Selene

»Hier haben Sie es schwarz auf weiß«, sagte Dan zum IAA-Inspektor. »Das System arbeitet gemäß der konstruktiven Vorgaben.«

Sie saßen im einzigen Konferenzraum der Starpower GmbH, einem engen Zimmer mit einem ovalen Tisch, an dem nicht einmal fünf Leute Platz zu finden schienen. Die Bildschirme an allen vier Smartwalls zeigten Daten von den Testflügen des Fusionsantriebs. Das erste halbe Dutzend Flüge war vom Untergrund-Kontrollzentrum des Raumhafens Armstrong ferngesteuert worden. Die zweite Tranche von sechs Flügen war von Pancho und Amanda absolviert worden.

»Wir haben Beschleunigung, Schub, spezifischen Impuls, Steuerbarkeit, Abschaltung und Neustart demonstriert… jede Facette des vollen Testprogramms«, sagte Dan und wies auf die Bildschirme.

Der Inspektor nickte bedächtig. Er war ein junger Mann mit einem nordisch blassen Teint und fahlen Augen. Bekleidet war er mit einem schlichten grauen Pullover und einer schwarzen Hose. Das Haar war eine schmutzig-blonde Mähne, die ihm fast bis auf die Schultern fiel. Im Kontrast zum konservativen Outfit standen jedoch ein paar silberne Ohrringe, silberne Fingerringe, ein silbernes Armband am rechten Handgelenk und eine silberne Halskette. Der Anhänger der Kette war unter dem Pullover verborgen.

Pancho und Amanda flankierten Dan, und Humphries saß an der anderen Seite des ovalen Tischs neben dem Inspektor. Für eine Weile herrschte Stille im Konferenzraum. Dan hörte das Hintergrund-Summen der elektrischen Ausrüstung und das leise Surren der Lüfter.

»Nun, was sagen Sie dazu, Mr. Greenleaf?«, fragte Dan schließlich.

»Doktor Greenleaf, wenn ich bitten darf«, erwiderte der IAA-Inspektor. »Ich bin Doktor der Soziologie.«

Dan runzelte die Stirn. Weshalb schickte die IAA einen Soziologen, um ein neues Raumschiff-Antriebssystem auszuprüfen? Und wieso gerade diesen kleinen Soziologen-Klugscheißer?

Greenleaf legte die Hände aufeinander. »Sie werden sich fragen, weshalb ein Soziologe Ihre Testdaten evaluiert?«

»Nun ja… das frage ich mich schon«, sagte Dan mit einem ausgesprochen unbehaglichen Gefühl.

»Ich kann Ihnen versichern, Mr. Randolph…«

»Dan.«

»Ich kann Ihnen versichern, Mr. Randolph, dass Ihre Daten von den besten Ingenieuren und Physikern untersucht wurden, über die das IAA verfügt«, sagte Greenleaf. »Wir nehmen Ihren Antrag durchaus ernst.«

»Diesbezüglich wollte ich auch gar nichts unterstellen«, sagte Dan. Der Kerl will mir eines reinwürgen, sagte er sich.

Greenleafs Blick wanderte von Dan zum Wandbildschirm. »Wie ich sehe, hat Ihr Triebwerk die Konstruktionskriterien zuverlässig erfüllt.«

»Gut«, sagte Dan erleichtert.

»Mit einer Ausnahme«, fuhr Greenleaf fort.

»Wie? Was meinen Sie?«

»Die Langzeit-Zuverlässigkeit«, sagte Greenleaf. »Der längste Flug in Ihrem Testprogramm dauerte gerade einmal zwei Wochen, und noch dazu im Unterlastbereich.«

»Ich würde eine konstante Beschleunigung von einem Zehntel G nicht unbedingt dem Unterlastbereich zuordnen«, sagte Dan unwirsch. »Zumal die IAA sehr zufrieden mit den Daten schien, die wir auf diesem Probeflug gewonnen hatten.«

Pancho und Amanda waren mit dem Testraumschiff auf einer parabolischen Trajektorie geflogen, die sie um den Planeten Venus herumführte. Das Schiff war mit einem kompletten Instrumentensatz bestückt, um Beobachtungen des Planeten durchzuführen, während es in knapp tausend Kilometern Höhe über die glühenden Wolken der Venus dahinflog. Eine Gruppe planetarer Astronomen von der IAA hatte die Ausrüstung bereitgestellt und den Flug beobachtet. Die Leute waren schier verzückt und dankbar für die Daten, die sie auf dem Flug gewannen — und ohne dass es sie etwas gekostet hätte.

»Zwei Wochen sind für einen hinreichenden Langzeittest zu kurz«, konstatierte Greenleaf.

»Um zum Gürtel zu fliegen, ist das aber lang genug«, sagte Pancho schroff.

»Mit Höchstleistung.«

»Womit denn sonst?«

»Ich bin außerstande, einen bemannten Flug zum Asteroiden-Gürtel zu genehmigen, solange Sie nicht gezeigt haben, dass Ihr Antriebssystem für den Zeitraum, der zur Durchführung der Mission veranschlagt wurde, unter Volllast zuverlässig funktioniert.«

Dan spürte heißen Zorn in sich aufwallen. Pancho schaute, als ob sie den Kerl am liebsten über den Tisch ziehen und vermöbeln wollte. Und dann stellte er fest, dass Amanda nicht etwa Greenleaf anschaute, sondern Humphries. Der saß ruhig auf dem Stuhl, machte ein Pokerface und hatte die Hände im Schoß gefaltet.

»Schon Ihr letzter Flug stellte einen Verstoß gegen die Bestimmungen der IAA dar«, sagte Greenleaf, als ob er sich rechtfertigen wolle.

»Wir haben den Flugplan bei der IAA eingereicht«, sagte Dan hitzig.

»Aber Sie haben nicht auf die Genehmigung gewartet, nicht wahr?«

»Es war ein Testflug, verdammt!«

Greenleaf bekam einen hochroten Kopf. Und schließlich wurde Dan sich bewusst, wie der Hase lief. Bei der Heiligen Nutte von Puff City, sagte er sich, er ist ein Bi-gottischer der Neuen Moralität. Die IAA haben sie auch schon infiltriert.

»Ich werde mich nicht mit Ihnen streiten«, sagte Greenleaf leidenschaftslos. »Es wird Ihnen hiermit aufgegeben, Ihren Prototyp vier Wochen unter Volllast zu fliegen, bevor Sie die Zulassung für einen bemannten Raumflug zum Asteroiden-Gürtel bekommen.«

Er schob den Stuhl zurück und erhob sich, wobei er trotz der beschwerten Schuhe, die er trug, in der schwachen Mond-Gravitation taumelte.

»Vier Wochen!«, entfuhr es Dan. »In vier Wochen könnten wir mit Vollgas zum Gürtel und zurück fliegen.«

»Dann tun Sie das«, sagte Greenleaf selbstgefällig. »Aber tun Sie es per Fernsteuerung. Ohne Besatzung.«

Er ging zur Tür. Dan blieb zornig am Tisch sitzen. Er fühlte sich verraten und verkauft.

»Ich gehe ihm lieber nach«, sagte Humphries und erhob sich vom Stuhl. »Wir wollen ihn doch nicht verärgern.«

»Wieso denn nicht, zum Teufel?«, knurrte Dan.

Humphries verließ den Konferenzraum. Dan sackte auf dem Stuhl zusammen. »Eine unbemannte Mission zum Gürtel hat doch gar keinen Wert«, murmelte er. »Es wäre nur eine Übung, die uns vier Wochen Zeit kostet und fast genauso teuer ist wie eine bemannte Mission.«

»Vier Wochen sind doch gar nicht so schlimm«, sagte Pancho. »Oder?«

»Damit rückt der Konkurs vier Wochen näher, Mädchen. Und die Übernahme meiner Firma durch den Stecher.«

»Das ist eigentlich meine Schuld«, sagte Amanda mit einem zaghaften Stimmchen.

Dan schaute sie an.

»Martin…« Sie hielt inne und sagte dann: »Martin will nicht, dass ich an der Mission teilnehme. Ich bin sicher, dass er Dr. Greenleaf beeinflusst hat.«

»Er will nicht, dass Sie mitfliegen?«, fragte Dan.

»Er ist spitz auf Mandy«, erläuterte Pancho.

Dan musste diese Mitteilung erst einmal verdauen. »Und wie stehen Sie zu ihm, Amanda?«, fragte er dann.

»Gefangen«, sagte sie wie aus der Pistole geschossen. »Ich habe das Gefühl, dass ich an keinem Ort der Welt — und auf dem Mond — sicher vor ihm bin. Ich fühle mich wie ein Tier in der Falle.«


Dan verließ die beiden Frauen und ging in sein Büro. Als er sich auf den Schreibtischstuhl setzte, wies er das Telefon an, ihn mit seiner Justitiarin zu verbinden, der Frau, die Astros Rechtsabteilung leitete.

Das telefonische Computersystem machte sie in einem Skigebiet in Nepal ausfindig. Sie musste sich das Armband-Telefon direkt vors Gesicht halten, sagte Dan sich. Er sah den Ausschnitt eines strahlend blauen Himmels hinter ihr. Sie trug einen Skianzug, hatte sich eine Sonnenbrille in die Stirn geschoben und war über den Anruf ihres Chefs überhaupt nicht erfreut.

»Was, in drei Teufels Namen, machen Sie denn in Nepal?«, fragte Dan gereizt. Dann setzte er sich wutschnaubend hin, denn es dauerte ein paar Sekunden, bis seine Nachricht die Frau erreichte und ihre Antwort bei ihm eintraf.

»Ich will ein bisschen Ski fahren, so lange überhaupt noch Schnee liegt«, sagte sie gleichermaßen gereizt.

»Skifahren?«

»Ich brauche auch hin und wieder etwas Urlaub«, sagte sie nach der obligatorischen Pause. »Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich zuletzt welchen genommen hatte.«

Mit knirschenden Zähnen teilte Dan ihr die Entscheidung des IAA-Inspektors mit.

»Sie könnten Widerspruch einlegen«, sagte sie, nachdem sie die Situation erfasst hatte, »aber das würde länger dauern als der unbemannte Testflug, den Sie nach seiner Maßgabe durchführen sollen.«

»Wäre es nicht möglich, eine erneute Anhörung mit einem anderen Inspektor zu beantragen?«, fragte Dan. »Dieser Typ ist ein Neue Moralität-Fanatiker und ein eingefleischter Gegner der Erforschung des Weltraums.«

Das Gesicht der Justitiarin verhärtete sich, als sie Dans Ausführungen vernahm. »Mr. Randolph«, sagte sie, »ich bin selbst auch ein Anhänger der Neuen Moralität, aber ich bin weder ein Fanatiker noch bin ich gegen die Erforschung des Weltraums.«

»Schon gut, schon gut«, sagte Dan und wähnte sich von Feinden umzingelt. »Dann habe ich eben etwas übertrieben.«

Sie sagte nichts.

»Wäre es möglich, einen Asteroiden mit einem unbemannten Raumfahrzeug zu beanspruchen?«

»Niemand ist berechtigt, rechtliche Ansprüche auf einen Himmelskörper zu erheben«, erwiderte sie. Damit hatte Dan auch schon gerechnet. »Nicht auf Planeten, Monde, Kometen und Asteroiden — auf überhaupt keinen Himmelskörper. Das ist internationales Recht seit dem Weltraumvertrag von 1967 mit allen Zusätzen und Protokollen.«

Wieso brauchen Anwälte immer zwei Dutzend Worte, wenn auch eins genügen würde, fragte Dan sich.

»Personen sind ausschließlich zum Zweck der Errichtung eines menschlichen Habitats oder der Gewinnung natürlicher Ressourcen zur teilweisen oder vollständigen Nutzung eines Himmelskörpers berechtigt. In diesem Fall gelten Firmen als Personen.«

»Dann könnte die Astro Corporation also Anspruch auf die Nutzung eines Asteroiden erheben, der von einem unbemannten Raumschiff angeflogen wird?«

»Nein«, antwortete sie fast drei Sekunden später. »Ein solcher Anspruch kann nur von Menschen auf dem Schauplatz der Beanspruchung selbst erhoben werden.«

»Aber das verdammte Raumschiff wäre doch von Selene aus unter menschlicher Kontrolle — wenn auch ferngesteuert.«

Erneut die zeitverzögerte Antwort: »Nein, Dan. Das ist nicht zulässig. Sonst könnte schließlich jedes Unternehmen Minisonden im ganzen Sonnensystem ausschwärmen lassen und sich alles aneignen, was in Sicht kommt! Das wäre in etwa damit zu vergleichen, als man um die Jahrhundertwende DNA-Segmente und lebende Organismen patentieren lassen wollte.«

»Dann würde uns ein unbemannter Testflug also gar nichts bringen«, sagte er.

»Das ist eine Entscheidung, die Sie treffen müssen, Dan«, sagte die Juristin, nachdem sie seine Frage vernommen hatte. »Ich bin nur die Justitiarin; Sie sind der Vorsitzende des Vorstands.«

»Vielen Dank«, murmelte Dan.


Martin Humphries hatte sich dann doch nicht die Mühe gemacht, dem IAA-Inspektor nachzulaufen. Wieso auch? Der junge Bürokrat hatte schließlich genau in Humphries' Sinn gehandelt. Er fuhr mit der Rolltreppe zu seinem Heim tief unter der Mondoberfläche zurück, wobei er seine Genugtuung kaum zu verbergen vermochte.

Es läuft alles wie geschmiert, beglückwünschte er sich, als er durch den Korridor zur Kaverne ging. Die Verzögerung ist gerade lang genug, um Randolph das Genick zu brechen. Astros Aktien gehen in den Keller, und die anderen Großaktionäre werden nur zu gern verkaufen, wenn sie hören, dass die Asteroiden-Mission wegen weiterer Tests verschoben werden muss. Wenn die Mission endlich startet, werde ich Astro besitzen, und Dan Randolph kriegt einen Tritt in den Arsch.

Und noch besser, sagte er sich — wenn ich erst einmal das Sagen habe, werde ich dafür sorgen, dass Amanda hier auf dem Boden bleibt. Bei mir.

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