehnte sich im bequemen Polstersessel entspannt zurück und sagte: »Ich bin ziemlich viel unterwegs gewesen, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben.«

Humphries, der Dan gegenübersaß, verschränkte die Hände auf der polierten Tischplatte. »Ehrlich gesagt, Dan, mich beschleicht das Gefühl, dass Sie mich aus diesem Fusions-Geschäft verdrängen wollen.«

»Das würde ich nie tun, Marty«, sagte Dan lachend, »selbst wenn ich es könnte.«

Humphries lachte Dan auch an. Allerdings mutete dieses Lachen arg gezwungen an.

»Sagen Sie mir eins«, sagte Dan. »Sie sind doch nicht rein zufällig über Duncan gestolpert, oder?«

Humphries lächelte, wobei es diesmal echter wirkte. »Nicht ganz. Nachdem ich Humphries Space Systems gegründet hatte, machte ich mich auf die Suche und förderte über ein Dutzend kleine, Erfolg versprechende Forschungsgruppen. Ich sagte mir, dass zumindest eine dieser Gruppen sicher mit einer revolutionären Entwicklung aufwarten würde. Sie hätten mal ein paar von den Vögeln sehen sollen, mit denen ich es zu tun hatte!«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Dan grinsend. Er hatte über die Jahre selbst etliche skurrile Gestalten kennen gelernt, die ihn von irgendwelchen abenteuerlichen Plänen überzeugen wollten.

»Mit Duncan und dieser Fusionsrakete hatte ich schließlich Glück«, fuhr Humphries mit selbstzufriedener Attitüde fort.

»Das war mehr als nur Glück«, sagte Dan. »Sie waren verdammt smart.«

»Vielleicht«, pflichtete Humphries ihm bei. »Manchmal tritt eben eine unerwartete Wendung ein.«

»Zumal es im Experimentalstadium nicht viel kostet.«

Humphries nickte und sagte: »Wenn die Grundlagenforschung stärker gefördert würde, kämen wir viel schneller voran.«

»Ich hätte es selbst tun sollen«, sagte Dan.

»Ja, das hätten Sie.«

»Mein Fehler.«

»Also gut, wo stehen wir?«, fragte Humphries.

»Nun… Sie haben Duncans Forschungsarbeit finanziert.«

»Einschließlich der Flugversuche, die Sie gesehen haben«, legte Humphries dar.

Dan nickte. »Ich versuche schon die ganze Zeit, die Finanzierung für den Bau eines einsatzfähigen Raumschiffs und die Entsendung eines Teams in den Asteroidengürtel unter Dach und Fach zu bekommen.«

»Ich bin in der Lage, das zu finanzieren. Ich sagte Ihnen doch schon, dass ich das Geld bereitstellen würde.«

»Ja. Aber es würde mich einen großen Teil der Astro Corporation kosten, nicht wahr?«

»Wir könnten einen angemessenen Preis aushandeln. Sie müssten keinen einzigen Cent aus der eigenen Tasche zahlen.«

»Aber Astro würde dann in Ihren Besitz übergehen«, stellte Dan fest.

Humphries hatte für einen Moment ein Funkeln in den Augen und setzte dann schnell ein synthetisches Lächeln auf. »Wie sollte ich Astro Manufacturing wohl übernehmen, Dan? Ich weiß doch, dass Sie sich höchstens von fünfzehn bis zwanzig Prozent Ihrer Firma trennen würden.«

»Eher fünf bis zehn Prozent«, sagte Dan.

»Das wäre noch ungünstiger für mich. Ich wäre ein bloßer Minderheitsaktionär. Und ich wäre nicht einmal in der Lage, jemanden im Vorstand zu platzieren — natürlich außer mir selbst.«

»Hmm«, machte Dan.

»Wie ich hörte, fahren Sie nun auf der Nanotech-Schiene«, sagte Humphries und beugte sich nach vorn.

»Sie haben richtig gehört«, erwiderte Dan. »Dr. Cardenas kehrt nach Selene zurück, um die Arbeiten zu leiten.«

»Ich hatte den Einsatz von Nanomaschinen überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Liegt aber nahe.«

»Und reduziert die Kosten.«

»Verringert meine Investition«, sagte Humphries mit unbewegter Miene.

Dan wurde der Spielchen überdrüssig. »Ich sage Ihnen, wie ich es sehe. Wir holen Selene als dritten Partner ins Boot. Sie stellen die Fertigungsstätten und das Nanotechnik-Personal.«

»Ich dachte, Sie würden Pensionäre anheuern«, sagte Humphries.

»Das stimmt«, sage Dan, »aber wir brauchen auch Selenes aktive Unterstützung.«

»Dann haben wir also noch einen Partner«, sagte Humphries missmutig.

»Ich will eine neue Firma gründen, die mit Astro nichts zu tun hat. Diese Firma wird sich jeweils zu einem Drittel in Ihrem, meinem und Selenes Besitz befinden.«

Humphries setzte sich gerade hin. »Was ist los, Dan — trauen Sie mir etwa nicht?«

»Nicht weiter, als ich den Fels von Gibraltar zu werfen vermag.«

Ein anderer hätte sich vielleicht ein Lachen abgerungen. Humphries indes schaute Dan für einen Moment finster an und bekam einen roten Kopf. Doch dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und zuckte nonchalant die Achseln.

»Sie wollen nicht, dass ich Astro-Aktien erwerbe, nicht wahr?«

»Nicht wenn ich es verhindern kann«, sagte Dan gemütlich.

»Aber welchen Beitrag leisten Sie für dieses Geschäft? Ich habe das Geld, Selene hat das Personal und die Anlagen. Was haben Sie eigentlich zu bieten?«

Dan grinste von einem Ohr zum andern. »Meine Management-Fähigkeiten. Schließlich bin ich derjenige, der die Idee mit der Nanotechnik hatte.«

»Ich dachte, das sei Stavengers Idee gewesen.«

Dan runzelte die Stirn. Alle Achtung — Humphries hatte ausgezeichnete Informationsquellen. Von Pancho weiß er das aber nicht; ich habe ihr nämlich nichts davon gesagt. Ob er Stavengers Büro verwanzt hat? Oder hat er einen Spion dort eingeschleust?

»Wissen Sie was«, sagte Dan. »Nur um Ihnen zu beweisen, dass ich doch ein ganz umgänglicher Typ bin, werde ich fünf Prozent von Astros Aktien einsetzen. Aus meinem persönlichen Bestand.«

»Zehn«, sagte Humphries wie aus der Pistole geschossen.

»Fünf.«

»Kommen Sie, Dan. Sie müssen schon ein bisschen mehr auf den Tisch legen.«

Dan schaute zur getäfelten Decke auf, atmete tief durch und schaute Humphries in die kalten grauen Augen.

»Sieben«, sagte er schließlich.

»Acht.«

Dan neigte leicht den Kopf. »Abgemacht«, murmelte er dann.

Humphries lächelte — diesmal aufrichtig — und bestätigte: »Abgemacht.«

Die Männer reichten sich über dem Tisch die Hand. Zähl anschließend die Finger nach, sagte Dan sich, während sie sich die Hände schüttelten.

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