Selene

Das Schlimmste am Alleinsein im Schutzbunker war das Warten. Die einzige Beschäftigung für Kris Cardenas war, dort auf- und abzugehen — exakt ein Dutzend Schritte — oder sich die Werbesendungen anzuschauen, die von den Relais-Satelliten übertragen wurden.

Es war zum Verrücktwerden. Und dann war da noch der Hightech-Sarkophag mitten im Raum, mit der eingefrorenen Frau im glänzenden Edelstahlzylinder. Keine inspirierende Gesellschaft.

Als die Luke im Boden sich plötzlich quietschend öffnete, machte Cardenas vor Überraschung einen solchen Luftsprung, dass sie sich beinahe den Kopf an der gewölbten Bunkerdecke gestoßen hätte. Im ersten Moment war es ihr ganz egal, wer da durch die Luke kam; selbst ein Meuchelmörder wäre eine willkommene Abwechslung von der Langeweile der letzten vierundzwanzig Stunden gewesen.

Dennoch stieß sie einen großen Seufzer der Erleichterung aus, als sie George Ambroses rote Mähne in der offenen Luke auftauchen sah. George kletterte hinauf und grinste sie an.

»Dan sagt, ich soll Sie zu Stavenger bringen.«

Cardenas nickte. »Ja. Schön.«


Doug Stavenger freute sich nicht gerade über ihren Anblick. Er saß hinterm Schreibtisch und musterte sie mit einem unverhohlenen Ausdruck der Enttäuschung. Cardenas saß im Polstersessel vorm Schreibtisch, als wäre sie eine mutmaßliche Kriminelle bei der Vernehmung. George stand an der Bürotür, wobei er die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt hatte.

»Sie haben Randolphs Schiff mit Gobblers infiziert«, fragte Stavenger. Seine Stimme klang hohl vor Unglauben.

»Sie waren spezifisch dafür ausgelegt, Kupferverbindungen aufzulösen«, gestand Cardenas mit einem mulmigen Gefühl. »Mehr nicht.«

»Reicht das noch nicht?«

»Dadurch sollte nur der Strahlungsschild des Schiffs angeknackst werden«, sagte sie zu ihrer Verteidigung. »Mit dem Ziel, dass sie die Mission abbrachen und umkehrten, sobald sie den Schaden feststellten.«

»Aber sie stellten ihn erst fest, als sie sich schon tief im Gürtel befanden«, sagte Stavenger.

»Und nun fliegen sie ohne Schild in einen Strahlungssturm«, ergänzte George.

»Das könnte sich zu Mord auswachsen«, sagte Stavenger. »Zu vierfachem Mord.«

Cardenas biss sich auf die Lippe und nickte.

»Und Humphries war bei dieser Sache der Drahtzieher«, sagte Stavenger. Das war eine Feststellung, keine Frage.

»Er wollte, dass Randolphs Mission scheitert.«

»Weshalb?«

»Fragen Sie ihn.«

»Er ist einer der Haupt-Investoren bei diesem Projekt. Weshalb hätte ihn an einem Scheitern gelegen sein sollen?«

»Fragen Sie ihn«, wiederholte sie.

»Das habe ich auch vor«, sagte Stavenger. »Er ist bereits hierher unterwegs.«

Wie aufs Stichwort klingelte Stavengers Telefon. »Mr. Humphries ist hier«, sagte die synthetische Telefonstimme.

»Er soll reinkommen«, sagte Stavenger und berührte den Drücker an der Kante des Schreibtischs, der als Türöffner diente.

George trat zur Seite und verfolgte Humphries' Eintritt mit grimmiger Miene. Humphries schaute auf Cardenas, die sich im Sessel halb umgedreht hatte und dann auf Stavenger. Mit einem leichten Achselzucken ging er zum anderen Sessel vorm Schreibtisch.

»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte er beiläufig und setzte sich.

»Es geht um versuchten Mord«, sagte Stavenger.

»Mord?«

»Vier Menschen stecken ohne einen funktionsfähigen Strahlungsschild draußen im Gürtel in einem Sonnensturm.«

»Sie meinen Dan Randolph«, sagte Humphries mit dem Ansatz eines Lächelns. »Das ist typisch für ihn. Führt sich wieder mal auf wie ein Elefant im Porzellanladen.«

Stavenger fand das überhaupt nicht lustig. »Sie haben Dr. Cardenas nicht dazu veranlasst, das Schiff mit Gobblers zu infizieren?«

»Gobblers? «

»Nanomaschinen. Disassembler.«

Humphries warf einen Blick auf Cardenas und sagte dann zu Stavenger: »Ich fragte Dr. Cardenas, ob es eine Möglichkeit gäbe, Randolphs Schiff… ähem… leicht zu sabotieren. Nur so stark, dass er umkehren und den Flug zum Gürtel abbrechen müsste.«

Cardenas setzte zu einer Erwiderung an, doch Stavenger sagte empört: »Wenn sie umkommen — wenn auch nur einer von ihnen umkommt, lasse ich Sie wegen heimtückischen Mordes vor Gericht stellen.«

Humphries neigte spöttische den Kopf und grinste Stavenger an. »Das ist so weit hergeholt, dass es einfach lächerlich ist.«

»Ach ja?«

»Ich hatte Randolphs Schiff sabotieren lassen, damit er den Flug abbrechen und nach Selene zurückkehren müsste. Das gebe ich zu. Jeder vernünftige Mensch wäre sofort umgedreht und zurückgeflogen, sobald er die Sabotage bemerkt hätte. Aber nicht Randolph! Er ist weitergeflogen, obwohl er Kenntnis von der Beschädigung des Strahlungsschilds hatte. Das hat nur er zu vertreten, nicht ich. Falls hier überhaupt ein Verbrechen vorliegt, dann das, dass Randolph Selbstmord begeht und seine Besatzung mit in den Tod reißt.«

Stavenger wahrte nur mit Mühe die Contenance. Er ballte die Fäuste und fragte mit zusammengebissenen Zähnen: »Und wieso haben Sie sein Schiff eigentlich sabotiert?«

»Damit die Aktien der Astro Corporation fallen, weshalb sonst? Es war eine geschäftliche Entscheidung.«

»Aha. Es war also geschäftlich.«

»Ja, rein geschäftlich. Ich will Astro; je niedriger der Aktienkurs, desto leichter vermag ich die Firma aufzukaufen. Und Dr. Cardenas hier wollte ihre Enkelkinder wieder sehen. Ich bot ihr an, sie im Austausch für ein paar Nanomaschinen zusammenzuführen.«

»Gobblers«, sagte Stavenger.

»Sie waren aber nicht darauf programmiert, Menschen zu schaden«, gab Cardenas zu bedenken. »Sie waren spezifisch darauf programmiert, die Kupferverbindungen des Supraleiters anzugreifen. Nichts weiter.«

»Mein Vater wurde von Gobblers getötet«, sagte Stavenger mit einer Stimme so kalt und schneidend wie eine Eisaxt. »Ermordet.«

»Das ist Schnee von gestern«, sagte Humphries spöttisch. »Bitte lassen Sie Ihre Familiengeschichte außen vor.«

Stavenger beherrschte sich sichtlich und starrte Humphries für einen langen Moment stumm an. Im Büro knisterte es wie von statischer Elektrizität. George sagte sich, falls Stavenger um den Tisch ging und sich Humphries zur Brust nahm, würde er die Tür versperren und verhindern, dass jemand dem Bastard zu Hilfe kam.

Schließlich schien Stavenger den inneren Kampf zu gewinnen. Er holte tief Luft und sagte dann mit gefährlich leiser Stimme: »Ich werde die Sache an die Justizbehörden von Selene übergeben. Sie beide werden die Stadt nicht verlassen, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind.«

»Sie wollen uns vor Gericht stellen?«, fragte Cardenas.

»Wenn es nach mir ginge«, sagte Stavenger, »dann würde ich Sie beide in undichte Raumanzüge stecken, mit Ihnen ins Mare Nubium hinausfahren und Sie dort aussetzen.«

Humphries lachte. »Bin ich froh, dass Sie kein Richter sind. Außerdem gibt es in Selene gar keine Todesstrafe, nicht wahr?«

»Noch nicht«, knurrte Stavenger. »Wenn aber noch ein paar Leute wie Sie hier auftauchen, werden wir in dieser Hinsicht wohl die Gesetze ändern.«

Humphries erhob sich. »Sie können mir drohen, so viel Sie wollen, ich glaube nicht, dass Ihre Gerichte das so persönlich nehmen werden wie Sie.«

Sprach's und ging zur Tür. George trat zur Seite, sodass Humphries die Tür selbst öffnen musste. Als Humphries das Büro verließ, sah George, dass er einen dünnen Schweißfilm auf der Oberlippe hatte.

Die Tür hatte sich kaum geschlossen, als Cardenas in Tränen ausbrach. Sie saß vornübergebeugt im Sessel und hatte das Gesicht in den Händen vergraben.

Stavengers eisige Fassade schmolz. »Kris… wie konnten Sie das nur tun? Wie konnten Sie zulassen, dass er… ?« Er hielt inne und schüttelte den Kopf.

»Ich war wütend«, sagte Cardenas mit tränenerstickter Stimme, ohne zu ihm aufzusehen. »Ich war wütend Doug. Sie haben überhaupt keine Vorstellung, wie wütend. So wütend, wie ich es selbst nicht für möglich gehalten hätte.«

»Wütend? Auf Randolph?«

»Nein. Auf sie. Die Verrückten, die zulassen, dass der Klimakollaps die Erde zerstört. Die Fanatiker, die uns ins Exil geschickt haben und die es mir verwehren, zur Erde zurückzukehren und meine Enkelkinder zu sehen. Ich wollte sie bestrafen und es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen.«

»Indem Sie Randolph töten?«

»Dan versucht ihnen zu helfen«, sagte sie und schaute nun mit verweintem Gesicht zu ihm auf. »Ich will aber nicht, dass ihnen geholfen wird! Sie sind für diesen Schlamassel verantwortlich. Sie haben mich aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen. Sollen sie im eigenen Saft schmoren! Was auch immer ihnen widerfährt, sie haben es verdient.«

Stavenger schüttelte verwirrt den Kopf. Er gab Cardenas ein Taschentuch, und sie tupfte sich die geröteten Augen ab.

»Ich werde empfehlen, Sie unter Hausarrest zu stellen, Kris. Sie haben völlige Bewegungsfreiheit in Selene, halten sich aber vom Nanotech-Labor fern.«

Sie nickte stumm.

»Und Humphries?«, fragte George, der noch immer an der Tür stand.

»Für den gilt wohl das Gleiche. Aber er hat schon Recht, der selbstgefällige Schleimbeutel. Wir haben in Selene keine Todesstrafe — wir haben nicht einmal ein Gefängnis.«

»Hausarrest wäre Pipifax für ihn«, sagte George.

Stavenger schaute missmutig. Doch dann hob er das Kinn und sagte mit leuchtenden Augen: »Es sei denn, wir packen ihn am Geldbeutel.«

»Ha?«

Ein Lächeln breitete sich in Stavengers jugendlichem Gesicht aus, und er sagte: »Falls er des Mordes oder auch nur des versuchten Mordes für schuldig befunden wird, zieht das Gericht vielleicht seinen Anteil an Starpower ein und hindert ihn an der Übernahme der Astro Corporation.«

»Ich würde ihn lieber zum Krüppel schlagen«, sagte George schnaubend.

»Das würde ich auch gern«, gestand Stavenger. »Aber ich glaube, er ließe sich wirklich eher zum Krüppel schlagen, als dass er Astro und Starpower aufgeben würde.«

Загрузка...