Der Regierungsrat von Selene

Unwillkürlich verglich Dan diese Sitzung des Regierungsrats von Selene mit dem Meeting beim GEC-Leitungsgremium, an dem er vor ein paar Wochen in London teilgenommen hatte.

Die Veranstaltung fand in Selenes Theater statt, wobei der Rat an Schulbänken saß, die halbkreisförmig auf der Bühne aufgestellt waren. Fast jeder Platz im Parkett und auf den Rängen war belegt, doch die Logen auf beiden Seiten der Bühne waren leer. Vielleicht sind sie aus irgendeinem Grund gesperrt worden, sagte Dan sich. Es müssen zweitausend Leute anwesend sein, mutmaßte er und lugte zwischen den Vorhängen, welche die Bühnenflügel von der eigentlichen Bühne abtrennten, aufs Publikum. Fast jeder wahlberechtigte Bürger Selenes war zu dieser Versammlung erschienen.

Während er im Backstage-Bereich stand, gingen die Ratsmitglieder an ihm vorbei und nahmen ihre Plätze ein. Sie machten überwiegend einen jungen und agilen Eindruck. Sechs Frauen und fünf Männer, von denen noch keiner graues Haar hatte. Zwei Männer waren aber von vorzeitigem Haarausfall betroffen; das mussten Ingenieure sein, sagte Dan sich. Die Ratsmitgliedschaft war eine ›Teilzeitbeschäftigung‹, die im Losverfahren vergeben wurde. Es vermochte sich niemand vorm Dienst an der Gemeinschaft zu drücken, aber den Amtsinhabern wurde von ihren Arbeitgebern Sonderurlaub gewährt, um diesen zusätzlichen Verpflichtungen nachzukommen.

»Nervös?«

Dan drehte sich beim Klang von Doug Stavengers Stimme um.

»Wer schon an so vielen Vorstandssitzungen teilgenommen hat wie ich, wird nicht mehr nervös. Man wünscht sich nur, dass es möglichst schnell zu Ende ist.«

Stavenger klopfte Dan leicht auf die Schulter. »Diese Sitzung wird sich von allen anderen unterscheiden, Dan. Sie ähnelt eher einer altmodischen Dorfversammlung als einer Ihrer Direktorenkonferenzen.«

Dan pflichtete ihm mit einem knappen Kopfnicken bei. Auf den Vorstandssitzungen hatte er sich oft genug fast zu Tode gelangweilt. Diese Zusammenkunft wäre etwas anderes, dessen war er sich sicher.

Und so war es auch.

Stavenger fungierte ohne Stimmrecht als Vorsitzender des Regierungsrats. In dieser Position hatte er jedoch keinerlei Entscheidungsbefugnis, sondern nahm eher die Stellung eines konstitutionellen Monarchen ein. Der Vorsitzende trat ans Podium, das am Ende der Bühne aufgestellt war — nur ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo Dan stand und auf seine Rede wartete. Die Tagesordnung wurde auf einem Bildschirm an der Rückseite der Bühne angezeigt. Dan stellte zu seinem Verdruss fest, dass er der Letzte auf einer Liste von neun Rednern war.

Ein Ratsmitglied war Vorsitzender des Wasser-Ausschusses, ein pausbäckiger, rotgesichtiger Mann mit lichtem Haar, der den korallenroten Overall der Tourismus-Abteilung trug. Die Schulbank, die er drückte, schien viel zu klein für ihn.

»Es führt kein Weg daran vorbei«, sagte er mit einem verdrießlichen Gesichtsausdruck. »Und wenn wir das Wasser noch so effizient wiederaufbereiten, es ist kein völlig geschlossener Kreislauf und wird auch nie einer werden. Je mehr Menschen wir Zutritt gewähren, desto mehr Wasser geht verloren.«

»Wieso schieben wir dem Tourismus dann nicht einfach einen Riegel vor?«, ertönte eine ärgerliche Stimme aus den Reihen der Zuschauer.

»Tourismus findet eh nur noch am Rande statt«, sagte der Wasser-Funktionär. »Er macht nicht einmal fünf Prozent des Problems aus. Einwanderung ist unser größtes Problem.«

»Flüchtlinge«, flüsterte jemand vernehmlich.

»Dann lasst doch keine mehr rein!«, schrie eine zornige Stimme.

»Das können wir doch nicht tun.«

»Wieso denn nicht, zum Teufel? Sie haben den Schaden auf der Erde doch selbst angerichtet. Dann sollen sie im eigenen Saft schmoren.«

»Was ist mit der Erschließung neuer Wasserquellen?«, fragte ein Bürger.

»Die Erkundungstrupps haben bisher keine anderen Vorkommen als die polaren Eisfelder gefunden«, antwortete Stavenger vom Podium aus. »Und die nutzen wir bereits.«

»Dann schaffen wir doch ein paar Ladungen von der Erde rauf«, schlug jemand vor.

»Ja, und sie werden uns dafür bluten lassen.«

»Aber wenn wir das Wasser doch brauchen! Was sollen wir sonst tun?«

Das Publikum wurde unruhig, und das Theater hallte von erregten Diskussionen wider.

Der Vorsitzende des Wasser-Ausschusses hob die Hand, um sich Gehör zu verschaffen. »Wir verhandeln bereits mit dem GEC wegen Wasserlieferungen, aber als Gegenleistung verlangt er, dass einer von seinen Leuten in den Wasser-Ausschuss aufgenommen wird.«

»Teufel, nein!«

»Niemals!«

»Diese Bastarde versuchen doch schon die ganze Zeit, uns unter Kuratel zu stellen!«

Das Publikum tat lautstark seine Ablehnung kund.

Stavenger, der noch immer auf dem Podium stand, drückte auf einen ins Pult integrierten Knopf. Ein ohrenbetäubendes Tröten wie von einer Schiffssirene erfüllte das Theater und brachte die Schreihälse sofort zum Schweigen. Dan hielt sich die Ohren zu, bis der Lärm verstummt war.

»Ich bitte um Ruhe im Saal«, sagte Stavenger ins betäubte Schweigen. »Sonst erreichen wir überhaupt nichts.«

Widerwillig fand man sich mit einer weiteren Rationierung der Wasserzuteilung ab. Dann kam der Vorsitzende des Wasser-Ausschusses mit einem potentiellen Zuckerbrot.

»Das neue Wasser-Wiederaufbereitungssystem wird in ein paar Monaten in Betrieb genommen«, sagte er und trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. »Wenn es so effizient funktioniert wie in den Simulationen, werden wir in der Lage sein, zu den gegenwärtigen Wasserzuteilungen zurückzukehren — zumindest für ein weiteres Jahr oder so.«

»Und was passiert, wenn dieses Recycling-System auch versagt?«, fragte eine streng blickende ältere Frau.

»Es wird auf Herz und Nieren geprüft«, antwortete der Vorsitzende defensiv.

»Damit soll es den Besitzern des verdammten Hotels doch nur ermöglicht werden, den Swimmingpool und die Badewannen voll zu machen«, echauffierte sich ein dürrer langhaariger Bürger. Dan hielt ihn für einen Arzt. »Weil der Tourismus daniederliegt, wollen sie das Hotel aufmotzen und Touristen anlocken.«

Dan hielt das nicht für plausibel. Der Tourismus liegt danieder, weil die Welt den Bach runtergeht, sagte er sich. Andererseits werden die Betreiber von Touristenanlagen auf Teufel komm raus versuchen, Kunden anzulocken — koste es, was es wolle. Entweder das, oder sie können den Laden gleich dichtmachen.

Schließlich billigte der Rat die Wasserrationierung, bis das neue Recyclingsystem für drei Monate ununterbrochen in Betrieb gewesen war. Dann würde man eine neue Anhörung anberaumen und prüfen, ob man zu den alten Zuteilungen zurückgehen könne.

Zwei weitere Punkte wurden schnell abgehakt, und dann sage Stavenger: »Der letzte Punkt auf der heutigen Tagesordnung ist ein Antrag von Dan Randolph, Vorstandsvorsitzender von Astro Manufacturing.« Er drehte sich um und sagte: »Dan?«

Dan wurde von vereinzeltem Applaus begleitet, als er das Podium betrat. Astro-Mitarbeiter, sagte Dan sich. Stavenger trat zurück.

Dan packte die Kanten des Pults und ließ den Blick übers Publikum schweifen. Er hatte weder schriftliche Notizen noch einen Teleprompter. Für eine Weile stand er nur da und zerbrach sich den Kopf. Das Publikum begann schon zu raunen und zu tuscheln.

»Der Halley'sche Komet wird in ein paar Jahren wieder ins Sonnensystem zurückkehren«, hob Dan an. »Beim letzten Mal hat Halley in einem halben Jahr etwa dreißig Millionen Tonnen Wasserdampf abgeblasen. Wenn ich die Zahlen richtig in Erinnerung habe, verlor der Komet bei der dichtesten Annäherung an die Sonne ungefähr drei Tonnen Wasser pro Sekunde.«

Er legte eine Kunstpause ein. »Glauben Sie, dass Sie dieses Wasser gebrauchen könnten?«, fragte er dann.

»Ja, zum Teufel!«, rief jemand. Dan grinste, als er sah, dass es sich um Pancho Lane handelte, die auf dem ersten Rang saß.

»Dann holen wir es uns!«, sagte Dan.

In der nächsten Viertelstunde skizzierte er das Konzept der Fusionsrakete und versicherte dem Publikum, dass es in allen bisherigen Versuchen funktioniert habe.

»Ein fusionsgetriebenes Raumschiff würde Sie mit dem benötigten Wasser versorgen«, sagte Dan, »entweder von hydrathaltigen Asteroiden oder von Kometen. Ich brauche aber Ihre Hilfe beim Bau eines einsatzfähigen Systems und seiner Flugerprobung.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, dass Selene Ihr Unternehmen subventionieren solle?«, fragte ein weibliches Ratsmitglied. »Wieso beschaffen Sie sich das Geld nicht auf dem regulären Kapitalmarkt?«

Dan schaute sie mit einem gezwungenen Lächeln an. »Die Kosten für dieses Projekt werden sich auf eine bis zwei Milliarden internationaler Dollar — Erdwährung — belaufen. Keine der Banken und der anderen Finanziers, mit denen ich bisher gesprochen habe, will so viel Geld riskieren. Alle Investitionen gehen in die Wiederaufbau- und Hilfsprogramme. Die Bewältigung des Treibhauseffekts hat oberste Priorität, und das Interesse an Weltraumprojekten ist denkbar gering.«

»Verdammte Flachland-Bewohner«, schimpfte jemand.

»Bin ganz Ihrer Meinung«, sagte Dan grinsend. »Sie sind so sehr mit kurzfristiger Schadensbegrenzung beschäftigt, dass sie nicht sehen, worauf es wirklich ankommt.«

»Von allen Firmen auf der Erde«, rief jemand, »müssten Sie doch noch am ehesten in der Lage sein, das benötigte Kapital durch ein paar Geschäftsabschlüsse aufzutreiben.«

Dan beschloss, die Sache abzukürzen. »Hören Sie. Ich wäre vielleicht imstande, ein Geschäft zu machen, mit dem ich das benötigte Geld verdiene, aber ich wollte Ihnen die Chance geben, hier einzusteigen. Das ist die Gelegenheit, auf die Sie gewartet haben.«

»Über so viel Geld verfügt Selene überhaupt nicht«, sagte ein Ratsmitglied.

»Ja, aber Sie haben die entsprechend ausgebildeten Leute und die Anlagen, um die Fusionsrakete mit Nanomaschinen zu bauen«, sagte Dan.

Es wurde plötzlich still im Theater. Nanotechnik. Alle wussten, dass es möglich wäre. Dennoch…

»Nanomaschinen sind aber auch keine Heinzelmännchen, Mr. Randolph«, sagte das neben Dan sitzende Ratsmitglied. Es handelte sich um einen dünnen jungen Mann mit verkniffenem Gesicht, der irgendwie einen fanatischen Eindruck machte.

»Das ist mir schon klar«, sagte Dan.

»Wir hatten einmal den Versuch unternommen, Nanomaschinen für die Wassergewinnung zu entwickeln: Sie sollten dem einströmenden Sonnenwind Wasserstoff entziehen und ihn mit Sauerstoff aus dem Regolith verbinden. Obwohl es technisch machbar war, geriet es in der Praxis zu einem kompletten Reinfall.«

Dan sah, dass der Mann zu den Ratsmitgliedern zu zählen war, die sich selbst gern reden hörten. »Wenn Nanomaschinen in der Lage sind, Raumclipper zu bauen, dann sind sie auch zum Bau von Fusionstriebwerken imstande«, sagte er kurz angebunden.

Ein weibliches Ratsmitglied mit dem leuchtend roten Haar und dem porzellanweißen Teint Irlands ergriff das Wort. »Man hat mir das Amt der Schatzmeisterin des Rats anvertraut, weil ich so eine ehrliche Buchhalterin bin.«

Damit erzielte sie bei Dan und dem größten Teil des Publikums einen Lacherfolg.

»Aber es ist nun einmal traurige Realität, dass wir keine Mittel für Ihr Programm zur Verfügung haben, Mr. Randolph, so gern wir Ihnen auch helfen würden. Wir haben das Geld einfach nicht.«

»Ich will auch gar kein Geld«, sagte Dan.

»Was dann?«

»Ich brauche Freiwillige. Ich brauche Leute, die bereit sind, sich mit vollem Einsatz der größten Herausforderung unserer Zeit zu stellen: der Erschließung der Ressourcen des ganzen Sonnensystems.«

»Aha, aber das wäre letztlich auch nicht ohne Geld zu machen, nicht wahr?«

»Doch, das wäre es«, ertönte eine tiefe Stimme in der Mitte des Theaters. Dan sah, wie ein untersetzter, kräftig gebauter Mann sich erhob.

»Ich bin Bernie James. Ich bin letztes Jahr aus dem Nano-Labor ausgeschieden. Ich bin zwar nur ein Techniker, aber ich würde mit Ihnen zusammenarbeiten.«

Ein paar Reihen hinter ihm stand ein größerer Mann mit einem blonden Kurzhaarschnitt auf. »Rolf Uhrquest, Abteilung für Raumflug«, sagte er in einem artikulierten Tenor. »Ich wäre bereit, meinen angesammelten Urlaub in dieses Fusions-Projekt zu investieren.«

Dan lächelte die beiden an. »Ich danke Ihnen.«

»Und ich glaube«, fuhr Uhrquest fort, »dass Dr. Cardenas auch Interesse hätte.« Er drehte sich um und rief: »Dr. Cardenas, sind Sie hier?«

Niemand antwortete.

»Ich werde sie schon ausfindig machen«, sagte Uhrquest mit großem Ernst. »Es ist sehr bedauerlich, dass sie heute nicht anwesend ist.«

Dan schaute erwartungsvoll ins Publikum, aber es meldete sich niemand mehr. »Ich danke Ihnen«, sagte er schließlich und trat vom Podium in den Bühnenflügel zurück. Stavenger signalisierte ihm mit den Daumen nach oben seine Zustimmung und wandte sich ans Publikum, um den letzten Punkt auf der Tagesordnung abzuhaken: den Antrag eines pensionierten Ehepaars auf eine Erweiterung des Wohnquartiers, um genug Platz für die Eröffnung eines eigenen Geschäfts zu haben.

Als die Versammlung sich dann auflöste, sagte Stavenger: »Wenn Kris Cardenas überhaupt in Selene gewesen wäre, hätte ich Sie ihr vorgestellt. Leider befindet sie sich in einer Raumstation im erdnahen Orbit. Sie ist mit der Entwicklung von Nanomaschinen beschäftigt, um die Kosten für die Marserkundungs-Zentren zu reduzieren.«

»In welcher Station?«, fragte Dan.

»In der über Südamerika.«

Dan grinste ihn an. »Nueva Venezuela. Ich war am Bau dieser Anlage beteiligt. Vielleicht wird es Zeit, dass ich ihr einmal einen Besuch abstatte.«

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