Leben

Pancho schlug das Herz bis zum Hals, und nicht nur wegen der höheren Schwerkraft der Erde. Die vierteljährliche Vorstandssitzung der Astro Corporation würde gleich beginnen. Würde man Dans Wunsch entsprechen und sie in den Vorstand wählen? Und was, wenn sie es taten? Was verstehe ich denn schon von der Leitung eines großen Unternehmens? fragte sie sich.

Nicht viel, gestand sie sich ein. Aber wenn Dan glaubte, dass ich dazu imstande sei, dann sollte ich es zumindest versuchen.

Sie beobachtete die anderen Vorstandsmitglieder, die sich um die Anrichte des luxuriösen Konferenzraums versammelt hatten. Sie schenkten sich Drinks ein und delektierten sich an Kanapees. Sie wirkten alle alt, würdevoll und stinkreich. Die Frauen trugen teure Kleidung und üppigen Schmuck. Pancho kam sich schäbig vor in ihrem besten Hosenanzug und mit dem schlichten Schmuck, der aus einer Halskette und Ohrgehängen aus Mond-Aluminium bestand.

Man ignorierte sie. Die Vorstände fanden sich in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme — ein Flüstern war es nicht, aber sie erweckten durchaus den Anschein von Leuten, die die Köpfe zusammensteckten. Man schaute nicht einmal in ihre Richtung, und doch hatte Pancho das Gefühl, dass alle nur über sie redeten.

Nicht einmal die pummelige orientalische Frau im feuerroten Kleid sprach sie an. Sie muss doch wissen, wie es ist, ein Außenseiter zu sein, sagte Pancho sich. Aber sie bleibt auf Distanz wie all die anderen.

Martin Humphries betrat das Vorstandszimmer. Er war mit einem himmelblauen Anzug bekleidet. Pancho ballte die Fäuste. Falls er in Trauer wegen Dan ist, verbirgt er es geschickt, sagte sie sich. Niemandem ist etwas anzumerken.

Humphries begrüßte die Leute mit einem Kopfnicken, sagte ›Hallo‹ und machte Smalltalk, während er an der Anrichte vorbei auf Pancho zuging. Er warf einen Blick aus dem großen Fenster über der Anrichte und schien beim Anblick des Meers vorm Fenster fast zusammenzuzucken. Dann drehte er sich um und kam auf Pancho zu. Humphries blieb etwa einen Meter vor ihr stehen und musterte sie spöttisch von Kopf bis Fuß.

»Glauben Sie im Ernst, dass wir einem texanischen Mechaniker einen Sitz in diesem Vorstand einräumen würden?«

Pancho unterdrückte das Bedürfnis, ihm eine zu scheuern und sagte gepresst: »Das werden wir bald schon sehen, nicht wahr?«

Pancho sah, dass er Schuhe trug, die größer machten; und doch überragte sie ihn noch um ein paar Zentimeter.

»Ich frage mich nur«, sagte sie mit einem Blick in seine eisgrauen Augen, »wie es möglich ist, dass ein verurteilter Mörder weiterhin im Vorstand geduldet wird.«

»Ich bin nicht wegen Mordes verurteilt worden«, blaffte Humphries mit gesenkter Stimme.

Pancho zuckte leicht die Achseln. »Aber man hat Sie für schuldig befunden, den Tod von Dan Randolph verursacht zu haben, nicht wahr?«

»Ich habe mich der fahrlässigen Tötung schuldig bekannt. Das war die Vereinbarung, die die Anwälte für mich getroffen hatten.«

»Das Gericht von Selene war viel zu nachsichtig mit Ihnen. Ich hätte Sie aufgeknüpft. Aber nicht am Hals.«

»Man hat mich gezwungen, meine Anteile an Starpower herzugeben«, knurrte er. »Ich musste mein Drittel an den Staat abtreten!«

»Jeweils eine Hälfte an Selene und an Astro«, korrigierte Pancho ihn. »Sie werden sogar noch mit Dans Leiche Geld machen, und zwar aus den Gewinnen, die Astro einfahren wird.«

»Und man hat mich verbannt! Mich aus Selene rausgeworfen. Ich darf für zwanzig Jahre nicht dorthin zurückkehren.« Er schaute über die Schulter aus dem Panoramafenster aufs Meer wie ein Mann, der nach einem Verfolger Ausschau hält.

»Sie sind noch mit einem blauen Auge davongekommen«, sagte Pancho. »Dr. Cardenas muss stärker büßen. Sie darf nie mehr in ihrem eigenen Nanotech-Labor arbeiten.«

»Sie war für seinen Tod genauso verantwortlich wie ich. Und Sie auch, wo wir schon dabei sind.«

»Ich?«

»Sie waren der Kapitän des Schiffs. Sie hätten sofort umkehren müssen, als Sie feststellten, dass der Strahlungsschirm versagte.«

»Was wir Ihnen zu verdanken hatten.«

Humphries grinste sie an. »Wenn Randolph einen Schiffsarzt mitgenommen und das Schiff nicht entführt hätte, bevor die IAA den Flug genehmigte…«

»So ist's recht«, grummelte Pancho, »aus dem Opfer einen Täter machen.«

»Sie haben ihn nicht einmal eingefroren, als er tot war. Sie haben es nicht einmal versucht.«

»Das hätte auch keinen Sinn gehabt«, sagte Pancho. »Wir hätten seine Kerntemperatur nicht schnell genug zu senken vermocht.«

Sie hatten das nämlich in Erwägung gezogen — sie, Mandy und Fuchs. Sie hatten sogar mit dem Gedanken gespielt, Dans Körper in einen Raumanzug zu stecken und in einem der Brennstofftanks zu versenken. Eine überschlägige Berechnung hatte jedoch gezeigt, dass der kryogenische Brennstoff verbraucht gewesen wäre, wenn sie den Mond erreichten. Also wäre Dans Leiche aufgetaut, ehe sie ihn in einem richtigen Konservierungstank zu deponieren vermocht hätten.

Humphries lächelte verschlagen. »Oder vielleicht wollten Sie auch, dass er stirbt, um ihn zu beerben?«

Pancho hatte schon zum Schlag ausgeholt, ehe sie sich dessen bewusst wurde. Humphries warf die Hände hoch und stolperte ein paar Schritte zurück. Alle hielten inne. Es wurde totenstill im Vorstandszimmer. Alle Blicke richteten sich auf sie.

Mit einem tiefen Atemzug nahm Pancho die Hand herunter. Humphries richtete sich wieder auf und schaute verlegen. Die anderen Vorstandsmitglieder nahmen ihre Gespräche wieder auf und taten so, als ob nichts gewesen wäre.

Zornigen Blicks entfernte Humphries sich von ihr. Pancho sah, dass die meisten Vorstände vor ihm zur Seite wichen, als er auf die Anrichte zuging. Als ob sie eine Berührung mit ihm oder auch nur den Hauch seines Atems vermeiden wollten.

»Ich glaube, wir sollten mit der Sitzung beginnen«, sagte eine kleine rothaarige Frau in einem moosgrünen Hosenrock.

Die Vorstandsmitglieder gingen zum langen polierten Tisch in der Mitte des Raums und nahmen ihre Plätze ein. Pancho verharrte für einen Moment unsicher und sah dann, dass noch zwei Stühle frei waren: jeweils einer an den Kopfenden des Tisches. Eingedenk des Religionsunterrichts in der Schule nahm sie den Stuhl am unteren Ende. Der Rotschopf saß zur Rechten des freien Platzes am oberen Ende. Humphries saß ihr gegenüber, mit dem Rücken zum Fenster.

Alle schauten unschlüssig, als wüssten sie nicht, wie es weitergehen solle. Die Rothaarige erhob sich langsam.

»Für diejenigen von Ihnen, die mich noch nicht kennen«, sagte sie und schaute über den Tisch auf Pancho, »mein Name ist Harriet O'Banian. Als stellvertretende Vorstandsvorsitzende werde ich wohl diese Sitzung leiten müssen, bis ein neuer Vorsitzender gewählt wurde.«

Sie alle nickten. Pancho sah, dass an jedem Platz ein kleiner Bildschirm in die Tischplatte integriert war. Er zeigte die Tagesordnung in Stichpunkten.

»Ich werde auf die üblichen Formalitäten verzichten«, sagte O'Banian, »und sofort zu…«

»Darf ich unterbrechen?«, fragte Humphries und hob dabei die Hand wie ein Schuljunge.

»Natürlich«, murmelte O'Banian.

Humphries stand auf und sagte: »Ich war nicht in der Lage, der Notsitzung des Vorstands beizuwohnen, die einberufen wurde, nachdem die Nachricht von Dan Randolphs tragischem Tod bekannt wurde.«

Tragisch? knurrte Pancho stumm.

»Sie alle wissen, dass sein Tod zum Teil meine Schuld ist. Ich habe zu hart gespielt, und ich habe die Konsequenzen zu tragen. Bitte glauben Sie mir, ich wollte nicht, dass Dan stirbt.«

Und ob du das wolltest, sagte Pancho sich. Als sie den Blick über den Tisch schweifen ließ, registrierte sie zu ihrem Entsetzen den wohlwollenden Ausdruck in den Gesichtern vieler Vorstandsmitglieder.

»Mein eigentliches Verbrechen«, fuhr Humphries fort, »bestand darin, die Astro Manufacturing Corporation leiten zu wollen. Und ich habe zugelassen, dass dieser Ehrgeiz meinen gesunden Menschenverstand etwas beeinträchtigte. Ich sah, dass Dan seine schöne Firma in den Bankrott steuerte, und ich wollte das verhindern.«

Er verstummte und ließ für einen Moment den Kopf hängen. Der Hurensohn hätte Schauspieler werden sollen, sagte Pancho sich.

»Es tut mir wirklich Leid, dass Dan tot ist. Ich fühle mich in hohem Maße dafür verantwortlich, obwohl es nicht in meiner Absicht lag. Ich werde für den Rest meines Lebens für diesen Fehler bezahlen.«

Pancho musste an sich halten, um ihn nicht mit irgendetwas zu bewerfen. Die anderen Vorstandsmitglieder schienen ihm das jedoch abzukaufen.

Humphries war aber noch nicht fertig. »Ich weiß, dass wir Astro durch die gegenwärtige Krise zu retten vermögen. Trotz Dans tragischem Tod war die Mission zum Asteroidengürtel ein Erfolg. Die Starpower GmbH hält nun die Rechte an zwei Asteroiden, die an den Warenterminbörsen nach derzeitigem Stand einen Wert von ein paar Billiarden internationalen Dollar haben. Und Astro besitzt natürlich ein Drittel von Starpower

»Die Hälfte«, sagte Pancho.

Humphries starrte sie für eine Weile wortlos an. »Die Hälfte«, gestand er schließlich ein. »Das ist richtig. Astro besitzt nun die Hälfte von Starpower.«

»Und Selene besitzt die andere Hälfte«, sagte Pancho.

Humphries schaute grimmig. Pancho grinste ihn an. Ich hoffe, du erstickst an dem Geld, das du damit machst.

Hattie O'Banian durchbrach die angespannte Stille. »Danke, Mr. Humphries. Bevor wir nun mit der regulären Tagesordnung fortfahren, möchte ich Ms. Priscilla Lane im Vorstand willkommen heißen.«

Pancho sah, dass Humphries eine Augenbraue hochzog. »Ms. Lane ist aber noch nicht in den Vorstand gewählt worden«, sagte die Humphries gegenüber sitzende Orientalin wie aufs Stichwort.

»Ich bin sicher, dass wir das per Akklamation zu regeln vermögen«, sagte O'Banian. »Schließlich hat Dan…«

»Es ist aber üblich, über ein neues Mitglied abzustimmen«, sagte ein rotgesichtiger Mann mit grauem Vollbart, der ein paar Plätze von Humphries entfernt saß.

»Ein Unternehmensvorstand ist schließlich kein Erbhof«, sagte der Rotgesichtige verdrießlich. Er erinnerte Pancho an den Weihnachtsmann, nur dass er nicht annähernd so fröhlich war. »Man kann eine Mitgliedschaft im Vorstand nicht einfach erben, nur weil ein Sterbender sie einem vermacht hat.«

Pancho verstand die Weiterungen. Verdammt, sie glauben, ich hätte mit Dan geschlafen und wäre deshalb für den Vorstand nominiert worden.

O'Banian schaute pikiert. »Also gut. Ich glaube, in diesem Fall sollten wir Ms. Lane gestatten, ein paar Worte zu ihrer Person zu sagen.«

Alle Blicke richteten sich auf Pancho. Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie aufstand.

Sie erinnerte sich daran, was Dan einmal zu ihr gesagt hatte: Meine Personalabteilung hält Sie für flatterhaft, Pancho. Man sagt Ihnen nach, dass Sie unzuverlässig seien. Sie wusste, dass jedes Vorstandsmitglied ihre Personalakte gelesen hatte. In Ordnung, Pancho, sagte sie sich, es ist an der Zeit, erwachsen zu werden und dich dem Ernst des Lebens zu stellen. Du spielst nun in der Oberliga. Du musst dich ihnen von deiner besten Seite zeigen.

Sie holte tief Luft und sagte: »Ich war genauso überrascht wie Sie, als Dan Randolph sagte, ich solle seinen Platz im Vorstand einnehmen. Ich bin Ingenieur und Pilot, kein Bankier oder Anwalt. Aber Dan sagte, der Vorstand brauchte etwas frisches Blut, und er hat mich ausgesucht. Und hier bin ich nun.«

Pancho ließ den Blick über die versammelten Männer und Frauen schweifen und fuhr fort: »Ich glaube zu wissen, aus welchem Grund Dan mich hier platzieren wollte — aber es lag bestimmt nicht an meinem guten Aussehen.«

Vereinzeltes Lachen. O'Banian grinste breit.

»Bei allem gebotenen Respekt, aber ich glaube, dieser Vorstand könnte jemanden gebrauchen, der über praktische Erfahrung in Astros Geschäftstätigkeit verfügt. Dan hatte diese Erfahrung natürlich, aber ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen ins Tagesgeschäft des Unternehmens involviert ist. Ich fliege nun schon fast seit sieben Jahren Astro-Raumschiffe. Ich bin zum Gürtel und zurück geflogen. Und dort liegt auch unser größtes Gewinnpotential: draußen im Gürtel. Ich weiß, was erforderlich ist, um die Arbeit zu erledigen. Ich glaube, dass ich in der Lage bin, diesem Vorstand dabei zu helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, wenn wir die Ressourcen der Asteroiden ausbeuten. Ich danke Ihnen.«

Sie setzte sich wieder. Niemand applaudierte. Humphries schaute sie durchdringend an und schaute dann in die Runde, um die Meinungen der anderen Vorstände zu eruieren.

»Ach, noch etwas«, sagte Pancho, ohne sich von ihrem Platz zu erheben. »Falls Sie mich in den Vorstand wählen, werde ich für Ms. O'Banian als neue Vorsitzende stimmen.«

Nun vermochte Humphries seinen Verdruss nicht mehr zu verbergen.

»Also gut«, sagte O'Banian. »Schreiten wir zur Abstimmung. Alle, die für Ms. Lane sind, heben die Hand.«


Als die Sitzung zwei Stunden später aufgehoben wurde, trat Humphries an Pancho heran.

»Gut, Sie sind nun Vorstandsmitglied«, sagte er. »Mit einer Mehrheit von zwei Stimmen.«

»Und Ms. O'Banian ist die Vorstandsvorsitzende.«

»Glauben Sie, das würde mich daran hindern, die Kontrolle über Astro zu übernehmen?«, fragte Humphries spöttisch.

»Ich weiß jedenfalls, dass es Sie nicht daran hindern wird, es zu versuchen.«

»Ich werde Astro bekommen«, sagte er nachdrücklich. »Und Starpower vielleicht auch noch.«

»Vielleicht«, sagte Pancho. »Vielleicht auch nicht.«

Er lachte nur.

»Hör zu, Humpy«, knurrte Pancho. »Ich gebe einen Scheiß darauf, dass deine Anwälte dich da rausgeboxt haben. Du hast Dan Randolph umgebracht. Ich werde dafür sorgen, dass er dich für den Rest deines Lebens verfolgt.«

»Ich glaube nicht an Geister«, sagte Humphries.

Nun lachte Pancho. »Du wirst schon noch dran glauben, Humpy. Du wirst sehen.«

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